PSYCHOLOGISCHE BERATUNG

Vom Dschinn besessen – Mythos oder Wahrheit?

Zauberei und Dschinn sind bei jungen Muslimen sehr beliebte Themen. Viele glauben daran, dass die Dschinn Menschen besetzen und diese verrückt machen können. Doch was ist davon zu halten? Eine Kolumne von Dr. Ibrahim Rüschoff.

08
01
2023
Vom Dschinn besessen – Mythos oder Wahrheit?
Vom Dschinn besessen – Mythos oder Wahrheit?

Die Frage, ob Dschinn und Zauberei Krankheiten verursachen können, wird unter Muslimen kontrovers diskutiert. Um eine Antwort auf die Frage zu finden, muss man die theologische Ebene von der psychologischen klar trennen, sonst sind Missverständnisse und Streit unvermeidlich. Durch fehlendes Wissen oder mutwillige Äußerungen angeblicher Fachleute wird viel Unheil unter den Muslimen angerichtet, die sich in ihrer Not an diese gewendet haben.

Ein Rechtsgelehrter aus Saudi-Arabien erklärte auf einer Fachtagung, dass Dschinn, Zauberei und Ähnliches zu der verborgenen Welt gehören, die unseren Sinnen verborgen bleibt und nicht nur durch moderne Wissenschaft oder die Naturwissenschaft bewiesen werden kann. Unsere einzige Quelle für diese Informationen sind der Koran und die Sunna.  Somit muss sowohl die islamische Theologie als auch die Wissenschaft für eine authentische Betrachtung herangezogen werden.

Folglich kann keine persönliche Aussage, Überzeugung oder Erfahrung einen allgemeingültigen Wahrheitsgehalt beanspruchen, solange diese Aussage nicht über die Offenbarungstexte oder die Wissenschaft, bestätigt wurde. Aus diesem Grund darf eine Diagnose („Du bist von einem Dschinn besessen!“ oder „Man hat Dich verzaubert!“) nicht gestellt werden, da diese Aussagen nicht beweisbar sind, weder durch Offenbarungstexte noch durch die Wissenschaft. Die Möglichkeit, durch Dschinn beeinflusst zu werden, ist keine Gewissheit, unabhängig davon, ob man an den Einfluss von Dschinn, Bösen Blick oder Zauber glaubt.

Muslime erklären psychologische Probleme mit Dschinn

Die psychologische Ebene ist etwas komplizierter: Leidet jemand an zwanghaften Gedanken oder unerklärlichen Ängsten, bekommt ein Ehepaar keine Kinder, streitet sich ständig oder verhält sich jemand plötzlich ohne offensichtlichen Grund auffällig, erklären sich viele Muslime diese Dinge durch den Einfluss von Dschinn oder Zauberei. In der hiesigen Bevölkerung wird die Ursache für solche Erscheinungen eher in der Amalgamfüllung der Zähne, der Strahlenwirkung des nahe gelegenen Handymastes oder einer Wasserader unter dem Bett vermutet. 

Die seelische Funktion dieser Aussagen ist in beiden Fällen gleich: Derartige Überzeugungen schaffen eine Orientierung und verlegen das Problem nach außen. Nicht ich habe es, jemand anderer macht es, daher kann ich nicht viel tun, sondern ich bleibe weitgehend passiv und „lasse mich behandeln“. 

Heiler und ihre falschen Methoden

Durch diese Situation entsteht ein weiteres Problem, wenn Muslime, die von einem Dschinn besessen oder mit einem Zauber belegt worden sind, zu einem Heiler gehen, um Hilfe zu erhalten. Sie können erleben, wie eine Heilerin einer Frau, die wegen ihrer Ängste in Psychotherapie ist, unverblümt mitteilt, dass sie einen Dschinn in ihrer Gebärmutter hat. Einer anderen Frau, die in einer schweren Ehekrise steckt, wird erklärt, dass ein verliebter Dschinn in ihr sei, der sie nachts zu irritierenden erotischen Träumen verleitet und verführt. Ein anderer Heiler behauptete, dass eine junge Frau, die ihn aufgesucht hatte, von einem eifersüchtigen Familienmitglied verzaubert worden sei, damit sie ihn liebe, wodurch massiver Streit in die Familie getragen wurde – die Fälle lassen sich beliebig vermehren, und jeder Muslim dürfte viele solcher Beispiele aus seinem Umfeld kennen.

