Antimuslimischer Rassismus

Der Name „Marwa El-Sherbini“ ist in der Gesellschaft unbekannt

Marwa El-Sherbini ist für Muslime ein Symbol für den Kampf gegen antimuslimischen Rassismus. Doch die große Mehrheit hat den Namen noch nie gehört. Umso wichtiger ist es, den Kampf gegen antimuslimischen Rassismus auf allen Ebenen fortzusetzen. Ein Gastbeitrag von Özlem Nas.

01
07
2023
Marwa El-Sherbini

Rassismus ist eine Realität, die in vielen Gesellschaften existiert und die Lebensqualität unzähliger Menschen, die als „Anders“ markiert werden, beeinflusst. Antirassismus bedeutet, sich aktiv gegen Rassismus einzusetzen: individuell, strukturell und institutionell. Um dieser Herausforderung gerecht werden zu können, sind Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen erforderlich. Neben individuellen Bemühungen ist auch eine institutionelle Veränderung notwendig, um rassistische Strukturen zu erkennen und abzubauen.

Obgleich Rassismus für viele Menschen nicht deutscher Herkunft eine Alltagsrealität darstellt, werden rassistische Vorfälle selten gemeldet oder angezeigt. Bundesweit gibt es keine ausreichenden Beratungs- oder Meldestellen für   Betroffene von antimuslimischem Rassismus (vgl. Kurzstudie CLAIM, 2021). Als stellvertretende Vorsitzende und Antirassismusbeauftragte der Schura, dem Rat Islamischer Gemeinschaften in Hamburg, habe ich die Meldestelle Marwa – für Betroffene von antimuslimischem Rassismus initiiert.

Marwa El-Sherbini und ihr unbekanntes Schicksal

Marwa El-Sherbini ist für alle Muslime ein Symbolbild für antimuslimischen Rassismus. Sie wurde am 1. Juli 2009 von einem Rassisten ermordet. Sie hatte die Beschimpfung als „Islamistin“, „Terroristin“ und „Schlampe“ auf einem Dresdner Spielplatz im Beisein ihres dreijährigen Sohnes nicht hingenommen und Anzeige erstattet. Im Prozess äußerte der Angeklagte, dass man „solche Leute“ nicht beleidigen könne, da sie keine „richtigen Menschen“ wären. Er griff die im dritten Monat schwangere Marwa El-Sherbini im Gerichtssaal an und ermordete sie mit 16 Messerstichen. Als ihr Ehemann ihr zu Hilfe eilen wollte, wurde auch er mit Messerstichen lebensgefährlich verletzt und zusätzlich von einem Polizisten angeschossen, der ihn für den Angreifer hielt. Der dreijährige Sohn wurde Zeuge, wie seine Mutter verblutete und sein Vater angeschossen wurde. Laut Staatsanwaltschaft handelte es sich hier um einen Einzeltäter. Alleine dieses Szenario sagt sehr viel über das Narrativ „der Muslime als Fremde“ aus.

Wenn ich in meiner Funktion als Fortbildnerin für Lehrkräfte nachfrage, ob sie wissen, wer Marwa El-Sherbini war, entspricht es der traurigen Realität, dass die große Mehrheit den Namen noch nie gehört hat. Antimuslimischer Rassismus, die Opfer, die Auswirkungen auf die Lebensrealität von Muslimen ist den allerwenigsten Menschen, die keine Rassismuserfahrungen machen müssen, bekannt. Antimuslimischer Rassismus wird weitestgehend von der Politik und den Medien nicht ernst genommen und angegangen.

Wir finden ein Klima der Relativierung vor, wenn es um „die Muslime“ und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit geht. Das Narrativ „der Muslime als Fremde, als potenzielle Täter, als frauenfeindliche, antisemitische, homophobe und demokratiefeindliche“ Gruppe wird breitflächig bedient, während antimuslimische Vorfälle weitestgehend unsichtbarer werden. Daher ist es nicht verwunderlich, dass bei meinen Fortbildungen oder in Dialoggesprächen, die ich führe, weder der Name Marwa El-Sherbini bekannt ist, noch Umfang und Auswirkungen von antimuslimischem Rassismus.

Maßnahmen gegen eine bewusste Auseinandersetzung mit Rassismus

Für eine bewusste Auseinandersetzung mit Rassismus gibt es eine Reihe von Maßnahmen, die in ihrer Gesamtheit angewendet, zu rassismuskritischer und diversitätssensibler Kompetenz beitragen und das Bewusstsein sowie die Handlungskompetenz individuell, institutionell und strukturell für Antirassismus schärfen. Zu diesen gehört der Wissenserwerb, der z.B. durch Medien, Bildungsprogramme, Workshops, Schulungen und Veranstaltungen erfolgen kann und einen elementaren Baustein bei der Sensibilisierung für Rassismus darstellt. Hierzu gehört insbesondere auch die Auseinandersetzung mit der historischen Verwurzelung von Rassismus, denn die tiefen Spuren von Rassismus in der Geschichte und Kultur Europas sind nicht nur ein Kapitel der Vergangenheit, sie haben Auswirkungen hinterlassen, die bis in unsere Gegenwart reichen. Nachwirkungen des Kolonialismus, des Sklavenhandels, der NS-Zeit oder des „Orients“ als Projektionsfläche für Rassismus sind in den sozialen Strukturen und Machtverhältnissen vieler europäischer Gesellschaften noch immer zu spüren.

