30 JAHRE SOLINGEN

„Keine Sprache der Welt kann unsere Verluste beschreiben“

Hatice Genç verlor bei dem rassistischen Brandanschlag in Solingen ihre beiden Töchter. Damals war sie 25 Jahre alt. Im Interview erinnert sie sich zurück.

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05
2023
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Als der Brandanschlag auf euer Haus verübt wurde, war ich neunzehn Jahre alt. Der Solinger Brandanschlag hat mich politisiert, denn ich bin in Solingen geboren, aufgewachsen und hier zu Hause. Der Vorfall hat mich und meine Familie daher sehr getroffen. Nach dem Brandanschlag waren die in Solingen lebenden deutsch-türkeistämmigen Migranten in Angst und Schrecken versetzt. Fast alle hatten Angst davor, dass nun die Türken die Zielscheibe der extrem Rechten würden. Dies wurde unter Migranten propagiert und hat folglich alle beunruhigt. Wie sind deine Erinnerungen an den 29. Mai 1993?

Hatice Genç: Als ich nach Deutschland kam, war ich fünfzehn. Am 29. Mai 1993, als Rechtsextreme den Brandanschlag auf unser Haus verübten, war ich fünfundzwanzig. Der Brandanschlag geschah drei Tage vor dem Opferfest. Ich machte mich daher an den Großputz im Haus. Ich nahm die Vorhänge ab und fing an, sie zu waschen. Und genau in diesem Augenblick hörte ich diesen Knall. Ich rannte dann sofort zur Tür und schaute durchs Schlüsselloch. Durch unser Schlüsselloch konnte man genau auf die Eingangstür gucken. Und dann sah ich diese feuerrote Flamme. Ich hatte nicht gedacht, dass die Flamme so groß war. Ich dachte, ich könnte sie mit einem Eimer Wasser löschen. Ich lief dann sofort los, holte einen Eimer voller Wasser und schüttete es gegen die brennende Tür. Unsere Eingangstür hatte Glasscheiben. Als das Wasser auf die heißen Scheiben traf, knallte es so dermaßen, als wäre eine zweite Bombe eingeschlagen. Die oberen Etagen brannten schon. Es brannte überall.

Als ich realisierte, dass ich dieses Feuer allein nicht löschen konnte, rannte ich los und weckte meine Mutter. Dann rannte ich weiter und weckte die Kinder. Mein Mann kam uns hinterher. Ich dachte, dass auch meine Kinder uns sofort nachgekommen wären, und half zuerst meiner Mutter aus dem Fenster, anschließend folgte ich ihr. Alle anderen wollten wir auch über das Fenster retten. Als wir gesehen hatten, dass die Kinder nicht nachgekommen waren und wir auch keinen Ton von ihnen hörten, fingen meine Mutter und ich an zu schreien: „Kinder, kommt raus!“ Ich hielt es nicht aus und stürzte mich erneut in das brennende Haus, um die Kinder zu retten. Im Haus schrie ich weiterhin: „Kinder, kommt!“ Ich wollte zu den Kindern und öffnete die Tür, die zum Kinderzimmer führte, aber die Flammen waren verheerend und schlugen mir ins Gesicht. Ich schloss sofort die Tür. Die Flammen hatten mir den Weg zu den Kindern versperrt, es brannte überall. Ich schlug mit all meiner Kraft gegen alle Wände um das Kinderzimmer herum, wollte sie durchbrechen und schrie mit aller Kraft, damit die Kinder mich hören konnten … aber es kam kein einziger Schrei zurück.

Hatice Genç verlor bei dem rassistischen und extrem rechten Brandanschlag vom 29. Mai ihre beiden Töchter, Saime (4) und Hülya (9). Hatice Genç war damals 25 Jahre alt und hatte als Erste den Knall des Molotowcocktails gehört. Sie weckte die restlichen 18 Familienmitglieder und rettete somit das Leben von mehreren Menschen. Bei die- sem Brandanschlag kamen Hülya, Saime und Hatice Genç, Gürsün İnce und Gülüstan Öztürk ums Leben. 14 Menschen wurden verletzt, davon waren zwei schwerverletzt und erlitten schwere Brandverletzungen.

