Armut und ihre Bekämpfung stehen weltweit auf der Tagesordnung. Welche Haltung nimmt der Sufismus gegenüber Armut und Armen ein? Ein Gastbeitrag von Dr. Raid Al-Daghistani.
Da das vorliegende Thema meines Erachtens ein zunehmend relevantes und aktuelles Thema ist, möchte ich es im vorliegenden Beitrag aus einer ganz konkret-spezifischen Perspektive kurz beleuchten. So werde ich auf das Thema „Armut“ aus einer genuin islamisch-spirituellen Sicht des Sufismus eingehen. Meine Hoffnung dabei ist, dadurch vielleicht eine andere Perspektive, eine andere Sensibilität, ja, ein anderes Verständnis dieser Thematik öffnen und anregen zu können.
Zunächst nur ein paar Worte über den Sufismus. Der Sufismus, der die mystisch-spirituelle Dimension und Tradition des Islams darstellt – und damit letztlich seinen Kern –, hatte (und immer noch hat) eine große Wirkung auf das soziale Verhalten von Muslimen.[i] Zugleich hat der Sufismus mit seinen Lehren und Praktiken über jahrhundertelang als Vorbild das religiöse Leben der frommen Muslime geprägt.[ii] Der wesentliche Bestandteil des Sufismus als Weg und Wissen ist die Lehre von den sogenannten spirituellen Stationen und Zuständen.[iii] Diese soll derjenige, der sich auf dem Sufi-Pfad begibt, mithilfe eines erfahrenen und vertrauenswürdigen Meisters (Scheichs) durchschreiten. Die spirituelle Läuterung, das Streben nach Tugenden und die Vervollkommnung des eigenen Charakters spielen dabei eine enorm wichtige Rolle. Und die Armut (auf Arabisch faqr) stellt dabei eine Grundkategorie der Tugendlehre des Sufismus dar.
Zunächst muss ich an dieser Stelle hervorheben, dass im Kontext des Sufismus wenigstens zwischen zwei Bedeutungen bzw. zwei Ebenen der Armut unterschieden wird, und zwar: (1) zwischen der sozialen Armut und (2) der kultivierten Armut, die mit der spirituellen Dimension dieses Begriffes einhergeht. Der Sufismus lehrt im Hinblick auf die beiden Ebenen bzw. Dimensionen ein genaues Verständnis der Armut. Denn hinsichtlich der Armut als gesellschaftlich-soziales Problem lehrt der Sufismus, ein entsprechendes Ethos und Verhalten zu entwickeln. Hinsichtlich der Armut als eine spirituelle Angelegenheit lehrt der Sufismus aber verschiedene Methoden und Techniken der Kultivierung dieser Tugend.
Aus der Sicht des Sufismus lässt sich also von einer Armut im Sinne einer spirituellen „Station“ des sufischen Weges einerseits und von einer Armut als „soziale Wirklichkeit“ andererseits sprechen. Die Sufi-Autoren beziehen sich in ihren Werken und Lehren auf diese beiden unterschiedlichen Bedeutungen der Armut.
Die Armut im esoterischen Sinne bedeutet den Sufis (das sind die islamischen Mystiker und Gottsuchenden), eine „Station“ auf ihrem Weg zu Gott. Somit ist die Armut kein Ziel an sich, sondern ein Mittel für die Erlangung der Gottesnähe. Im spirituellen Sinne ist die Armut also eine „asketische Haltung“, die den Sufi zum Endziel führen soll. Und da die Armut vorrangig eine asketische Haltung ist, „positioniert sie sich nicht explizit gegen Reichtum“[iv], auch wenn sie dessen Berechtigung infrage stellt.