Eine Gefahr ist jedoch nicht nur die „Diagnose“ von sogenannten Heilern, sondern auch die Methoden zur Austreibung von Dschinn oder den Bann eines Zaubers. Islamisch besteht Rukya in der Hauptsache aus dem Rezitieren von Versen sowie von Bittgebeten. Sie wurde vom Propheten bei körperlichen, seelisch-mentalen Problemen und Krankheitssymptomen sowie zur Prävention eingesetzt. Merkmale sind ihre Einfachheit, leichte Durchführbarkeit sowie ihr universaler Einsatz. Sie soll normalerweise von jedem selbst oder für nahe Angehörige durchgeführt werden, z.B. für Kinder und Ehepartner.

Manche Heiler zitieren nicht nur den Koran, sondern verbrennen kleine Zettel mit Koranversen, die man, vermischt mit einem Glas Wasser, trinkt und schreiben nicht nur Koranverse, die man bei sich tragen kann, sondern schreiben auch drastische Methoden, die zum Teil zu Körperverletzungen oder Todesfällen geführt haben. Ferner „behandeln“ sie die Betroffenen häufig per Telefon, ohne sie zu sehen oder zu kennen und verlangen dann noch erhebliche Geldbeträge. Die Videos auf YouTube sind mit Vorsicht zu genießen und Berichte, nach denen Betroffene (bzw. der Dschinn in ihnen) plötzlich fremde Sprachen sprechen konnten, beeindrucken vielleicht auf den ersten Blick, sind aber eher Ausdruck der Überzeugung des Erzählenden und bei genauerer Betrachtung wenig glaubwürdig.

Muslime müssen kritisch und wach bleiben

Die Stärke der Muslime sollte sich in Wahrheitsliebe und Nachdenken äußern, wie es die Aufforderung Gottes in dem Koran vorschreibt. In den frühen Jahren des Islam führte diese Stärke zu ungeahnten wissenschaftlichen Erfolgen, während in Europa der Aberglaube herrschte. Bleiben wir also kritisch und wach und konsultieren bei Problemen wissenschaftlich ausgebildete (muslimische) Fachleute. 

Auch wenn die Dschinn und die Zauberei existieren, wie der Koran bestätigt, habe ich als Psychiater und Psychotherapeut in fast 40 Jahren Berufspraxis noch keinen Patienten erlebt, dessen Beschwerden ich mithilfe meiner Wissenschaft nicht sehr viel plausibler als mit Dschinn und Zauber erklären konnte, sodass sie von den Therapien profitiert haben.

Leserkommentare

Abdullah Ümit sagt:
Ein sehr informativer Beitrag. Vielen Dank.
15.01.23
17:44
Charley sagt:
Genauso wie bei der Vorstellung, dass man den Islam schädige, wenn ein Buch verbrannt wird, so taucht auch hier wieder ein Aberglaube auf, der allerdings einer nur 1300 Jahre alten Religion durchaus zusteht. Das Christentum hat vor 700 Jahren auch merkwürdige Dinge propagiert. Weil kein souveräner Erkenntnisbegriff in dieser Diskussion existiert, der aus dem zeitgenössischen Bewusstsein heraus den Weg in ein spirituelles Verständnis der Tatsachen, die eine irdische, medizinisch- psychologisch begreifbare Ebene haben und vielleicht auch eine spirituelle Dimension haben,.... weil solch ein Erkennen nicht gepflegt wird, ja nicht mal philosophisch gekannt wird, muss solch eine Betrachtung immer im Aberglauben enden. - Und so ist der Islam voll von Aberglauben. Die Aussagen, die einem mythischen Bewusstsein passten, können (!) gar nicht mehr verstanden werden von einem modernen Bewusstsein. Wer ein wissenschaftlich aufgeklärter Moslem ist, der legt eben seinen Islam langsam ab, einfach, weil er nicht begreifbar ist und einen Menschen- und Gesellschaftsbegriff hat, der nicht mehr in die Zeit, zu den heutigen Menschen passt. - Da ist dieser Aberglaube nur ein Beispiel. - Elendig ist aber, dass sich mit solchem Aberglauben junge Muslime und Musliminnen ihr eigenen Seinsverständnis basteln. Das muss in Ideologie, in völlig verzerrter Weltsicht enden.
22.01.23
20:29