Die Flammen hatten alles umzingelt und waren bereits an dem Fenster angekommen, durch das ich ins Haus gestiegen war. Ich schaffte es nur mit großer Mühe hinaus. In kurzer Zeit hatten sich die Flammen überall ausgebreitet. Alles passierte binnen Sekunden. Ich sah draußen, wie Bekir sich aus dem Fenster des zweiten Stockwerks warf und rannte zu ihm. Er hatte ein Auge geöffnet, das andere war geschlossen. Ich schrie: „Bekir! Bekir!“, aber er blieb stumm. In dem Moment dachte ich: „Er ist tot.“ Im nächsten Moment hörte ich Schreie, dieses Mal vom oberen Stockwerk aus. Ich spannte reflexartig meinen Rock, damit sie die Kinder runterwerfen konnten. Zu meiner Mutter rief ich: „Spann deinen Rock!“ Von der oberen Etage warfen sie Burhan, damals ein sechs Monate altes Baby, in den Rock meiner Mutter. Er rutschte aber durch den Rockgummi hindurch und schlug hart auf den Boden auf und wurde daher verletzt. Er fiel genau in den Betonschacht unter dem Fenster, in diesen Kanal. Ich hob ihn sofort hoch, gab ihn meiner Mutter und rannte im gleichen Moment zu den anderen Schreienden.

Ich sah, dass meine Schwägerin Gürsün und ihr Mann am Fenster des dritten Stocks schrien. Ich rief wieder: „Werft das Kind runter!“ Sie warfen Güldane runter, aber ich konnte Güldane nicht halten. Das Kind rutschte mir durch die Hände. Wir hatten einen Platz für Autoreparaturen, dort fiel sie hin. Ich rannte gleich los, nahm das Kind und reichte es jemandem weiter. Wer das war, weiß ich nicht. Dann sprang Güldanes Vater, mein Schwager Ahmet, aus dem Fenster. Gürsün sprang auch, aber sie schlug auf den Beton auf und starb an Ort und Stelle. Ich dachte, dass auch Gülüstan springen würde. Aber sie konnte nicht, die Flammen hatten sie bereits umzingelt.

In der Zwischenzeit hatte mein Mann Bekir nach oben, an den Straßenrand, gebracht. Ich konnte nur sehen, wie er versuchte, Bekir mit einer Herzmassage wiederzubeleben. Bekir hatte es sehr schlimm erwischt, sein ganzer Körper war verbrannt. Aber mein Mann hat ihn mit der Herzmassage gerettet. Wir dachten schon, Bekir sei gestorben. Nachdem ich Güldane gerettet und einer Person in Obhut gegeben hatte, kam die Feuerwehr. Unser Auto stand vor dem Haus. Mein Mann Kâmil versuchte noch, bevor die Feuerwehr eintraf, mit bloßen Händen das Fenster unseres Autos einzuschlagen und wollte das Auto wegfahren, um der Feuerwehr Platz zu schaffen. Nachdem die Feuerwehr eintraf, rannte ich sofort zu ihnen und sagte: „Wenn Sie dort an das Zimmer eine Leiter aufstellen und das Fenster einschlagen, können Sie die Kinder retten.“ Das Bett meiner jüngeren Tochter Saime stand im hinteren Zimmer gleich vor dem Fenster, meine Tochter lag also direkt vor dem Fenster. Die Flammen hatten sich dort noch nicht ausgebreitet. Der eine Feuerwehrmann sagte zu mir: „Wir können nicht so vorgehen, wie Sie uns das sagen. Wir richten uns nach den Vorschriften.“

Das Kinderzimmer lag hinten und war an die Küche angegliedert. Aus der Küche loderten die Flammen nach draußen und die Feuerwehr hielt das Wasser gegen das Küchenfenster, aber in diesem Raum war kein Mensch; also, dort schlief niemand, dort hielt sich niemand auf. Ich glaube, dass wenn die Feuerwehrleute auf mich gehört hätten, hätte man wenigstens meine kleine Tochter Saime retten können, denn die Flammen waren noch nicht im Hinterzimmer angelangt. Mir kam es vor, als wenn ich neben diesem Feuerwehrmann zugesehen habe, wie meine Tochter bei lebendigem Leibe verbrennt. Das ist ein verheerendes Gefühl, es ist wirklich nicht auszuhalten. Weil ich den Feuerwehrleuten das gesagt und mich in ihre Arbeit eingemischt habe, haben sie mich sofort in einen Krankenwagen gesteckt. Die Feuerwehr kam sowieso erst, nachdem wir alle gerettet hatten. Sie selbst haben dort niemanden lebend rausgeholt. Das waren wir, wir haben alle gerettet. Die Feuerwehr schaffte lediglich die Leichen aus dem Haus.

