Hatice Genç verlor bei dem rassistischen Brandanschlag in Solingen ihre beiden Töchter. Damals war sie 25 Jahre alt. Im Interview erinnert sie sich zurück.
Hatice Abla, am Ende des Prozesses wurden die vier Täter aus Solingen zu Haftstrafen verurteilt. Drei Personen wurden zu zehn Jahren und einer zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt. Was hast du gefühlt, als das Urteil verkündet und die vier Täter schuldig gesprochen wurden? Konntest du wenigstens ein bisschen aufatmen und warst erleichtert?
Genç: Nein, ganz im Gegenteil. Ich konnte überhaupt nicht erleichtert aufatmen. Ich habe lange darüber nachgedacht und mich gefragt: „Sie haben fünf Menschen aus rassistischen und extrem rechten Motiven heraus ermordet. Warum fiel ihr Urteil so milde aus?“ In keinster Weise wurde der Gerechtigkeit Genüge getan. Ist ein Menschenleben denn so wertlos? Drei Täter wurden zu zehn Jahren und einer zu fünfzehn Jahren verurteilt. Aber alle wurden wegen guter Führung vorzeitig entlassen. Meiner Meinung nach hätten sie noch längere Haftstrafen bekommen müssen. Fünf Menschen sind gestorben. Ob Muslime oder Christen, das spielt keine Rolle. Es waren Menschen, die gestorben sind. Sie waren doch noch kleine Kinder … winzige Knospen waren sie … die ihre Blütezeit nicht erleben durften. Sie haben ihre Leben einfach ausgelöscht. Du sitzt zehn Jahre ein und spazierst anschließend heraus, als wenn nichts wäre. Ist das beruhigend? Niemals! Gut, dich entlässt man zurück ins freie Leben. Kommen denn meine Kinder auch zurück? Meine Kinder sind doch nicht an einem Ort, von dem sie wiederkehren können! Es regt mich auf, wenn man vom »Jugendgesetz6« spricht. Denn unsere Kinder waren auch „jung“.
Sie waren erst vier und neun Jahre alt, das älteste war siebenundzwanzig. Waren sie etwa nicht jung? Was ist mit deren Leben? Du löschst fünf Menschenleben aus; bekommst zehn Jahre, weil du jung bist, und kommst raus. Und dann? Du lebst dein Leben weiter. Die Täter haben meine Mädchen und unsere anderen jungen Mädchen für alle Ewigkeit eingesperrt. Sie liegen unter der Erde. Ihr Leben ist vorbei! Aber die Täter sind nach zehn, fünfzehn Jahren wieder auf freiem Fuß und machen da weiter, wo sie aufgehört haben, sind frei und genießen ihr Leben.
In Solingen gedenktman jedes Jahr den Opfern des rassistischen und extrem rechten Brandanschlags. Was bedeuten diese Gedenkfeiern für dich?
Genç: Es ist ein sehr wichtiger Tag für uns. Aber für die Stadt Solingen nimmt seine Bedeutung ab und sie möchten „dieses Kapitel allmählich schließen“. Vor zwei Jahren gab es zwischen den Mitarbeitern der Stadt Solingen und dem türkischen Konsul rege Diskussionen über die Gedenkfeiern. Man hat lange darüber diskutiert, „warum die Gedenkfeiern denn jedes Jahr stattfinden müssten“. Die Gedenkfeiern würden dem Image schaden. Die Stadtverwaltung veranstaltet die Gedenkfeiern nur, weil wir es wollen, sonst wäre es ihnen egal. Eigentlich möchten sie ja das Kapitel abschließen und zu einem normalen Leben übergehen, so, »als wäre es nie passiert“. Wir möchten, dass es nicht in Vergessenheit gerät. Es gibt viele Deutsche, die sagen: „Muss es denn jedes Jahr sein? Es reicht doch.“ Es sind nicht nur die Deutschen, sondern sogar Türken meinen: „Wozu denn? Ihr seid doch am Ende die Leidtragenden.“ Meine beiden Kinder werden ermordet, insgesamt werden fünf unschuldige Menschen von Rechtsextremen ermordet, werden bei lebendigem Leibe verbrannt und ich soll noch an das Image der Stadt Solingen denken? Wer denkt denn an mich? Die Tage der Gedenkfeiern sind für mich sehr schmerzvoll, denn diesen Brandanschlag habe ich erlebt und solch ein Ereignis kann man niemals vergessen. Daher möchte ich, dass auch meine Kinder und die anderen Opfer nicht vergessen werden. Würden wir nicht an sie denken, würde es niemand von sich aus machen. Wenn die Deutschen, allen voran die Stadt, sagen: „Die Gedenkfeiern sollten nicht mehr stattfinden. Es macht sie doch nur noch traurig«, ist das nicht aus Mitgefühl uns gegenüber, sondern viel mehr möchten sie die Sache begraben und denken dabei an ihr Image. Dass am 29. Mai in Solingen fünf Menschen umgekommen sind, wissen die Jugendlichen und Schüler gar nicht, die meisten kennen nicht einmal den Grund. Der deutsche Staat sollte seine Jugendlichen über diesen Brandanschlag mit extrem rechtem Motiv erst einmal aufklären, damit sie die Wahrheit erfahren und nicht auf die falsche Spur geraten. Es müssten alle aufgeklärt werden, damit kein anderer Mensch noch einmal solch einen Schmerz erleiden muss. Deshalb hatte ich dir auch gesagt, dass das Thema in die Unterrichtsmaterialien aufgenommen werden müsste. Die jungen Leute müssen im Unterricht über Rassismus und Rechtsextremismus aufgeklärt werden. Wenn man die Kinder über die Geschehnisse von Solingen und Mölln nicht unterrichtet, woher sollen sie es denn erfahren? Woran können sie sich ein Beispiel nehmen? Durch Hörensagen und falsche Informationen wird ihr Hass auf Türken noch größer werden. Solange man das nicht macht, werden sich Nazis und das rechtsextremistische Gedankengut verbreiten. Denn die Kinder kennen die Wahrheit nicht.