In diesem Zusammenhang soll der Begriff „Armut“ unter einem ganz spezifischen Gesichtspunkt betrachtet werden: Nämlich als eine asketische Station, die ein Wesenselement des praktisch-spirituellen Weges der Sufis darstellt. Bereits der große Sufi-Gelehrte Abû Naṣr as-Sarrâǧ (gest. 988) merkt in seinem Werk an, dass die Armut ein edler Standplatz auf dem sufischen Pfad ist. Dabei verweist er auf eine Aussage des großen Meisters Ibrâhîm al-Hawwâs, laut dem die Armut eine ganze Reihe schöner Ehrenbezeichnungen und Hocheigenschaften umfasst. So ist die Armut im Sinne von Zufriedenheit mit Wenigem und Bescheidenheit „der Mantel des Adels, das Kleid der Gottgesandten, das Gewand der Guten, die Krone der Gottesfürchtigen, die Zierde der Gläubigen, die Kampfbeute der Erkenner, der Wunsch der Novizen, die Festung der Gehorsamen und das Gefängnis der Sünder.“[v]
Ich glaube, dass hier nicht betont werden muss, dass die Armut in der oben geschilderten Bedeutung als eine erstrebenswerte Qualität der Religiosität und Tugendhaftigkeit gepriesen wird. Die Armut, von welcher die Sufis sprechen, ist die kultivierte, ja, errungene Armut im Sinne der tugendhaften Bescheidenheit, Verzichtsfähigkeit und inneren Unabhängigkeit vom Materiellen. Somit fungiert die Armut im Kontext der islamischen Spiritualität primär als ein Ausdruck der Selbstdisziplin, der Frömmigkeit und der religiösen Moral.[vi] Damit ist also nicht die soziale Armut gemeint, sondern Armut in Gott: Der Sufi ist jemand, der Gottes nie genug hat; jemand, der Gottes stets bedürftig ist.
Doch, wie schon angedeutet, bezieht sich der Sufismus auch auf die konkrete soziale Armut. Dabei betonen die Sufi-Gelehrten das richtige, das gerechte und insbesondere das barmherzige Verhältnis zu den Armen. Auch hier spielt Berufung auf den Koran und auf die Aussagen des Propheten eine wichtige Rolle. So greifen die Sufi-Autoren beispielsweise auf die prophetische Überlieferung zurück, die den liebevollen und respektvollen Umgang mit den Armen hervorhebt. Der Gesandte Gottes wies nämlich darauf hin, dass die Liebe zu den Armen der „Schlüssel zum Paradies“ ist.[vii] Das gute, milde und nachsichtsvolle Verhältnis zu den Armen kann damit als einer der entscheidenden Faktoren der kollektiven religiösen Moralität im Islam aufgefasst werden.
Die Sensibilität für die Armut und die Empathie für die Armen sollen zwei Wesensmerkmale des prophetischen Geistes selbst sein. Denn es heißt: „Gott gab Mose ein: Wenn du die Armen siehst, frag sie (nach ihrem Befinden), [genauso] wie du die Reichen fragst. Tust du das nicht, dann begrabe alles, was ich dich gelehrt habe!“[viii] Laut dieser Aussage sind die Empfindlichkeit für die Armut und das freundliche, milde Verhältnis zu den Armen sogar wertvoller als das von Gott gegebene Wissen. In dem Sinne lehrte auch der berühmte Sufi-Meister aus Bagdad, Abû l-Qâsim al-Ǧuneid (gest. 910): „Wenn du einen Armen triffst, begegne ihm mit Milde, nicht mit Wissen!“[ix] Denn die Milde erweckt beim Armen Zutrauen, während das Wissen ihn entfremdet.
Man darf die Armen nicht herabwürdigend behandeln und sie ignorieren, sondern mit ihnen auf Augenhöhe und mit Zuneigung, Milde und Freundlichkeit verkehren. Dies sind aber jene Charaktereigenschaften und Moralqualitäten, die das rein gerechte Verhältnis weit übersteigen. Im Umgang mit den Armen wird somit nicht nur die Gerechtigkeit geboten, sondern vielmehr die Milde, die Güte und Barmherzigkeit. Das sufische Ethos gegenüber den Armen beruht somit auf einer Ethik des Mitgefühls und des Altruismus.