Wir liefen in alle Richtungen, zu jedem, der Hilfe brauchte, und versuchten, alle zu retten, die noch im Haus waren. Nevin, Fadime, mein Schwager Ahmet undmein anderer Schwager sprangen nach und nach aus den Fenstern und die Rettungswägen kam auch schon angefahren und fuhren uns sofort ins Krankenhaus. Man brachte uns in verschiedene Krankenhäuser, keiner wusste über den anderen Bescheid. Wir waren alle allein. Mein Vater war in dieser Nacht arbeiten, er hatte Nachtschicht. Er wusste von nichts. Ich weiß nicht, wie sehr meine Nerven bei diesem schweren Ereignis angespannt waren, aber meine Hände und Füße hattensich zusammengeballt und verkrampft. Eine sehr gute Freundin und Arbeitskollegin waren bei mir im Krankenhaus. Sie massierten meine Hände und versuchten, siezu öffnen. Ich kann mich nicht erinnern, ob sie mir Medikamente gaben oder nicht. Aber ich zwang mich, keine Medizin zu nehmen. Ich schrie verzweifelt: „Ich will nicht schlafen! Ich will meine Kinder retten! Warum habt ihr mich hierhergebracht? Wie geht es meinen Kindern? Sind sie raus? Haben sie die Kinder auch ins Krankenhaus gebracht, wohin haben sie sie gebracht? In welches Krankenhaus haben sie sie gebracht?“

Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass meine Kinder gestorben waren. Ich dachte die ganze Zeit, dass man sie auch in ein Krankenhaus gebracht hat. Man sagte zu mir: »Ihnen geht es gut, mach dir keine Sorgen. Du musst jetzt an dich denken!“ Anschließend brachte uns die Stadt in eine Notunterkunft. Dort blieben wir ein oder zwei Nächte. Danach brachten sie uns in eineandere Unterkunft in der gleichen Straße und wir blieben dort für ungefähr zwei Jahre. Jeder, der von dem Brandanschlag hörte, kam dort hin. Ich weiß es noch wieheute; jemand versuchte, mir ein Beruhigungsmittel zu geben. Als ich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus noch weiterschrie: „Ich will meine Kinder!Ich will meine Kinder!“, sagte meine Schwägerin später zu mir: „Du warst wie von Sinnen.“ Vom Konsulat wäre Herr Bozkurt Alan gekommen und ich hätte mir ein Messer aus der Küche geschnappt und wäre auf ihn losgegangen. Ich kann mich nicht daran erinnern. Aber ich weiß, dass dieser Mann sagte:“Lasst sie, lasst sie. Sie ist jetzt sehr traurig und weiß nicht, was sie tut.“ Dann kam dieser Mann zu mir und umarmte mich. Er versuchte, mich zu trösten, und sagte:“Ruhig, mein Kind, ruhig.“

Tagelang wusste niemand in unserer Familie, was mit den anderen passiert war, in welchem Krankenhaus sie waren, wer verletzt war, wer tot war und wer es geschafft hatte. Ich soll immerzu gefragt haben: „Wo sind meine Kinder? Ich will meine Kinder! Bringt mir meine Kinder!“ Man erzählte mir später, dass ich einen Nervenzusammenbruch hatte und eingeschlafen sei. Doch nachdem ich aufgewacht sei, soll ich wiederum kein einziges Wort mehr gesprochen haben. Am nächsten Tag wollte ich zu unserem Haus und es mir ansehen. Auf dem Weg dorthin habe ich lauthals geweint. Dort angekommen sah ich eine Menschenmasse. Alles war sehr voll. Dann sah ich, dass alles ausgebrannt war und in Schutt und Asche lag. Es war zu spät.

Nachdem ich das Haus mit eigenen Augen gesehen hatte und auch meine Kinder nicht finden konnte, wusste ich nun: Meine Kinder konnten den Flammen nicht entkommen. Man wollte uns nicht ins Haus lassen, aus Sicherheitsgründen, das Haus könne einstürzen. Ich ließ nicht locker und ging hinein. In dem Moment kamen mir die Fotoalben meiner Kinder in den Sinn. Ich eilte zum Schlafzimmer zu dem Schrank, in dem ich sie verstaut hatte und öffnete ihn. Die Innenbretter des Schrankes waren heruntergefallen und lagen quer. Dann sah ich die Alben! Sie lagen in einer Ecke unter den Brettern und waren nicht verbrannt! Ich schnappte sie sofort und rannte raus. Damals hatte ich viele Nervenzusammenbrüche, ich habe viel geschrien. Ich schrie immer wieder: „Bring mich nach Hause!“ Obwohl ich dort war und es gesehen hatte, ging ich noch einmal hin. Am nächsten Tag ging ich wieder hin, immer wieder; bis wir unsere Verstorbenen in die Türkei überführten.

Du hast deine beiden Töchter Saime und Hülya, deine Schwägerinnen und eine Nichte bei dem rassistischen und extrem rechten Brandanschlag verloren. Ihr hattet außer Saime und Hülya keine weiteren Kinder. Du hast einen großen Verlust erlitten, nochmals mein Beileid. Ich habe gerade das Foto von Saime und Hülya im Wohnzimmer gesehen. Wie sind deine Erinnerungen an deine beiden Töchter?