Studien belegen (z.B. Leipziger Autoritarismus Studie, Religionsmonitor-der Bertelsmann Stiftung, Rassismus-Monitor des DeZIM, „Mitte“-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Vielfaltsbarometer der Robert Bosch Stiftung), dass rassistische Vorurteile und Diskriminierung in der Mitte der Gesellschaft verankert und nicht nur am „rechten Rand“ zu finden sind. Rassistische Denkmuster weisen eine Kontinuität auf, die im Hinblick auf vergangene und gegenwärtig existente rassistische Strukturen und Praktiken reflektiert werden müssen.

Beim Wissenserwerb ist es wichtig, Quellen und Filterblasen zu beachten. Medien spielen eine wichtige Rolle bei der Formung von Meinungen und Einstellungen. Sie sollten kritisch hinterfragt werden. Es ist wichtig, dass die Medienkompetenz eines jeden Einzelnen gefördert wird, um stereotypisierende Darstellungen und rassistische Berichterstattung zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken. Zum Wissenserwerb gehört auch die Kenntnis der Rechtslage im Themenbereich Rassismus.

Eigenen Rechte kennen und anwenden

Die Kenntnis der eigenen Rechte ist wichtig für die Sprachfähigkeit, um sich aktiv an demokratischen Prozessen zu beteiligen, in politischen Diskursen einzubringen, Forderungen an politische Entscheidungsträger/innen zu stellen und an der Gestaltung von Maßnahmen zur Bekämpfung von Rassismus teilzuhaben. Durch das Wissen um die eigenen Rechte kann strukturelle Veränderungen angestoßen, auf bestehende Diskriminierungsmuster und -praktiken hingewiesen und auf Reformen von Gesetzen, Richtlinien und Verfahren hingewirkt werden. Indem man die gesetzlichen Bestimmungen und Schutzmechanismen (AGG) kennt, kann man Diskriminierungsfälle identifizieren und Schritte unternehmen, sei es durch das Einreichen einer Beschwerde, das Anstreben rechtlicher Schritte oder die Inanspruchnahme von Unterstützungsleistungen.

Weitere wichtige Maßnahmen stellen Interaktion, Kooperation und Vernetzung dar. Hierfür prädestiniert ist der Dialog und Austausch auf Augenhöhe. Der offene, respektvolle Dialog kann dazu beitragen, Stereotypen ab- und Solidarität aufzubauen. Dies kann durch persönliche Gespräche, gemeinsame Veranstaltungen, Projekte und Zusammenarbeit mit diversen Gemeinschaften erreicht werden. Hierbei ist die Nachhaltigkeit solcher Interaktionen und Kooperation notwendig, da Veränderung von Kontinuität lebt.

Zudem ist auch die Selbstreflexion eine wichtige Maßnahme, um eigene Vorurteile, Privilegien und Verhaltensweisen zu erkennen und zu hinterfragen. Sie gilt als ein zentraler Aspekt für Antirassismus und sollte als fortlaufender Prozess umgesetzt werden. Die Auseinandersetzung mit eigenen Vorurteilen und Privilegien kann Perspektivwechsel und Empathie fördern und zu neuen Perspektiven führen. Zur antirassistischen Selbstreflexion gehört auch die Anerkennung des eigenen Privilegs für Zugehörige der Dominanzgesellschaft, denen es möglich ist, Rassismus zu ignorieren oder zu übersehen. Ein Bewusstsein über eigene Privilegien ist förderlich für Power-Sharing und die Solidarität als Verbündete (Allyship) gegen Hass und Ungleichbehandlung. Denn Antirassismus braucht eine breite gesellschaftliche Bewegung. Indem nicht betroffene Menschen aktiv gegen Rassismus vorgehen, können sie dazu beitragen, Einstellungen zu ändern und eine Kultur des Respekts und der Gleichwertigkeit zu fördern. Indem alle Mitglieder einer Gesellschaft Verantwortung übernehmen, kann ein nachhaltiger und effektiver Wandel erreicht und der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt werden.

