Bosnien und Herzegowina – ein Land mit atemberaubender Natur, einer kulturellen Vielfalt und einer tiefen Wunde. IslamiQ-Redakteurin Kübra Layık berichtet von ihren Eindrücken.
Der Blick schweift hinunter ins Tal über bewaldete Hügel. Es ist ein perfektes Zusammenspiel von Bäumen, Wäldern und Bergen. An diesem kühlen Septembernachmittag regnet es, was typisch für Bosnien und Herzegowina ist und die Regentropfen dringen tief in die Haut ein. Ich rieche die nasse, süße Erde und die frischen Tannen. Die dicken Wolken und der Nebel, der sich mit jedem Regenschlag verdichtet, hüllen das Bergdorf Šerići in Zenica (Bosnien und Herzegowina) vollständig ein. Wir werden erwartet – die Bewohner des Dorfes haben die Dorfmoschee für uns hergerichtet. Sie bieten uns warme und trockene Kleidung, dicke Socken und eine herzliche Umarmung an. Die Tische sind gedeckt, der Kaffee ist zubereitet und der heiße Tee wird serviert. Es ist eine Gastfreundschaft, die uns allen sichtlich guttut und unsere Herzen erwärmt. „Begegnungen der Sehnsucht“, sagt eine andere Teilnehmerin der Reise. Erst jetzt verstehe ich, was sie damit meint, durch meine ganz persönliche Begegnung in Bosnien.
Angekommen in Sarajevo, findet sich die Reisegruppe langsam zusammen. Die Reise wird organisiert vom „Kreis der Düsseldorfer Muslime (KDDM)“, an der insgesamt 50 Teilnehmer verschiedener Nationalitäten, Religionen und Altersgruppen teilnehmen. Von Sarajevo aus geht es mit dem Reisebus nach Mostar. Wir machen Halt in Konjic und besichtigen die alte Steinbrücke. Die Brücke am Fluss Neretva gilt als der Punkt, an dem sich Herzegowina mit Bosnien verbindet. Sie wurde 1682 errichtet und hat sechs Bögen und gehört zu den schönsten Brücken der osmanischen Zeit in Bosnien. Der Fluss Neretva erstreckt sich über 225 km, wovon 203 km in Bosnien und Herzegowina liegen und 22 km in Kroatien.
Müde und erschöpft von der Anreise lassen wir die Eindrücke auf uns wirken und genießen unseren ersten traditionellen bosnischen Kaffee am Ufer des Flusscafés. Das warme Wetter schenkt uns Sonnenstrahlen. Wir setzen unsere Reise fort Richtung Mostar, begleitet vom Fluss. Angekommen begeben wir uns ins Hotel, um uns auf den Nachmittag in Mostar vorzubereiten.
Am späten Nachmittag machen wir uns zu Fuß auf den Weg in die Altstadt von Mostar. Die Kulisse der knapp 100.000 Einwohner zählenden Stadt wird von eher einfachen, zweigeschossigen Häusern dominiert, deren Alter oft erkennbar ist. Feigen, Gräser und andere Pflanzen durchdringen jede kleine Ritze des von der Hitze aufgeplatzten Betons und Asphalts. Minarette erheben sich über den Häusern und der Muezzin ruft zum Gebet, mein erster Gebetsruf in Bosnien. Ich stehe still und versuche, jedes einzelne Wort des Gebetsrufs zu verinnerlichen.
Der Anblick der Altstadt von Mostar mit ihren gepflasterten, engen Gassen fasziniert uns sofort. Die bekannteste Sehenswürdigkeit ist die Stari Most, eine im 16. Jahrhundert errichtete Steinbogenbrücke der Osmanen über die Neretva, die im November 1993 während des Genozids von kroatischen Einheiten zerstört und ab 2000 wiederaufgebaut wurde. Von oben bietet sich ein toller Blick über die Altstadt mit ihren Moscheen, den Fluss und die umliegenden bis zu 2000 Meter hohen Berge.
Angesichts der Wärme nehmen nicht wenige ein kurzes Bad mit den Füßen im erstaunlich kalten Fluss. Oben animiert ein Brückenspringer die Menschen und sammelt Geld für den bevorstehenden Sprung aus etwa 20 Metern Höhe in die schmale, an den Ufern felsig-flache Neretva. Anschließend besuchen wir die kleine Koski-Mehmed-Pascha-Moschee, beten und tanken Kraft. Den Tag beschließen wir mit einem gemeinsamen Abendessen in der schönen Altstadt.