Dann gibt es noch die Aussage der Türkeistämmigen: „Ich hätte das Haus, auf das der Brandanschlag verübt wurde, als Symbol für die Deutschen stehen gelassen.“ Es gab viele, die das sagten. Jedes Mal, wenn ich an diesen Ort gehe und dieses Haus in seinem abgebrannten Zustand sehen würde, würde ich das gleiche Trauma erneut durchleben. Obwohl das Haus dort nicht mehr steht, erscheint mir immer wieder all das vor Augen, was ich durchlebt habe. Diese Gerüchte haben sich innerhalb von zweieinhalb Monaten verbreitet. Das Haus an der Unteren Wernerstraße hatte man schon zu dieser Zeit komplett abgerissen. Es war also nicht mehr viel übrig. Die Gerüchte gingen in dieser Zeit los. Ab dann fragten sie uns immer: „Warum wurde das Haus so schnell abgerissen?“ Irgendwann hätte man es sowieso abgerissen, aber wir wollten selbst, dass man es abreißt. Jedes Mal, wenn ich dieses Haus in dem Zustand sah, war ich am Boden zerstört. Ich muss dort doch immer wieder hin, sei es zu den Gedenkfeiern oder auch, wenn ich selbst einfach mal hingehen möchte. Ich stehe da und erinnere mich an mein altes Leben, an meine ganze Vergangenheit. Ich gehe hin, um nicht zu vergessen. Ich schaue mich überall um. Wieder und wieder lasse ich die Erinnerungen, eine nach der anderen, wie einen Film vor meinen Augen abspielen: „Dort hatten wir dieses Spiel gespielt, hier hatten wir jenes gemacht, da hatten wir das entdeckt …“ Dann sehe ich meine Kinder, was sie machten, wie sie waren und unsere Vergangenheit. Wenn ich dieses abgebrannte Haus jedes Mal sehen würde, würde mich es noch mehr verletzen. Deshalb wollten wir selbst, dass es abgerissen wird. Aber die Gerüchte sind kaum auszuhalten. Es wurde sogar noch behauptet, dass man daraus ein »Museum« machen wolle, aber dieses Museum und dessen Gerücht waren Erfindungen der deutschen Zeitungen. Eigentlich hatte die Stadt überhaupt nicht die Absicht. Man hat es gelesen, geglaubt und weitererzählt. Die Stadt hat uns lediglich gefragt, ob das Haus abgerissen werden oder stehen bleiben soll. Und wir haben gesagt: „Reißt es ab!“ Wir hatten den Wunsch, dass die Untere Wernerstraße in Genç-Straße umbenannt werden sollte. Aber die Stadt Solingen hat es abgelehnt und überhört. Außerdem wollten wir, dass das Mahnmal, das vor der Mildred-Scheel-Schule steht, an dem Ort aufgestellt werden sollte, wo der Brandanschlag auch stattfand. Man sagte uns, dass es dort keinen Platz gäbe, und ging nicht näher darauf ein. Die Stadt überhörte einfach unser Anliegen. Wir wollten nicht, dass das Mahnmal 1994 vor der Mildred-Scheel-Schule aufgestellt wird. Wir haben mit diesem Ort keinerlei Verbindung. Angeblich hätte „Hatice Genç diese Schule besucht“. Unsere Hatice war niemals auf dieser Schule. Wir haben vor zwei Jahren, als sogar noch Frau Şule im Konsulat war, zusammen mit dem Moscheevorsitzenden gesagt: „Dieses Mahnmal sollte an die Untere Wernerstraße, an den Ort, wo das Haus stand, dorthin, wo auch der Brandanschlag verübt wurde, gebracht werden.“ Wir haben es zwar gesagt, gehört hat uns aber niemand. Die Stadt hat das nicht interessiert. Ihre Antwort war: „Wenn es vor der Schule steht, verstehen es auch die jungen Leute.