Baden-Württemberg

Ist die Abi-Pflichtlektüre „rassistisch“?

„Größtmögliche Demütigung“ oder literarischer Schatz? Koeppens „Tauben im Gras“ spaltet die Gemüter. Im Abi an beruflichen Gymnasien soll es zur Pflicht werden. Experten sehen darin kein Problem, die schwarze Community und andere dagegen schon.

27
03
2023
books, Abi
Symbolfoto: Bücher führen uns in eine andere Welt, Abi © by Chris auf Flickr (CC BY 2.0), bearbeitet islamiQ

Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ soll im kommenden Jahr Abi-Pflichtlektüre an beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg werden. Das Werk aus dem Jahr 1951 spaltet die Gemüter. Die einen finden den Roman zu rassistisch für den Unterricht, weil das „N-Wort“ darin dutzende Male vorkommt. Die anderen sehen das Werk im Kontext der Zeit. Eine Ulmer Lehrerin protestiert öffentlich dagegen. Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) hält laut Ministerium weiter an der Pflichtlektüre fest.

Mit dem Begriff „N-Wort“ wird heute eine früher gebräuchliche rassistische Bezeichnung für Schwarze umschrieben. Jemand, der sich gut mit Koeppen auskennt, ist Literaturprofessor Walter Erhart von der Universität Bielefeld. Von 1997 bis 2007 leitete er das Koeppen-Archiv in Greifswald und gibt noch heute mit drei Kollegen die Werke des Autors im Suhrkamp Verlag heraus. Er kann die Haltung der Kultusministerin durchaus nachvollziehen.

„Tauben im Gras galt bisher als problemlose Schullektüre“

„“Tauben im Gras“ galt bisher als problemlose Schullektüre“, sagt er. Studierende hätten sich zwar immer wieder beklagt, wie schwierig das Werk sei. Eine Rückmeldung, dass der Text problematisch sei, habe er nie bekommen. Sicherlich aber sei es nötig, den Roman in seinen historischen Kontext einzuordnen und aus diesem heraus zu verstehen.

In Nordrhein-Westfalen war Koeppens Werk laut Kultusministerium bereits 2014 Abi-Pflichtlektüre, in Baden-Württemberg zuletzt um die Jahrtausendwende. Der Roman sei schwer verständlich und nicht sehr eingängig, sagt Erhart. Und ja, er komme mit Blick auf die Sprache rassistisch rüber, stimmt er Kritikern zu. Dadurch könnten sich Menschen verletzt fühlen. Koeppen an sich sei aber ein linksliberaler Autor gewesen, der auf der Seite von Minderheiten gestanden habe. Er habe die kolonialen Bestrebungen des Westens sehr stark kritisiert. Wenn man ihm Rassismus vorwerfe, werde er deutlich missverstanden.

Petition gegen die neue Abi-Pflichtlektüre

Der Gebrauch des „N-Wortes“ im Roman sei alternativlos gewesen in der damaligen Zeit. „Damals war es kein Schimpfwort, so hat man gesprochen“, erklärt Erhart. Der Roman habe keinen übergeordneten, von den Romanfiguren klar abgegrenzten Erzähler, der das „N-Wort“ benutze. Die Stimmen der Figuren seien zu verstehen als O-Töne, also als echte Stimmen aus der Vergangenheit, die Verhaltens- und Denkweisen der Menschen in der unmittelbaren Nachkriegszeit darstellten. Man könne eintauchen in die Zeit, die Anstößigkeit des Begriffs werde dadurch gemildert.

Das Hauptproblem sei gar nicht das Buch selber, sagt Professor Bernd-Stefan Grewe. Er ist Direktor des Instituts für Geschichtsdidaktik und Public History an der Eberhard Karls Universität in Tübingen und Unterzeichner einer Petition gegen die neue Abi-Pflichtlektüre. Das Buch zeige die Perspektive der frühen 50er Jahre. „Das spiegelt den Rassismus wider aus dieser Zeit, was ziemlich schwer auszuhalten ist.“ Grewe würde Koeppens Werk nicht verbieten, es lohne eine Auseinandersetzung damit, findet er.

Rassismus der Nachkriegszeit

Der Roman eigne sich durchaus dafür, den Rassismus von früher zu zeigen „und ich würde ihn Menschen grundsätzlich auch als Lektüre empfehlen – aber eben nicht als Abi-Pflichtlektüre“, so der Geisteswissenschaftler. Seine Einwände dagegen seien auch eine humanitäre Intervention. „Als Bildungsinstitutionen müssen wir uns schon damit auseinandersetzen, wem wir da was zumuten und ob manche Dinge wirklich sein müssen.“ Eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust, dem Nationalsozialismus oder dem Kolonialismus sei unumgänglich im Unterricht. „Aber die Frage, wie ich das mache, in welchen Fächern und in welchem Rahmen – die ist natürlich sehr wichtig.“

Es gebe auch Lehrkräfte, die am Beispiel von „Tauben im Gras“, den Rassismus der Nachkriegszeit thematisieren würden. «Die packen das ganz bewusst an. Etwas ganz anderes ist es, wenn das eine Pflichtlektüre für das Zentralabitur ist. Da muss ich mich über Wochen mit dem Werk und dadurch auch mit dem „N-Wort“ auseinandersetzen“, sagt Grewe. (dpa/iQ)