Nur 12 km südlich von Mostar, liegt ein wahrer Märchenort, Blagaj, an der Quelle des Flusses Buna, umgeben von überwältigender Natur. Gekrönt wird das Ganze vom Derwischkloster. Dieses 600 Jahre alte Sufi-Kloster, genannt Tekke oder Tekija, liegt auf einer 200 Meter hohen Klippe, die das ganze Gebiet umgibt. Im klassischen Barockstil mit Elementen der osmanischen und mediterranen Architektur erbaut, ist die Tekke die einzige ihrer Art in Bosnien und Herzegowina. Das Kloster wurde entlang des unglaublich schönen blau-grünen Flusses Buna gebaut. Die Quelle dieses Flusses ist eine herrliche Karstquelle, die aus einer riesigen Höhle unter einer hohen senkrechten Klippe entspringt. Es ist wahrscheinlich eine der größten und schönsten Quellen Europas. Die Reisegruppe erkundet in kleinen Gruppen die Gegend – einige beten in der Tekke. Der noch ziemlich junge Imam führt uns durch die Räumlichkeiten. Ich gehe mit einigen Teilnehmerinnen an den Fluss, wir baden unsere Füße im Wasser und genießen die Aussicht. Ein Anruf vom Reiseleiter Sejfuddin: Sie warten vor dem Bus auf uns, wir müssen bereits abreisen. Schweren Herzens trennen wir uns von dem Märchenort und setzen unsere Reise Richtung Sarajevo fort.
Sarajevo – diese Stadt hat mehr als nur eine Geschichte zu erzählen. Minarette neben Kirchtürmen zeugen vom religiösen Neben- und Miteinander der Einwohner. Ein orientalisch anmutender osmanischer Altstadtkern öffnet sich in einen Straßenzug mit herrschaftlichen Gebäuden aus österreichisch-ungarischen Zeiten, bevor am Horizont bereits Bauwerke aus der sozialistischen Ära das Ensemble komplettieren. Einschusslöcher und abblätternder Putz von Granateneinschlägen zeichnen alle Gebäude gleichermaßen – ein trauriges, aber vereinendes Merkmal dieser Stadt.
Wir besuchen die berühmte Gazi-Husrev-Beg-Moschee, ehemals auch bekannt als Begova-Moschee. Sie ist die größte und eine der ältesten Moscheen in Bosnien und Herzegowina. Sie wurde im Auftrag von Gazi Husrev Beg (Hüsrev Bey), einem Neffen von Sultan Bayezit II., erbaut. Danach besichtigen wir das jüdische Museum und schlendern durch die Baščaršija, die Altstadt. Kleine Läden mit Souvenirs schmücken die Gassen, Cafés und Restaurants bieten eine große Auswahl an leckeren kulinarischen Speisen. Ich esse meinen ersten Ćevapčići und den ersten original bosnischen Burek/Pita. Zum Nachtisch gibt es, ganz typisch, einen bosnischen Kaffee und Trilece.
Im Anschluss besuchen wir das Svrzo-Haus, das uns einen Einblick in das Leben einer wohlhabenden bosniakischen Familie des 18. und 19. Jahrhunderts gibt. Es ist ein typisches Beispiel für die Architektur jener Zeit. Das Haus wurde 1960 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und über mehrere Phasen renoviert. Jedes einzelne der schönen Zimmer erzählt seine eigene Geschichte. Es folgt ein Besuch an der Gedenkstätte des ehemaligen bosnischen Präsidenten Alija Izetbegović und das Museum, das nach seinem Tod für ihn errichtet wurde. In der Gedenkstätte sind viele Menschen begraben, die während des Genozids ermordet wurden. Einer der Teilnehmer rezitiert aus dem Koran und betet für die Verstorbenen. Wir beten mit, schweigen und gedenken.