“ Wenn dem so ist, warum wissen denn die Schüler, die Schülerinnen und jungen Leute in Solingen nichts von diesem Brandanschlag? Dieses Mahnmal wird einmal im Jahr besucht. An dem Tag wird eben gebetet und man hält Ansprachen, als wenn alles in bester Ordnung wäre. Den Schmerz, den ich empfinde, kann dort niemand beschreiben. Sie machen sich auch noch die Mühe und verleihen die Auszeichnung „Silberner Schuh“, und alles ist perfekt. Und als ob das nicht genug wäre, hat man dort noch Musik gespielt. Deutsche können bei ihren Begräbnissen, in ihren Kirchen gern Musik spielen, dazu habe ich nichts zu sagen, aber nach meiner Religion wird bei solchen Ereignissen, an solchen Tagen niemals Musik gespielt. Mir war bei jedem Mal sehr unwohl dabei. Wir hatten das zwar mitgeteilt, aber von der Stadt fühlte sich niemand angesprochen. Eines Tages, bei einem Gespräch mit dem Oberbürgermeister, dem Moscheevorsitzenden und einigen Angestellten der Stadt habe ich mein Anliegen letztendlich offen ausgesprochen. Ich sagte: »Diese Musik und die Auszeichnung mit dem „Silbernen Schuh“ möchte ich nicht an unseren Gedenkfeiern haben. Wenn Sie weiterhin Musik spielen, werde ich an der Gedenkfeier nicht teilnehmen.“ Daraufhin wurde dies aus dem Programm gestrichen. Zwar können sie uns gegenüber nicht Nein sagen, aber ihre Gesten sagen es aus und wir bemerken das. Unsere Anliegen erledigen sie nur oberflächlich. Je beharrlicher wir sind, desto desinteressierter reagiert die Stadt.
Nach dem Brandanschlag auf euer Haus kehrten einige aus Solingen und Umgebung aus Angst in die Türkei zurück. Mein Onkel und mein Vater kamen 1968 als Gastarbeiter nach Solingen. Einige Monate nach dem Brandanschlag wanderte mein Onkel mit seiner Familie in die Türkei aus und kehrte nie wieder nach Deutschland zurück. Meine Familie zog eine Rückkehr aufgrund rassistischer und extrem rechter Gewalt auf keinen Fall in Betracht. Hatice Abla, hast du nach dem Brandanschlag je daran gedacht, in die Türkei zurückzukehren?
Genç: Ich hatte keinerlei solche Gedanken und wollte nie zurückkehren. Ich bin nicht in Deutschland geboren, aber ich habe meine Jugend, meine Ehezeit hier verbracht, meine Kinder sind hier geboren. Außerdem wollte ich den Tätern und anderen Rechtsextremisten keinen Gefallen tun. Deshalb sagte meine Mutter: „Wir gehen nicht, mein Kind“, und war auch meiner Meinung. Warum sollten wir denn den Tätern und extrem Rechten einen Gefallen tun? Damit sie sich entspannt zurücklehnen und behaupten: „Wir haben sie verjagt.“ Ich wäre doch wieder die Leidtragende gewesen. Ich sagte: „Nein, wir gehen nicht und das werde ich auch niemals, ich bleibe bis zum Ende meines Lebens hier, bis ich sterbe.“ Das war ja auch die Absicht der Rechtsextremisten. Sie wollten mit solchen Brandanschlägen Türken nach und nach vertreiben. Sie wollten Türken, die aus der Türkei immigrierten Menschen und insbesondere die Muslime auf diese Art und Weise verängstigen und vertreiben. Nein, auch wenn ich Angst habe, werde ich nicht gehen. Meine Angst habe ich mir nie anmerken lassen. Als wir erfuhren, dass das Haus von Frau Sibel in Solingen in Brand gesetzt wurde, hatten Kâmil und ich sie besucht. Sie sagte zu mir: „Abla, ich habe große Angst. Ich mache mir sehr viele Gedanken darüber, ob ich denn nicht zurückkehren sollte.“ Ich ermutigte sie mit den Worten: „Bloß nicht! Wenn du das machst, lachen sich die Nazis ins Fäustchen. Du wirst nicht mit deinen Kindern zurückkehren.“
Was ging dir durch den Sinn, als du erfahren hast, dass in Solingen auf das Haus von Frau Sibel am 20. Oktober 2021 ein Brandanschlag verübt wurde?
