Bundesweit stieg die Zahl der politisch motivierten Straftaten im vergangenen Jahr deutlich – ganz anders in Niedersachsen. Dort sank sie. Zumindest etwas. Für Innenministerin Behrens ist vor allem eines auffällig.
Die Zahl der politisch motivierten Straftaten in Niedersachsen ist 2022 spürbar gesunken – bleibt aber im Zehn-Jahres-Vergleich hoch. Im vergangenen Jahr waren es insgesamt 4768 Taten – nach 5371 ein Jahr zuvor, wie Innenministerin Daniela Behrens am Montag in Hannover sagte. Das sei der zweithöchste Wert der vergangenen zehn Jahre.
Die Entwicklung sei ein „Spiegelbild der Gesellschaft“, sagte die SPD-Politikerin. „Es gibt eine gewisse Unruhe in der Gesellschaft, die sich zum Teil in einem aufgeheizten öffentlichen Diskurs und im schlimmsten Fall auch in politisch motivierten Straftaten äußert.“
Auffallend aus der Sicht der Ministerin: Viele Straftaten seien „nur noch begrenzt mit den etablierten Begrifflichkeiten zu beschreiben“. Denn die Zahl der Straftaten, die sich weder dem rechten noch dem linken Spektrum zuordnen ließen, stieg im vergangenen Jahr um elf Prozent im Vergleich zum Vorjahr auf 2181 Fälle. 2020 waren es erst 674 Fälle.
„Sogenannte Querdenker und Reichsbürger sowie Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungsideologien und „Putin-Fans“ lassen sich nicht eindeutig und ausschließlich dem klassischen rechten Spektrum zuordnen“, erklärte Behrens. Auch wenn deren Weltbild oft antisemitisch und fremdenfeindlich sei.
Behrens betonte: „Dieser extrem heterogenen Szene, die an vielen Stellen bereits bis in bürgerliche Milieus hineinreicht, etwas entgegenzusetzen und rechtsstaatliche Grenzen aufzuzeigen, wird in den kommenden Monaten und Jahren eine der maßgeblichen Aufgaben aller Sicherheitsbehörden, vor allem aber auch unserer Polizei, bleiben.“ Sowohl im Landeskriminalamt als auch in den Polizeidirektionen sei das Personal verstärkt worden. Insgesamt habe ein Teil der Menschen das Vertrauen in den Staat verloren: „Das muss uns umtreiben.“
Die Zahl der Gewaltstraftaten im Zusammenhang mit politisch motivierter Kriminalität stieg im vergangenen Jahr auf 286 – nach 274 Fällen ein Jahr zuvor. In 144 Fällen war die Motivation nicht zuzuordnen. 2021 galt dies noch für 64 Fälle.
Bundesweit war die Fallzahl rund um politisch motivierte Kriminalität im vergangenen Jahr zum vierten Mal in Folge gestiegen. Der Anstieg um rund sieben Prozent im Vergleich zum Jahr davor auf 58 916 Straftaten bedeutet nach den in der vergangenen Woche vorgelegten Zahlen des Bundeskriminalamts einen Rekord.
In Niedersachsen sank die Zahl der linksmotivierten Straftaten im vergangenen Jahr von 1226 auf 693, sagte Landespolizeidirektor Ralf Leopold. Die Zahl der Gewaltdelikte habe sich auf 64 beinahe halbiert. Im rechten Spektrum sank die Zahl der Taten im Vergleich mit 2021 von 1992 auf 1725 Fälle, die Zahl der Gewaltdelikte sank von 68 auf 66.
„Rechtsterrorismus ist keine abstrakte Gefahr“, warnte Leopold. Er verlange ständige hohe Aufmerksamkeit der Polizei. Die Zahl antisemitischer Straftaten sank von 314 auf 197 – laut Behrens „keine echte Erfolgsmeldung. Jede dieser Taten ist eine zu viel“.
Der deutliche Anstieg bei den Straftaten, die sich keinem politischen Spektrum eindeutig zuordnen ließen, liegt den Angaben zufolge vor allem an Nachwirkungen der Corona-Pandemie, der Landtagswahl und dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Die Motivation in diesen Fällen sei unklar, erklärte Leopold. Die Ministerin erklärte, Prävention sei schwierig, wenn die Motivation nicht zuzuordnen sei.
Die Zahl der Straftaten im Zusammenhang mit sogenannten „Reichsbürgern“, die die Bundesrepublik und ihre demokratischen Strukturen nicht anerkennen, sank von 264 auf 180. In „einigen wenigen Fällen“ gebe es Bezüge der „Reichsbürger“ zur niedersächsischen Polizei, sagte Behrens mit Blick auf Razzien in der Szene. Sie sei „in keinster Weise bereit, so etwas zu tolerieren“.
Bei Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger gab es einen Anstieg von 419 auf 471 Fälle. Behrens sprach von einem „absolut inakzeptablen Respektverlust vor unseren demokratischen Institutionen“. Rund um religiöse Ideologien stieg die Zahl der Straftaten von 36 auf 45, bei Straftaten der Hasskriminalität im Zusammenhang mit der sexuellen Orientierung von 40 auf 64.
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Niedersachsen mahnte, die Zahlen nicht als Zeichen der Entspannung zu deuten – auch wenn die absolute Zahl gesunken sei. Sascha Göritz, Vize-Landeschef der GdP, sagte: „Die Betrachtung der Zahlen bestätigt den Eindruck, den wir bei der Polizei bereits seit Monaten haben: Es gibt immer mehr Menschen, die bereit sind, gegen den Staat und seine Vertreterinnen und Vertreter zu agieren, ohne dass sie eindeutig einem etablierten politischen Lager zuzuordnen sind.“ Er forderte „ausreichend Personal in allen Bereichen und die notwendige Ausstattung“.
Jan Arning, Hauptgeschäftsführer des niedersächsischen Städtetages, nannte die Zahl der Straftaten gegen Amts- und Mandatsträgerinnen und -träger „erschreckend und nicht mehr hinnehmbar“. Er betonte, jede Straftat sei ein Angriff auf das demokratische Gemeinwesen. (dpa/IQ)