„Größtmögliche Demütigung“ oder literarischer Schatz? Koeppens „Tauben im Gras“ spaltet die Gemüter. Im Abi an beruflichen Gymnasien soll es zur Pflicht werden. Experten sehen darin kein Problem, die schwarze Community und andere dagegen schon.
Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ soll im kommenden Jahr Abi-Pflichtlektüre an beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg werden. Das Werk aus dem Jahr 1951 spaltet die Gemüter. Die einen finden den Roman zu rassistisch für den Unterricht, weil das „N-Wort“ darin dutzende Male vorkommt. Die anderen sehen das Werk im Kontext der Zeit. Eine Ulmer Lehrerin protestiert öffentlich dagegen. Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) hält laut Ministerium weiter an der Pflichtlektüre fest.
Mit dem Begriff „N-Wort“ wird heute eine früher gebräuchliche rassistische Bezeichnung für Schwarze umschrieben. Jemand, der sich gut mit Koeppen auskennt, ist Literaturprofessor Walter Erhart von der Universität Bielefeld. Von 1997 bis 2007 leitete er das Koeppen-Archiv in Greifswald und gibt noch heute mit drei Kollegen die Werke des Autors im Suhrkamp Verlag heraus. Er kann die Haltung der Kultusministerin durchaus nachvollziehen.
„“Tauben im Gras“ galt bisher als problemlose Schullektüre“, sagt er. Studierende hätten sich zwar immer wieder beklagt, wie schwierig das Werk sei. Eine Rückmeldung, dass der Text problematisch sei, habe er nie bekommen. Sicherlich aber sei es nötig, den Roman in seinen historischen Kontext einzuordnen und aus diesem heraus zu verstehen.
In Nordrhein-Westfalen war Koeppens Werk laut Kultusministerium bereits 2014 Abi-Pflichtlektüre, in Baden-Württemberg zuletzt um die Jahrtausendwende. Der Roman sei schwer verständlich und nicht sehr eingängig, sagt Erhart. Und ja, er komme mit Blick auf die Sprache rassistisch rüber, stimmt er Kritikern zu. Dadurch könnten sich Menschen verletzt fühlen. Koeppen an sich sei aber ein linksliberaler Autor gewesen, der auf der Seite von Minderheiten gestanden habe. Er habe die kolonialen Bestrebungen des Westens sehr stark kritisiert. Wenn man ihm Rassismus vorwerfe, werde er deutlich missverstanden.
Der Gebrauch des „N-Wortes“ im Roman sei alternativlos gewesen in der damaligen Zeit. „Damals war es kein Schimpfwort, so hat man gesprochen“, erklärt Erhart. Der Roman habe keinen übergeordneten, von den Romanfiguren klar abgegrenzten Erzähler, der das „N-Wort“ benutze. Die Stimmen der Figuren seien zu verstehen als O-Töne, also als echte Stimmen aus der Vergangenheit, die Verhaltens- und Denkweisen der Menschen in der unmittelbaren Nachkriegszeit darstellten. Man könne eintauchen in die Zeit, die Anstößigkeit des Begriffs werde dadurch gemildert.
Das Hauptproblem sei gar nicht das Buch selber, sagt Professor Bernd-Stefan Grewe. Er ist Direktor des Instituts für Geschichtsdidaktik und Public History an der Eberhard Karls Universität in Tübingen und Unterzeichner einer Petition gegen die neue Abi-Pflichtlektüre. Das Buch zeige die Perspektive der frühen 50er Jahre. „Das spiegelt den Rassismus wider aus dieser Zeit, was ziemlich schwer auszuhalten ist.“ Grewe würde Koeppens Werk nicht verbieten, es lohne eine Auseinandersetzung damit, findet er.
Der Roman eigne sich durchaus dafür, den Rassismus von früher zu zeigen „und ich würde ihn Menschen grundsätzlich auch als Lektüre empfehlen – aber eben nicht als Abi-Pflichtlektüre“, so der Geisteswissenschaftler. Seine Einwände dagegen seien auch eine humanitäre Intervention. „Als Bildungsinstitutionen müssen wir uns schon damit auseinandersetzen, wem wir da was zumuten und ob manche Dinge wirklich sein müssen.“ Eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust, dem Nationalsozialismus oder dem Kolonialismus sei unumgänglich im Unterricht. „Aber die Frage, wie ich das mache, in welchen Fächern und in welchem Rahmen – die ist natürlich sehr wichtig.“
Es gebe auch Lehrkräfte, die am Beispiel von „Tauben im Gras“, den Rassismus der Nachkriegszeit thematisieren würden. «Die packen das ganz bewusst an. Etwas ganz anderes ist es, wenn das eine Pflichtlektüre für das Zentralabitur ist. Da muss ich mich über Wochen mit dem Werk und dadurch auch mit dem „N-Wort“ auseinandersetzen“, sagt Grewe. (dpa/iQ)