30 JAHRE SOLINGEN

„Keine Sprache der Welt kann unsere Verluste beschreiben“

Hatice Genç verlor bei dem rassistischen Brandanschlag in Solingen ihre beiden Töchter. Damals war sie 25 Jahre alt. Im Interview erinnert sie sich zurück.

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05
2023
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Nach diesem Anschlag von 1993 hatte auch mein Vater eine Strickleiter gekauft, damit wir uns im Falle eines Brandanschlags auf unser Haus aus dem Fenster retten konnten. Türkeistämmige Migranten, die in Solingen lebten, sahen diese Strickleiter als eine Notwendigkeit an. Denn sie wussten nun, dass die Angriffe nach den Brandanschlägen von Mölln und Solingen gegen Türkeistämmige gerichtet waren. Die Folgen des Brandanschlages sind noch heute für viele spürbar. In einem unserer Gespräche sagtest du: „Meine Nächte gleichen meinen Tagen.“ Der Brandanschlag war vor dreißig Jahren. Wie gehst du heute damit um?

Genç: Dreißig Jahre sind jetzt seit dem Brandanschlag vergangen, ich habe sogar noch Kinder bekommen, aber schlafen kann ich immer noch nicht. Ich warte, bis es hell wird, und kann erst nach sieben Uhr morgens nur für ein paar Stunden schlafen. Ich schlafe meistens tagsüber. Dieses Trauma wird nie enden, erst mein Tod wird mich davon erlösen. Eines Tages war ich im Kinderzimmer, es war Tag, ich hatte die Kinder schlafen gelegt und schaute aus dem Fenster des Kinderzimmers. Ich weiß nicht mehr, was mir durch den Kopf ging oder woran ich in dem Moment gedacht hatte. Plötzlich sah ich, wie Flammen aus der entgegengesetzten Richtung direkt auf unser Haus zukamen. Ich sackte auf der Stelle zusammen und dachte: „O mein Gott! Jetzt brennen sie auch dieses Haus nieder!“ Nach einer Weile schüttelte ich mich und kam zur Besinnung und schaute noch mal nach. Da war aber nichts dergleichen. Jedoch für diesen Moment kam es mir so vor, als würde ich wieder Flammen sehen, so wie bei unserem alten Haus, das niedergebrannt wurde.

Die Menschen, alle verfolgen sie ihre eigenen Interessen. Ich habe meine beiden Kinder verloren, es starben insgesamt fünf Menschen in einer Nacht. Besucher gingen ein und aus. Viele haben mich auch in diesem Zustand gesehen. Dennoch hörte ich, wie manche lästerten: „Was ist das für eine Braut? Sie rauft sich nicht die Haare und tobt nicht herum.“ Bringe ich denn meine Trauer zum Ausdruck, wenn ich mir die Haare raufe, mich zu Boden werfe und mich zerfleddere? Glaub mir, mit diesen Worten haben sie mich ein zweites Mal vernichtet. Die Journalisten haben uns das Leben zur Hölle gemacht, indem sie immer verzerrt über uns berichtet haben. Vor dem Brandanschlag züchteten wir verschiedene Gemüsesorten in unserem Garten. In diesem Jahr hatten wir Kohl gepflanzt. Nach dem Anschlag gingen wir immer zu unserem Haus, weil wir uns ständig fragten: „Wie sieht es dort aus? Was ist passiert? Sind die Kinder denn wirklich tot?“

Unser Haus lag zwar in Schutt und Asche, wir hatten Tote, hatten diese überführt und begraben, waren auch wieder zurück, aber … wir konnten es immer noch nicht glauben. Unsere Gedanken waren immer noch bei unserem alten Haus. Eines Tages ging ich in den Garten hinunter, um zu sehen, was rund um das Haus noch übrig war. Dabei musste ich gezwungenermaßen durch das Gemüsebeet hindurch. Die Kohlköpfe waren auch ziemlich gewachsen in diesem Jahr. Dann war da noch ein deutscher Journalist vom ZDF vor Ort und filmte mich, während ich im Garten war. Eines Tages sah ich mich im Fernsehen. Es sah aus, als wäre ich in einem riesigen Kohlgarten. Ich konnte mich nicht erinnern, in einem Feld gewesen zu sein, und überlegte, wo das aufgenommen wurde. Es stellte sich heraus, dass es unser Garten war. Dazu kam der Bericht: „Sie hat alles vergessen und ist wieder vergnügt.“ Die Journalisten dachten an ihre eigenen Interessen und brachten solche Meldungen. Ich war sehr traurig darüber und es hat mich sehr tief getroffen. Ja, und die Leser glauben dann natürlich solche Sachen.