Die erwähnten Aussagen und Gedanken sollen im Rahmen dieses Beitrags genügen, um die Stellung und die Bedeutung des Motivs der „Armut“ aus der islamisch-spirituellen Sicht des Sufismus zu veranschaulichen. Es sollte deutlich sein, dass die Armut im Sufismus in erster Linie als ein asketischer-tugendhafter Aspekt im Sinne einer idealen Lebensweise der Frommen verstanden wird.[x] Dabei geht es also nicht um ein Leben in Armut, sondern vielmehr um die Erlangung der spirituellen Reinheit und folglich Gottesnähe mittels Selbstdisziplin und Verzicht. Doch zugleich bzw. andererseits wird die Armut unter dem sozial-existenziellen Aspekt als eine soziale Wirklichkeit aufgefasst. Dabei wird nicht nur ein gerechter, sondern darüber hinaus auch ein emphatischer und freundlicher Umgang mit den Armen geboten.
Dabei möchte ich noch einmal betonen, dass die Armut, die im Sufismus gelobt wird, keinesfalls die soziale Armut ist, sondern die Armut in Gott, d.h. der Zustand der Bescheidenheit, spirituellen Reinheit und Gottesbedürftigkeit. Die soziale Armut haben die Sufis dagegen oft versucht, nicht nur durch regelmäßiges Almosengeben an den Armen, sondern auch und vor allem durch ihre existenzielle Solidarität mit ihnen – wenn schon nicht zu bekämpfen – zumindest zu mildern.
Vor diesem Hintergrund lässt sich abschließend sagen, dass das spirituell-religiöse Erbe des Islams, verwurzelt vor allem in der Lehre und Praxis des Sufismus, eine wichtige Rolle in der Frage der Armut und des Umgangs mit den Armen spielt, wobei zwischen den zwei oben geschilderten Ebenen der Armut unterschieden werden muss.
[i] Vgl. Hajatpour, Reza, „Armut aus der Sicht des Sufismus“. In: Armut und Gerechtigkeit: Christliche und islamische Perspektiven. Hrsg. v. C. Ströbele, A. Middelbeck-Varwick, A. Dziri und M. Tatari. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2016, S. 124.
[ii] Vgl. Hajatpour, „Armut aus der Sicht des Sufismus“. In: Armut und Gerechtigkeit: Christliche und islamische Perspektiven, S. 124.
[iii] Vgl. Al-Daghistani, Raid, Epistemologie des Herzens: Erkenntnisaspekte der islamischen Mystik. Köln 2018.
[iv] Vgl. Hajatpour, „Armut aus der Sicht des Sufismus“. In: Armut und Gerechtigkeit: Christliche und islamische Perspektiven, S. 124.
[v] As-Sarrāǧ, Abū Naṣr, zitiert nach: Gramlich, Richard, Islamische Mystik: Sufische Texte aus zehn Jahrhunderten. W. Kohlhammer, Stuttgart – Berlin – Köln 1992, S. 54.
[vi] Vor diesem Hintergrund stellt der große Lehrer ʿUmar as-Suhrawardī (gest. 1191) fest, dass der Mensch mit der Askese sein Vermögen zum Verzicht auf Materialität demonstriert, während er sich mit der Armut vom Besitz – sei es im äußeren oder im inneren Sinne – vollkommen befreit. (Vgl. Hajatpour, „Armut aus der Sicht des Sufismus“. In: Armut und Gerechtigkeit: Christliche und islamische Perspektiven, S. 128).
[vii] Vgl. al-Qušayrī, Das Sendschreiben al-Qušayrīs über das Sufitum, S. 373.
[viii] Al-Qušayrī, Das Sendschreiben al-Qušayrīs über das Sufitum, S. 375.
[ix] Al-Qušayrī, Das Sendschreiben al-Qušayrīs über das Sufitum, S. 379.
[x] Vgl. Hajatpour, „Armut aus der Sicht des Sufismus“. In: Armut und Gerechtigkeit: Christliche und islamische Perspektiven, S. 134.