Politische und strukturelle Maßnahmen

Das Bewusstsein und die Sensibilisierung auf struktureller und institutioneller Ebene für Rassismus und seine Auswirkungen sowie das Entwickeln und Ergreifen von Maßnahmen spielen ebenso eine wichtige Rolle für eine antirassistische Gesellschaft. Daher braucht es neben Maßnahmen auf individueller Ebene auch Maßnahmen für strukturelle und systemische Dimensionen von Rassismus, bei denen in der Gesellschaft existente Machthierarchien und Privilegien eine wichtige Rolle spielen. Um nachhaltige Veränderungen zu erreichen, sind politische und strukturelle Maßnahmen zwingend notwendig. Zu diesen Maßnahmen gehören antirassistische gesetzliche Rahmenbedingungen, die rassistische Diskriminierung in allen Bereichen des Lebens verbieten. Diese Gesetze müssen klare Definitionen von rassistischer Diskriminierung enthalten und angemessene Sanktionen für Verstöße vorsehen. Zudem ist es wichtig, dass Ressourcen bereitgestellt und Programme entwickelt werden, um Rassismus zu bekämpfen und eine gleichberechtigte Teilhabe zu fördern. Insbesondere der bundesweite Mangel an Beratungs- und Meldestellen für Betroffene von (antimuslimischem) Rassismus muss durch die Bereitstellung von Ressourcen behoben werden.

Eine weitere wichtige Maßnahme ist die Förderung von Vielfalt innerhalb der Institutionen und politischer Strukturen. Es muss sichergestellt werden, dass Menschen unterschiedlicher Hintergründe gleiche Chancen und Repräsentation haben. Dies kann durch die Implementierung von Programmen zur gerechten Rekrutierung und Beförderung und die Schaffung von inklusiven Arbeits- und Lernumgebungen erreicht werden. Schulungen und Sensibilisierungsprogramme für Mitarbeitende sind wichtige Maßnahmen, um Vorurteile und Stereotypen abzubauen und ein Bewusstsein für rassistische Strukturen und ihre Auswirkungen zu schaffen. Bestehende Richtlinien und Praktiken müssen kritisch überprüft und überarbeitet werden, um sicherzustellen, dass sie rassistische Voreingenommenheit nicht unterstützen oder verstärken.

Die Einrichtung von Beschwerdeverfahren ist eine weitere wichtige Maßnahme, um rassistische Vorfälle und Diskriminierung zu melden, zu untersuchen und angemessen darauf zu reagieren. Dies sollte durch unabhängige Stellen oder die Einbeziehung von externen Experten erfolgen. Da Medien eine wichtige Rolle bei der Schaffung von Bewusstsein und der Bekämpfung von rassistischen Stereotypen spielen, stellt es eine wichtige antirassistische Maßnahme dar, dass Politik und Institutionen mit Medien zusammenarbeiten, die eine diversitätssensible und rassismuskritische Berichterstattung pflegen. Als ein nennenswertes Beispiel sei aufgeführt, dass der ehemalige Innenminister Friedrich die von seinem Ministerium in Auftrag gegebene Studie über die Integrationsbereitschaft junger Muslime noch vor der Veröffentlichung an die Bild-Zeitung gegeben hatte und die Studie derart verzerrt dargestellt wurde, dass weder die Autor/innen noch die Befragten sich darin wiederfinden konnten (vgl. Amirpur 2015).

Als letzte Maßnahme möchte ich die Bedeutung von Partnerschaften hervorheben. Institutionen sollten mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, NGOs, MSOs, Wissenschaftler/innen, Religionsgemeinschaften und anderen relevanten Partnern zusammenarbeiten, um bewährte Verfahren auszutauschen, Ressourcen zu bündeln und gemeinsam gegen Rassismus vorzugehen. Durch Partnerschaften können innovative Ansätze entwickelt und eine breitere gesellschaftliche Bewegung für Antirassismus geschaffen werden.

Aktiv gegen Rassismus vorgehen

Neben staatlichen, institutionellen und gesellschaftlichen Akteur/-innen spielen auch Religionsgemeinschaften eine wichtige Rolle und können wichtige Zeichen des Friedens und der Verständigung setzen, wenn es um die Sensibilisierung gegen Rassismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit geht. Es liegt in ihrer Verantwortung Maßnahmen zu ergreifen und sich aktiv für Antirassismus einsetzen, ganz gleich, ob es sich um antimuslimischen Rassismus, Rassismus gegen Sinti und Roma, antijüdischen, antischwarzen, antiasiatischen Rassismus, oder Rassismus gegenüber einer anderen Gruppe handelt. Die Aufgabe, aktiv gegen Rassismus vorzugehen, liegt nicht einzig bei den Betroffenen, sie ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Halle, Hanau, Solingen, Mölln, NSU, Marwa … – Rassistische Morde sind ein gesamtgesellschaftliches Problem und erfordern kontinuierliche Anstrengung und Engagement auf allen Ebenen der Gesellschaft.

Leserkommentare

grege sagt:
Auch bei diesem Thema informiert islamiq.de wieder einmal sehr selektiv. Über solche Vorfälle, wie den Mord an die Muslimin wird mehrfach berichtet, der Mord an einen homosexuellen Touristen in derselben Stadt ist von islamiq trotz mehrfacher Aufforderung bisher beharrlich verschwiegen worden.
07.07.23
20:13