Ich habe auch selbst gehört, dass Leute hinter unserem Rücken lästerten und sagten: „Es geschieht ihnen recht!“ Manche meinten sogar, wir hätten es selbst gemacht. Viele behaupteten auch, dass wir nach dem Brandanschlag ein luxuriöses Leben führen und nicht mehr arbeiten würden. Wir würden Geld verdienen, ohne zu arbeiten, und der Staat käme für all unsere Kosten auf. Die erste Zeit hat mich das sehr verletzt und ich konnte nachts nicht schlafen, weil ich mir immerzu Gedanken darüber machte. Ich litt ohnehin schon unter Schlafstörungen und das alles gab mir noch den Rest. Wir hörten oft, dass unser „Hausbau durch Spendengelder finanziert“ worden wäre. Das haben sogar einige unserer engsten Vertrauten gesagt. Alle dachten, dass unser Haus durch Spendengelder finanziert wurde, aber das ist nicht wahr. Unser Haus war versichert und wurde mit der Schadenzahlung der Versicherung gebaut. Dieses Geld reichte aber nicht mehr für die Dacharbeiten aus. Die Dacharbeiten hat dann die türkische Firma ENKA übernommen und so konnte das Haus erst fertiggestellt werden. Eigentlich hätte der deutsche Staat oder die Stadt Solingen den Rest übernehmen können, aber sie haben es nicht gemacht. Es gab sogar Leute, die kamen, um sich dieses Haus anzusehen. Sie sagten: „Oh, wie schön, toll! Das hat der Staat gebaut. Die Türken haben in runtergekommenen Häusern gewohnt. Jetzt haben sie sich hier ein Luxushaus bauen lassen.“ Sie spazierten sogar bis ins oberste Stockwerk hinauf, um zu gucken. Stell dir das mal vor! Ich begreife immer noch nicht, wie die Leute so etwas sagen können.

Mein Leben in der Unteren Wernerstraße war doch schon schön. Ich war damals zusammen mit meinen Kindern glücklich. Ich war tausendmal glücklicher als jetzt. Wir hatten keine Probleme, keine Sorgen. Für uns war alles perfekt. Alle hatten gearbeitet, wir hatten auch keine Geldprobleme. Aber so denken die Leute eben nicht. Diese Gerüchte waren wirklich nicht auszuhalten. Wir haben uns gegenseitig getröstet. Aber zu verantworten haben das größtenteils die Medien. Irgendwann schrieb die Presse, dass wir in unserem neuen Haus einen Swimmingpool und einen Hubschrauber hätten und berichteten über Sachen, die gar nicht existierten. Angeblich würden wir beim Einkauf in den Geschäften unsere Körbe füllen und an der Kasse behaupten: „Ich bin von der Familie Genç. Ich werde den Einkauf nicht bezahlen. Den zahlt die Stadt.“ Es gab das Gerücht, dass die Stadt den Einkauf der Familie Genç bezahlte. Sogar der Gedanke daran ist absurd.

Die Bertelsmann-Stiftung erklärte in der Presse: „Wir spenden der Familie Genç eine Million Mark.“ Aber diese eine Million hat uns nie erreicht. Der Staat hat mit diesem Geld in Solingen-Ohligs ein Jugendzentrum namens „InterJu“ errichtet. Man bediente sich unseres Namens und alle dachten: „Die Familie Genç hat eine Million Mark erhalten.“ Da wir aber nicht viel Rückendeckung hatten und unsere Deutschkenntnisse nicht ausreichten, haben wir aufgegeben, uns weiter zu erklären. Journalisten schrieben, die Medien veröffentlichten und die Gesellschaft glaubte diese Lügen. Die Menschen gönnen sich gegenseitig nichts. Ich kann mir nur das leisten, was ich mir selbst erarbeitet habe. Diese willkürlichen Behauptungen und Gerüchte, die die Leute verbreiten, verletzen uns sehr.

Die vier deutschen Täter, die euer Haus in Brand gesetzt hatten, stammen alle aus Solingen. Einer von ihnen wohnte sogar euch gegenüber und war euer Nachbar. Er soll ein paar Stunden vor dem Brandanschlag seinen Freunden die Tat angekündigt haben. Was ging dir durch den Kopf, als du das erfahren hast, Abla?

Genç: Ich dachte: „Wie kann ein Mensch seinem Nachbarn so etwas antun?“ Für uns war es immer wichtig, eine gute Beziehung zu unseren Nachbarn zu haben. Es kam uns nie in den Sinn, ja, wir dachten nicht einmal daran, dass unser Nachbar einen Brandanschlag auf uns verüben würde. Damals meinten die Nachbarn, dass wir viel Besuch bekommen würden, aber wir haben nie daran gedacht, dass sie einen Anschlag aus einem rassistischen und extrem rechten Motiv verüben würden. Wir hörten zwar von einigen Freunden: „Nazis haben einen Brief in unseren Briefkasten geworfen und ein Nazi-Zeichen drauf gemalt.“ Aber vor dem 29. Mai dachten wir: „Unmöglich. Nein, so etwas kann kein Mensch machen.“ Aber, wie man sieht … er kann es doch. Ich kannte den Nachbarsjungen, diesen Täter nicht einmal. Ich sah ihn das erste Mal vor Gericht, als er uns gegenüberstand. Nicht einmal in der Nachbarschaft bin ich ihm begegnet.