Leserkommentare

Salim Spohr sagt:
Viele leiden unter dem „political correctness“-Wahn solcher, die Listen angeblich verbotener Wörter wie “Neger” oder “Negerküsse” oder “Holokaust”oder “Pogromstimmung“ mit sich führen, um bei jeder Gelegenheit gegen deren Gebrauch zu protestieren. Folgen wir dem gegenüber einer Einsicht Wittgensteins, daß man die Bedeutung eines Wortes an seinem  “Gebrauch in der Sprache” erkennt, erscheint es schlicht als unsinnig, den Gebrauch in der Sprache durch vorgegebene Listen von Wortbedeutungen regeln zu wollen. Denen, die mit einer political-correctness-Liste vermeintlich verbotener Wörter herumrennen, um deren Ersetzung durch andere zu fordern, muß gesagt werden: «Ihr sei über die Maßen heillose Eigenbrötler (das deutsche Wort für das griechische “Idioten”) und Sprach-Terroristen. Wie dumm euer Verhalten in Wahrheit ist, könnte ihr vom Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein lernen, der erklärt hatte: “Willst du die Bedeutung eines Wortes wissen, sieh auf seinen Gebrauch in der Sprache!”. Da helfen eben keine geistlosen Listen verbotener Wörter! – Und die Begeisterung, mit der Pipi einen Tanz zu “Mein Vater war ein Negerkönig, Negerkönig, Negerkönig …” aufs Parkett legt, beweist, daß ein liebe- und hochachtungsvoller Sinn den Gebrauch dieses Worte bei ihr und damit dessen Bedeutung bestimmt. Leider hatte die Familie Astrud Lindgrens nicht genug Mumm gehabt, jenen Leuten einfach die Tür zu weisen, was ich sehr bedaure. Unter Freuden werden Worte, die als anstößig gelten, nicht selten im Sinne einer Bekundung gerade besonderer Freundschaft gebraucht. Daß dem Manager einer großen Firma Knall auf Fall gekündigt wurde, weil er in der Kantine seines Hauses “Negerküsse” bestellt hatte, ist ein anderes Beispiel für einen sich ausbreitenden Wahnsinn des Poitical Correctness. War die Entlassung von einem höheren Gericht zwar für unwirksam erklärt worden, bleibt der ganze Vorgang doch ein schlimmes Beispiel für einen grassierenden Mangel an Urteilskraft. Daß der Zentralrat der Juden in Deutschland für bestimmte Begriffe – man denke einmal an den Zirkus um das Wort Holokaust – eine Deutungshoheit beansprucht und glaubt, über ihren Gebrauch entscheiden zu können, ist anmaßend und auch dumm.  Denn dumm ist es, die Verwendung eines Begriffs auf einen empirischen bzw. historischen Fall einschränken zu wollen, weil es dem inneren Sinn dessen widerstreitet, was die Funktion eines Begriffs ist, als «conceptus communis» nämlich eine Vorstellung von Allgemeinem zu sein, unter die je Verschiedenes fallen kann und fallen können muß. Witzigerweise war diese Eigenschaft von Begriffen, als allgemeine Vorstellungen anderes unter sich befassen zu können, ja der sprachlogische Grund dafür gewesen, daß man bestimmte Vorgänge im Dritten Reich überhaupt unter solche Begriffe wie «Pogrom» oder «Holokaust» hatte fassen können.  Der politische Wille zur Verhinderung des Gebrauchs bestimmter Wörter wie „Mohrenkopf“, „Mohrenstraße“ oder „Negerkönig“ beruht wohl wesentlich auf einem Mißverständnis der Bedeutung von Wörtern. Man stellt sich vor, es gäbe bestimmte Wörter, deren Gebrauch eis ipsis zu verbieten wäre, und man könne mit Listen „verbotener Wörter“ herumziehen und in einen bislang ungerügt gebliebenen Wortgebrauch eingreifen.  Wörter sind eben nicht auf eine lexikalische Bedeutung eingeschränkt, sondern entfalten in je verschiedenem Gebrauch erst ihre Lebendigkeit, ihren Witz, ihre Bedeutung. So hatte auch die beliebte „Mohrenstraße” für Anlieger und Besucher ihre in der Geschichte gewachsene besondere Bedeutung erhalten und bewahrt. Ihre Umbenennung könnte sich, so einmal genauer betrachtet, als ein großer Fehler und eine Zerstörung gelebter Historie erweisen, zugleich als ein Akt von Dummheit und Anmaßung, zumal die Anlieger gar nicht gefragt worden waren, aber 1.134 Bürger sich gegen die Umbenennung — der Name gehöre zur Stadtgeschichte — ausgesprochen hatten, ihr offizieller Einspruch gegen die Umbenennung durch die Verkündigung einer erpresserisch hohen Verwaltungsgebühr von bis zu 700 Euro aber abgeblockt wurde. ———— Da lese ich nun: «Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ soll im kommenden Jahr Abi-Pflichtlektüre an beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg werden. Das Werk aus dem Jahr 1951 spaltet die Gemüter. Die einen finden es „zu rassistisch für den Unterricht“, weil das „N-Wort“ darin dutzende Male vorkommt… » Und ich wundere mich, daß weder Kritiker noch Befürworter offenbar auf die Idee gekommen sind, den Gebrauch des vermeintlich bösen Wortes in jenem Werk einmal in oben angezeigten Sinne genauer zu untersuchen. Der Hinweis auf das bloße Vorkommen reicht nicht aus, seinen Gebrauch zu rügen, kommt es doch, wie oben gezeigt auf dessen genaue Umstrände an.
30.03.23
23:42