Die Angst nach dem Brandanschlag von Solingen war groß: Menschen kauften Strickleitern, um im Ernstfall schnell aus Fenstern entkommen zu können, oder stellten Wassereimer bereit. Jetzt wurde an die Toten erinnert.
Mit einer bewegenden Gedenkveranstaltung ist an die Opfer des rassistisch motivierten Brandanschlags in Solingen vor 30 Jahren erinnert worden. „Es waren Solinger Kinder“, sagte der Oberbürgermeister der Stadt, Tim Kurzbach (SPD), am Montag mit Blick auf die Todesopfer. Am 29. Mai 1993 habe sich ein „Angriff auf die Menschlichkeit“ ereignet.
Vor 30 Jahren, am 29. Mai 1993, starben fünf türkische Mädchen und Frauen, als Rechtsradikale das Wohnhaus der Familie Genç anzündeten: Saime Genç (4), Hülya Genç (9), Gülüstan Öztürk (12), Hatice Genç (18) und Gürsün Ince (27). Der Anschlag gilt als eines der schwersten rassistischen Verbrechen in der Geschichte der Bundesrepublik.
Kurz nach der Tat waren vier junge rechtsradikale Solinger im Alter zwischen 16 und 23 Jahren festgenommen worden. Sie waren der rechten Szene zuzuordnen und wurden 1995 wegen Mordes verurteilt.
Rund 600 Menschen waren in das Theater und Konzerthaus der Stadt eingeladen worden. Die Gäste erhoben sich, als die Namen der fünf Toten verlesen wurden. Anwesend waren Vertreterinnen und Vertreter der Familien. Aus der Politik waren neben Steinmeier unter anderen Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), Agrarminister Cem Özdemir (Grüne) und Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) gekommen.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat einen wachsamen und wehrhaften Staat gegen rechten Terror gefordert. „Als Bundespräsident kann ich nicht dazu schweigen, in welchem Klima diese Anschläge gediehen sind“, sagte Steinmeier am Montag bei einer Gedenkveranstaltung in Solingen.
„Unmittelbar nach dem Brandanschlag waren hier in Solingen alle Strickleitern ausverkauft“, erinnerte Steinmeier. „Die Menschen hatten Angst, sich im Notfall sonst nicht mehr aus dem oberen Stockwerk ihres Hauses retten zu können. In den Wohnungen standen damals Wassereimer bereit, um bei einem Feuer schnell löschen zu können. An den Klingelschildern und Briefkästen wurden alle fremd klingenden Namen abmontiert.“
Viel zu lange habe das Land der Behauptung von den verblendeten Einzeltätern aufgesessen, sagte Steinmeier. Die Strukturen und die Ideologie der Täter seien lange ignoriert worden. „Ich spreche von Rechtsextremismus. Von Rassismus. Von Menschenfeindlichkeit.“
Rechtsextreme und Rassisten entmenschlichten den Einzelnen und verbreiteten damit Angst und Schrecken. „Ich nenne das: Terror. Dieser rechte Terror ist verantwortlich für die Toten hier in Solingen. Diesen rechten Terror gab es vor Solingen, und es gibt ihn nach Solingen“, sagte der Bundespräsident.
„Ich bin fassungslos, wenn ich höre, dass einzelne Angehörige von Sicherheitsbehörden, die rechtsextreme Anschläge verhindern sollen, sich in rechten Chatgruppen organisieren. Das können und das dürfen wir nicht dulden“, forderte Steinmeier.
„Auch 30 Jahre nach der grausamen Tat von Solingen sind wir noch immer fassungslos, zornig, traurig“, sagte Steinmeier. Aber: Wir sind nicht eingeschüchtert, nicht hilflos, nicht tatenlos.“
„Wichtig ist in solchen Situationen immer, dass sich die Politik geschlossen gegen diese rassistische Stimmung stellt“, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), die ebenfalls nach Solingen gekommen war.
„Der 29. Mai ist einer der dunkelsten Tage in der Geschichte unseres Landes“, sagte NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU). „Es war ein Anschlag, begangen aus Hass. Wie kann jemand Hass auf eine Vierjährige haben?“
Solingens Bürgermeister Tim Kurzbach (SPD) erinnerte an die Worte der im vergangenen Oktober gestorbenen Mevlüde Genç, die bei dem Anschlag mehrere Familienmitglieder verlor: „Der Tod meiner Kinder soll uns dafür öffnen, Freunde zu werden.“ In der Stadt war am Sonntag ein Platz nach der Bundesverdienstkreuzträgerin benannt worden.
An der Gedenkveranstaltung nahmen neben Bundes- und Landesministern, der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) und dem Landtagspräsidenten André Kuper (CDU) auch die überlebenden Familienmitglieder und Angehörige der Todesopfer teil.
Schließlich ergriff eine Enkelin von Mevlüde Genç am Ende der Veranstaltung das Wort: Ihre Großmutter habe Deutschland nach dem Anschlag nicht verlassen, sondern zu Liebe und Besonnenheit aufgerufen und bewusst die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt, sagte Özlem Genç.
„Der Hass bringt den Tod“, habe ihre Großmutter gesagt und so den triumphalen Sieg des Guten über das Böse verkörpert. Man müsse sich heute aber auch fragen, ob die laute Minderheit das Problem sei, die das Internet mit Hass überflute, oder die breite Mehrheit, die nicht in der Lage sei, das Richtige zu sagen. (dpa/KNA/iQ)