Genç: Als ich das hörte, war ich sehr betroffen und ich dachte nur: „Hoffentlich ist niemand gestorben! Hoffentlich ist ihren Kindern nichts passiert!“ Diese Gedanken gingen mir ständig durch den Kopf. Ich hatte nur gehört, dass es ein Haus war, in dem Türken leben. Ich dachte: „Schon wieder Solingen?“, und konnte es nicht fassen. Es war wie ein Schlag und ich musste an all das denken, was ich selbst durchlebt hatte. Und dann kamen wieder die gleichen Fragen auf: „Wer hat es getan? Warum ist das passiert? Was war der Grund?“ „Muslim.“ Ja, das ist die Antwort. Weil wir Muslime sind. Die meisten Deutschen mögen die Türken nicht.
Als wir von dem Ereignis erfuhren, nahmen wir sofort Kontakt mit Frau Sibel auf und haben ihr einen Besuch abgestattet. Sie wohnte in unserer Nähe. Die arme Familie, sie waren so verängstigt. Frau Sibel beklagte sich auch sehr über Stadtverwaltung Solingen. Wenn du hörst, „in Solingen wurde ein Brandanschlag auf ein Haus verübt“, denkst du unwillkürlich an das, was du selbst erlebt hast. Es geht uns ja eh nie aus dem Sinn. Wenn ich so etwas höre oder im Fernsehen einen Brand sehe, sei es auch nur eine Filmszene, kann ich nicht hinsehen. Wir schalten dann sofort ab. Solche Szenen halte ich nicht aus. Ich habe dann sofort wieder alles vor Augen. Es wühlt mich jedes Mal so sehr auf, dass ich tagelang keinen einzigen klaren Gedanken mehr fassen kann.
Es werden weiterhin Brandanschläge von extrem Rechten in Deutschland verübt. Was sollte man deiner Meinung nach dagegen tun?
Genç: Es gibt zwar das „Grundgesetz“ und die „Menschenrechte“, aber diese Rechte gelten nicht für alle in Deutschland. Sie gelten nicht für Migranten, die aus Nicht-EU-Ländern kommen, insbesondere bei Türken und Muslimen werden sie nicht angewandt. Wenn der Staat das Grundgesetz und Menschenrechte nicht achtet, sie nicht als oberstes Gut betrachtet, diese Gesetze nicht umsetzt und die Menschen nicht beschützt, wie soll es denn dann weitergehen? Solange der Staat und die Politiker keine Verantwortung übernehmen und das alles nicht verhindern, werden diese Angriffe nicht aufhören. Der Staat lässt die Täter gleich wieder frei und vertuscht sofort. Er sorgt nicht für richtige Aufklärung, indem er nach dem Kern, nach dem Ursprung sucht. Er will ihn ja gar nicht finden. Denn die Rassisten sind im Staat zu Hause und es werden immer mehr.
Ich sehe hier ein Defizit des Staates und der Gesetze. Denn wenn man bei solchen Brandanschlägen die Täter nur zu Strafen von drei oder fünf Jahren Haft verurteilt, kommt es den anderen Nazis gelegen. Dann vermehren sie sich auch. Diese Rassisten und extrem Rechten sollten so eine Strafe bekommen, dass sie sich nicht mal trauen, daran zu denken, anderen Menschen Schaden zuzufügen. Solange der Staat diese Lücken nicht schließt, werden sie auch bei jeder Gelegenheit versuchen, diese Lücken zu füllen. Sogar innerhalb der Polizei gibt es Rassisten und sie verhalten sich auch rassistisch. Wem sollen wir denn noch vertrauen? Existiert denn noch ein Vertrauen? Nein! Man muss jeden einzelnen dieser Rassisten innerhalb der Politiker und der Polizisten finden und aussondern. Ihr müsst sie für euren Staat, euer eigenes Volk und euer eigenes Wohlergehen ausfindig machen! Solange sich daran nichts ändert, werden sich die Rechtsgesinnten und Rassisten vermehren, nicht verringern. Rassismus ist keine Krankheit, sondern eine diskriminierende Ideologie! Gegen diese Ideologie und den Rassismus müssen insbesondere der Staat und die Politiker viel mehr unternehmen. Nur zu behaupten: „Wir sind keine Rassisten!“, reicht nicht aus.
Das Interview führte Birgül Demirtaş. Erstveröffentlichung im Sammelband: „Solingen, 30 Jahre nach dem Brandanschlag – Rassismus, extrem rechte Gewalt und die Narben einer vernachlässigten Aufarbeitung“.