Psychologische Beratung

Wie sieht eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung im Islam aus?

Im Islam ist die Familie die Keimzelle der Gesellschaft. Die Eltern lieben ihre Kinder – und Kinder lieben ihre Eltern. Doch gibt es Beziehungen, die von Distanz geprägt sind. Dr. Ibrahim Rüschoff erklärt, was eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung ausmacht.

20
05
2023
Dr. Ibrahim Rüschoff erklärt, was eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung ausmacht
Dr. Ibrahim Rüschoff erklärt, was eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung ausmacht © Shutterstock, bearbeitet by iQ

Es ist leicht zu verstehen: Je mehr man sich anderen Menschen annähert, desto intensiver wird die Beziehung und desto wahrscheinlicher sind Störungen und Konflikte. Was der Bundespräsident über mich denkt, ist mir egal. Doch bei meinem Nachbarn oder Arbeitskollegen sehe ich das schon anders, aber wirklich wichtig ist die Meinung meiner Eltern, meines Ehepartners oder Kinder. Daher entstehen die meisten Konflikte auch im beruflichen und familiären Umfeld.

Im Islam ist die Familie die Keimzelle der Gesellschaft. Hier durchlaufen Kinder ihre ersten Beziehungserfahrungen mit ihren Eltern, in denen sich ihre Fürsorge und Zärtlichkeit, aber auch ihre schwierigen Seiten, ihre Ungeduld, ihre Verbote und Strafen widerspiegeln. Diese ersten Beziehungen werden vom Kind verinnerlicht und bilden ein Grundmuster für seine spätere Beziehungen zu anderen Menschen.

Kinder sind in ihren ersten Lebensjahren auf sichere und verlässliche Beziehungen angewiesen, unter deren Schutz sie die Welt erkunden. Sie müssen aber auch lernen, dass die Eltern nicht immer verfügbar sind und sie natürlich auch dann geliebt werden, wenn sie irgendwann nicht mehr unangefochten die erste Geige spielen, sondern auch Verzicht üben müssen.

Respektvoll behandeln, bedeutet nicht immer auch gehorsam sein

Eine der wesentlichsten Voraussetzungen für ein sicheres und gesundes Heranwachsen von Kindern ist die Gewissheit, dass ihre Beziehung zu den Eltern absolut sicher und praktisch unzerstörbar ist. Jeder kennt die Panik eines Kleinkindes, wenn es seine Mutter aus den Augen verloren hat und ohne ihre Anwesenheit Todesangst aussteht. Aber auch das weitverbreitete Anschweigen und Ignorieren von Kindern zur Bestrafung ist nur eine mildere Version davon („So fühlt sich das an, wenn Mama dich nicht liebhat!“) und für Kinder kaum erträglich. Sie tun dann meistens alles, um die Mutter wieder gut zustimmen und aus diesem Gefühl von Verlassenheit herauszukommen.

Im Koran und in der Sunna finden wir unzählige Aufforderungen, unsere Eltern gut und respektvoll zu behandeln. Wo es jedoch eigentlich um Respekt, das Erweisen von Güte (Ihsan) und die Vermeidung von Lieblosigkeit geht, wird von Eltern oft Gehorsam selbst bei Banalitäten oder in Bereichen eingefordert oder erwartet, die sie selbst gar nicht betreffen. Gleichzeitig wird dieser Anspruch in Freitagspredigten und Vorträgen aller Art religiös untermauert, sodass ein nachdenklicher Bruder es so ausdrückte: „In den Köpfen unserer Eltern, und auch in unseren, so fürchte ich, steckt die Überzeugung, dass, egal, was ich in dieser Welt Gutes getan habe: in der Schule fleißig und im Beruf erfolgreich, kein Gebet ausgelassen, mich liebevoll um meine Familie gekümmert und die Kinder wohlerzogen habe, alles das zählt weder im Diesseits noch im Jenseits, wenn meine Eltern mit mir nicht zufrieden sind!“
Wie problematisch eine solche Auffassung ist, wird an einer beiläufigen Aussage eines meiner Patienten deutlich: „Wenn sich meine Mutter über mich ärgert, habe ich eine Sünde begangen!“ Kann Ärger einer ungeduldigen und schwierigen Mutter ein Maßstab für meine Sünden sein?

Starke Abhängigkeit kann zu irreparablen Problemen führen

Eltern erwarten, dass ihre Kinder sie respektieren und ihnen grundsätzlich gehorchen. Die Kinder sind auch bereit, auf die Eltern zu hören, nicht zuletzt, weil sie sie lieben und ihre Hilfe benötigen. Doch wie weit reicht dieser Anspruch auf Gehorsam? Ist er gleichzusetzen mit Respekt? Sind Eltern die letzten absoluten Herrscher, denen gegenüber es keine persönliche Freiheit und Unabhängigkeit gibt? Wenn man die Realität betrachtet, könnte man meinen, es sei so.

Ich erlebe bei muslimischen Patienten häufig eine starke Abhängigkeit von ihren Eltern, insbesondere der Söhne von den Müttern, die die Selbstwirksamkeit und Autonomie der Kinder stark einschränken. Diese Einschränkung kann zu tiefen und manchmal irreparablen Problemen im Leben der Betroffenen führen, die man eigentlich liebt. Auch aus Liebe kann man irren!

Leider gibt es auch unter Muslimen Eltern, die ihren Kindern und Schwiegerkindern ohne Grund Schaden zufügen. Sie zerstören ihre Ehen, hetzen sie gegeneinander auf und begehen oft wissentlich großes Unrecht. Jeder dürfte solche Fälle kennen.

Es ist schwierig, aber was kann man tun?

Als Muslime haben wir die Pflicht, uns lebenslang zu bilden, wozu nicht nur die schulische und berufliche Bildung, sondern auch die Entwicklung unserer Persönlichkeit bzw. unserer nafs zählt. In Vorträgen über Erziehung frage ich die Anwesenden daher oft, warum wir eigentlich Kinder haben. Nach „Alterssicherung der Eltern“, „Erhalt der Familie und der Umma“ herrscht dann meistens Ratlosigkeit. Aber wer sollte den Eltern helfen, auf dem Weg zur höchsten Stufe der nafs, der Seelenruhe (Sura 89:27-30) voranzuschreiten, wenn nicht die Kinder? Sie sollten ihnen ihre schwierigen Seiten bewusst machen und sie dabei unterstützen, sie zu überwinden. Auch wenn den Eltern das nicht immer gefällt und die Kritik konstruktiv bleiben muss.

Denn nicht nur Kinder, auch Eltern haben noch Entwicklungsaufgaben, wobei die wichtigste darin bestehen dürfte, die Kinder in die Selbstständigkeit zu entlassen, die sie auch durchaus einfordern dürfen. Es mag sich zunächst wie ein Verlust anhören, denn nie wird eine Mutter für jemanden wieder so wichtig, wie für ihre kleinen Kinder, aber nur wenn wir sie gehen lassen, kommen sie gerne wieder. Denn „…Wir haben, wo wir lieben, ja nur dies: einander lassen; denn dass wir uns halten, das fällt uns leicht und ist nicht erst zu lernen“ (Rilke).

Leserkommentare

Dilaver_Ç. sagt:
Es gibt türkischsprachige Ratgeber-Literatur, wie Muslime ihre Kinder islamisch erziehen können. Wobei Pädagogen sowie Psychologen oft (Co-)Autoren sind. Wer kein Türkisch spricht, kann auf entsprechende islamische Literatur in deutscher Sprache greifen. In der islamischen Buchhandlung seines Vertrauens kann man danach fragen.
22.05.23
17:08