Das kühle Wetter und der zeitweise starke Regen verleihen dem Ort Travnik mit seiner Festung einen ganz besonderen Charakter. Die gut erhaltene Festung Stari Grad gehört zu den schönsten Sehenswürdigkeiten von Travnik. Zahlreiche Moscheen, wie die bunte Moschee/Sulejmanija von 1816, und andere Bauten aus osmanischer Zeit prägen noch heute das Stadtbild. Mich fasziniert jedoch die Natur, die Travnik umgibt. Auf der Festung hören sich die Regentropfen an wie eine dumpfe, tiefe Melodie, die ich mit jedem Niederschlag einfangen möchte. Ich lasse mich von den umliegenden, grün bemalten Bergen verzaubern. Es ist fesselnd, fast schon hypnotisierend. Eine innere Ruhe, die ich bis dahin noch nie verspürt habe. Im Türkischen würde man es wahrscheinlich als „huzur“ bezeichnen, was so viel bedeutet wie innerer Frieden. Ja, das beschreibt es, glaube ich, am besten. Travnik ist der innere Frieden, den ich beim Anblick seiner Schönheit verspüre. Wir lassen gemeinsam den Tag in dem Café neben der bunten Moschee, natürlich mit dem bosnischen Kaffee, ausklingen. Der Regen ist unser ständiger Begleiter – „huzur“.
Es ist unser letzter Tag in Bosnien und zugleich der traurigste Tag für alle Teilnehmenden der Reise. Wir besuchen das Srebrenica-Potočari Memorial Center und den angrenzenden Friedhof. Für mich ist es der zweite Besuch der Gedenkstätte. Und obwohl ich weiß, was mich dort erwartet, fühle ich mich wie bei meinem ersten Besuch – verletzlich.
Es war der größte Genozid an den Bosniaken in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Er fand seinen Höhepunkt im Juli 1995 in den genozidalen Handlungen rund um die Stadt Srebrenica. Insgesamt starben von 1992 bis 1995 mehr als 100.000 Menschen. Rund 6.877 Opfer des Genozids in Srebrenica wurden identifiziert. 6.500 wurden auf dem Friedhof in dem Gedenkzentrum in Potočari beerdigt. Die Suche nach mehr als 1.700 Vermissten dauert noch immer an. Insgesamt wurden 8.100 Menschen als vermisst gemeldet.
Begleitet werden wir von Hasan Hasanović, der den Genozid 1995 selbst überlebte. Seine beiden Brüder wurden während der Flucht ermordet. Ich kenne Hasan bereits vom Friedensmarsch „Marš Mira“. Dort lernten wir uns kennen, und er führte unsere kleine Gruppe drei Tage durch Wälder und über Berge – den Pfad, den Hasan während des Genozids nutzte, um selbst zu fliehen. Es ist ein schönes Wiedersehen mit Hasan an einem traurigen Ort – vor allem für ihn. Wir besichtigen das Memorial Center. In der Ausstellung wurden die Spuren des Genozids anhand von Bildern, Nachstellungen und originalen Fundstücken wie Kleidung und Schuhe festgehalten. Im Anschluss folgt ein Vortrag einer Genozidüberlebenden. Ihre und alle weiteren Geschichten bewegen uns sehr. Einige können ihre Tränen nicht zurückhalten, andere schweigen. Wir gehen zum Friedhof – ein Feld voller weißer Grabsteine. Wir besuchen die Gräber von Hasans Brüdern. Wir beten, halten inne und lassen die Gewalt der Gräueltaten auf uns wirken. Und nun ist die Zeit gekommen, uns von den Toten, den Lebenden und dem Märchenland zu verabschieden.
Angekommen in Deutschland, verarbeite ich meine Eindrücke, meine Gedanken. Dieses Land, das nur so groß ist wie Nordrhein-Westfalen, hat mich komplett in seinen Bann gezogen. Die Natur, die Architektur, die Kultur und die Religionen. Aber vor allem die Menschen, die mir gezeigt haben, was Gastfreundschaft bedeutet. Sie haben so viel Schmerz erleiden müssen, leben mit großen Verlusten, und dennoch glauben sie an den Frieden, an das Zusammenleben und leben die Nächstenliebe. „Huzur“ – der innere Frieden. Das beschreibt Bosnien und Herzegowina für mich. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl der Sehnsucht. Ich erinnere mich an die Worte der Teilnehmerin beim Bergdorf Šerići: „Begegnungen der Sehnsucht“. Ich hatte meine ganz persönliche Begegnung in Bosnien.