Wir erfuhren später vor Gericht, dass er den Brandanschlag geplant hat. Dieser Täter soll, bevor er unser Haus in Brand gesetzt hat, noch ein Kind verletzt haben, indem er ein brennendes Zündholz auf ihn geworfen hat. Dass er den Anschlag geplant hat und einen Hass gegen Türken hegt, erfuhren wir bei der Verhandlung. Wir sind niemandem mit schlechten Absichten begegnet, im Gegenteil, wir waren immer hilfsbereit. Als ich erfuhr, dass der Nachbarsjunge diese schreckliche Tat begangen hat und vor allem, dass es unser Nachbar ist, dachte ich: „Unmöglich! Das kann nicht sein! Es kann unmöglich unser Nachbar sein!“ Christian B. machte auch vor Gericht hasserfüllte Bemerkungen uns gegenüber. Ich verlor im Gerichtssaal daraufhin plötzlich die Beherrschung und ging auf ihn los. Mich hat man sofort aufgehalten, ihn nicht. Ihn hat man nicht ermahnt und gesagt:

„Hören Sie auf, so dürfen Sie nicht sprechen!“, aber ich sollte ruhig bleiben. Und das tut am meisten weh. Der Prozess war ohnehin schon sehr schmerzvoll für uns, wir waren nicht wir selbst. Jedoch griff niemand ein, als der Täter in dieser Art und Weise sprach. Die Täter und ihre Familien taten sich keinen Zwang an und brachten in unserem Beisein ihren Hass zum Ausdruck. Dennoch versuchten wir immer, die Fassung zu bewahren. Bei einer Verhandlung verließ meine Mutter vor uns den Gerichtssaal. Ich sah, wie Christian B.‹ Mutter meiner Mutter die Hand entgegenstreckte und versuchte, meiner Mutter die Hand zu schütteln. Ich rannte daraufhin sofort zu ihr. Sonst hätte sie dort noch mit dieser Frau gesprochen. Meine Mutter kann sowieso kein Deutsch und den Namen der Frau hatte sie auch nicht ganz verstanden. Bei diesen Gerichtsterminen durchlebten wir unser Trauma ohnehin immer wieder aufs Neue und waren am Ende unserer Kräfte. Die Mutter des Täters nahm diesen Zustand zum Anlass und bedrängte meine Mutter. Mit ausgestreckter „Friedenshand“ versuchte sie, Mitleid zu erregen, nach dem Motto: „Mein Sohn ist unschuldig!“ Es waren ja auch unzählige Journalisten vor Ort. Wäre ich nicht herbeigeeilt, hätte sie den Journalisten erzählt: „Seht her, ich habe mit Mevlüde Genç gesprochen. Sie ist ein guter Mensch und verständnisvoll.“ Gott weiß, was man dann alles veröffentlicht hätte. Dass meine Mutter ein weiches Herz hat, war eh allgemein bekannt. Diese Frau wollte das ausnutzen. Aber ich schickte sie weg und sagte: „Auf gar keinen Fall! Bleib fern von uns!“

Die Journalisten machten gemeinsame Sache mit den Familien der Täter. Einmal kam ein ZDF-Reporter zu uns. Er kam sogar bis in die Türkei zu unserem Haus im Dorf. Er hat eine Woche lang gemeinsam mit uns dort gewohnt, gegessen, gelebt. Er hat beobachtet, wie wir leben. Das alles wollte er dokumentieren. Er hat uns beobachtet und alle Informationen gesammelt, die er brauchte. Dann eines Tages sehe ich diesen Reporter auf einem anderen Sender, wie er der Familie des Täters beisteht, Desinformationen verbreitet und sagt: „Diese Familie ist nicht so, wie Sie denken. Sie lachen, sind vergnügt und genießen das Leben.“ Als ich das im Fernsehen sah, war ich so dermaßen am Boden zerstört, ich konnte es nicht glauben. Die deutschen Reporter standen nicht den Opfern bei, sondern verteidigten die Familien der Täter. Das beruht darauf, dass wir „Muslime“ und „Türken“ sind. Uns stand niemand bei, wir waren die ganze Zeit allein. Deren Ziel war es, uns zu provozieren und uns zu demütigen. Und als dann meine Mutter immer wieder sagte: „Meine Feinde sind vier Personen“, dachten die Deutschen, wir würden alles nicht so ernst nehmen und seien verständnisvolle, nachsichtige Menschen. Die Absicht des Reporters war ganz offensichtlich. Er wollte uns ein falsches Image verpassen, nämlich: „Es sind Menschen gestorben, dennoch lachen sie, vergnügen sich und genießen das Leben.“ Man wollte uns als die Täter darstellen, die Schuldigen jedoch als Opfer.