Genç: Ich trage sie immer in meinem Herzen. Ich habe ihre Bilder vor mir im Wohnzimmer aufgestellt, damit ich sie immer bei mir habe. So behalte ich sie in meinem Herzen lebendig. Meine Kinder waren sehr süße und liebevolle Kinder, sie waren wunderbar und friedvoll. Meine jetzigen Jungs sind auch so. Eines Tages wollte meine ältere Tochter ein Eis, aber ich konnte es meiner Hülya nicht geben. Heute bereue ich es und das ist mir in Erinnerung geblieben. Manchmal, zu Lebzeiten, denkt man nicht viel drüber nach. Man sagt sich: „Wenn es heute nicht geht, dann geht’s halt morgen.“ Aber das ist etwas, was du heute nicht mehr geben kannst … nach dem Tod kommt die Reue und man denkt sich: „Hätte ich nur …“

Manchmal sind kleine Kinder doch aktiver. Ich glaube, gerade deshalb war Saime etwas Besonderes. Saime war sehr ruhig. Sie spielte friedvoll mit den Kindern, die bei uns zu Besuch waren. Sie sagte: „Schau, da sind Spielsachen, lass uns damit spielen.“ Manche Kinder knallen Schranktüren auf und zu oder machen Radau … aber meine Mädchen waren sehr ruhig. Sie verstanden sich gut. Sie spielten auch gern mit anderen Kindern. Nachdem ich bei dem Brandanschlag meine beiden Kinder verloren hatte, bekam ich zwei Jungs. Als sie noch klein waren, sagte ich sogar einmal zu ihnen: „Jungs, hüpft doch mal auf den Sofas rum! Ich möchte endlich mal erleben, dass ihr Quatsch macht!“ Alle beschwerten sich, dass ihre Kinder Unfug trieben, aber ich wollte, dass meine auch mal übermütig wurden. An Saime und Hülya habe ich nur gute Erinnerungen, aber das Glück, ein langes Leben zusammen mit meinen Kindern zu haben, hat man mir leider genommen.

Als Kâmil 1989 in der Türkei seinen Wehrdienst antrat, ging ich mit. Ich ließ meine Tochter Hülya in Deutschland zurück. Ich war zwei Monate lang getrennt von meiner Tochter in der Türkei. Als ich zurückkam, war es so, als hätte mich meine Tochter vergessen, und sie klebte am Rockzipfel ihrer Oma. Außer diesem Vorfall war alles sehr schön, alles war in bester Ordnung. Unsere Familie, die Familie Genç, hatte ein schönes Leben. Wir waren eine große Familie und wir waren glücklich. Alle waren zusammen mit ihren Kindern. Ich spielte auch mit meinen Kindern; zum Beispiel Fünf Steine, Seilspringen oder Stockspiel. Wir gingen auch zum Spielplatz und turnten dort auf den Seilen herum. Hülya hatte es nicht geschafft, auf diese Seile zu klettern. Ich kletterte dann selbst rauf und zeigte ihr, wie es geht. Ich war immer mit meinen Kindern zusammen und hab alles getan, damit sie ein glückliches Leben hatten. Ich kam 1981 nach Deutschland.

Am 29. Mai 1993 lebten wir mit fünf Familien in der Unteren Wernerstraße 81. Jeder hatte seine eigene Wohnung, aber wir waren immer zusammen. Wir hatten eine tolle Zeit. Unser Leben war schön. Wir sprechen in der Familie nicht ständig über den Brandanschlag, da es ein sehr schweres und sehr trauriges Thema ist. Ich rede auch nicht immer mit meinen Söhnen darüber, weil ich nicht möchte, dass meine Kinder deshalb traurig werden. Keiner von uns konnte den Brandanschlag je verkraften, wir sind alle noch immer traumatisiert. Solange meine Söhne nicht von selbst fragen, erzähle ich nicht, was uns widerfahren ist. Ab und zu stellen sie Fragen, dann erzähle ich etwas. Sonst verinnerlichen sie vielleicht noch etwas und machen sich das Leben schwer. Das würde ich nie wollen. Auch sie sind durch dieses Ereignis bereits traumatisiert. Ich möchte sie nicht noch mehr verletzen. Es ist nichts, was man so leicht verkraften kann. Es war nicht ein Mensch, nicht drei Menschen, sondern fünf Menschen haben bei diesem extrem rechten Brandanschlag auf eine fürchterliche Art und Weise ihr Leben verloren.