Emir Suljagić ist Überlebender des Genozids von Srebrenica. Im IslamiQ-Interview spricht er über die Folgen des Genozids und die aktuelle Lage in Bosnien.
IslamiQ: Wie hat sich das Gedenken an Srebrenica über die Zeit entwickelt und welche Rolle spielt die Gedenkstätte Srebrenica (Srebrenica Memorial Center) in diesem Prozess?
Emir Suljagić: Als die Gedenkstätte Srebrenica gegründet wurde, war sie als Friedhof gedacht. Sie sollte als ein Ort dienen, an dem bosnischen Muslime ihre Liebsten begraben und mindestens einmal im Jahr hierherkommen konnten, um sich die Augen auszuweinen und dann wieder zurückzukehren. Die Grabstätte entstand durch die schiere Kraft der militärischen Präsenz der NATO-Truppen und die Entschlossenheit und der unermüdliche Einsatz einer Gruppe von Frauen, die die gesamte internationale Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina dazu brachte, ihnen ein Grundstück für die Beerdigung ihrer Söhne, Brüder und Väter zuzuweisen. Damals war das die Definition von Erfolg. Wir mussten buchstäblich darum kämpfen, damit wir unsere Liebsten beerdigen konnten. Lange Zeit wurde die gesamte Gedenkstätte wie ein Friedhof behandelt. Ferner wurde sie lange Zeit direkt oder indirekt von der internationalen Gemeinschaft verwaltet.
Als ich 2019 nach Srebrenica kam, haben wir beschlossen, die Einrichtung zu erweitern: Sie beinhaltet nun Ausstellungen, Archive, eine Bibliothek und die Ressourcen für diejenigen, die hierherkommen und über den Genozid in Bosnien recherchieren möchten. Ich denke, wir waren sehr erfolgreich darin, die Gedenkstätte Srebrenica auch international bekannt zu machen.
Ich glaube nicht, dass Bosnien oder Srebrenica als ein Teil der europäischen Geschichte betrachtet wurde bzw. heute noch betrachtet wird. Es besteht kein Interesse, die Geschehnisse während des Zerfalls des ehemaligen Jugoslawiens hinsichtlich der europäischen Verantwortung aufzuarbeiten. Die gesamten Erfahrungen der Menschen in Bosnien sowie in Srebrenica werden mehr oder weniger als eine Fußnote der europäischen Geschichte betrachtet.
IslamiQ: Können Sie die verschiedenen Aktivitäten und Veranstaltungen beschreiben, die am Srebrenica-Gedenktag stattfinden? Wie tragen Sie dazu bei, das Bewusstsein für den bosnischen Völkermord zu schärfen?
Suljagić: Ich möchte mit meiner Arbeit dazu beitragen, dass die Geschichte Bosniens in den 1990er-Jahren wieder im Zentrum steht. Wir sollten uns nicht länger von außen definieren lassen. Unsere Erfahrungen sind ein legitimer Teil der europäischen Geschichte. Es gibt wenige Dinge, die so europäisch sind wie die Behandlung von ethnischen, nationalen, Rassen- und religiösen Minderheiten, wie sie in den 90er-Jahren die bosnischen Muslime erleben mussten. Niemand darf die Geschehnisse auf eine spezifisch balkanische oder bosnische Besonderheit zurückführen, hier ist kein Platz für alten Hass. Der Völkermord in Bosnien war sehr modern; sehr mechanisiert und in seiner ideologischen Einstellung völlig europäisch.
Seit 1878 ist unsere Existenz an eine ständige Verhandlung über das politische und rechtliche System gebunden, das die Muslime in Bosnien und Europa akzeptieren müssten, um als vollwertige Europäer zu gelten. Selbst dreißig Jahre nach dem Völkermord wird unser „Europäischsein“ noch immer kritisch hinterfragt. Es gibt einen bestimmten Typus europäischer Intellektueller, der immer noch den Anspruch erhebt, uns definieren zu können, und diese intellektuelle Aufgeblasenheit wird langsam ermüdend.
Ich verbringe einen Teil meiner Zeit damit, Vorträge über Srebrenica und Bosnien zu halten, sowohl zu Hause als auch außerhalb des Landes. Es gab nie Probleme, wenn ich meine persönliche Geschichte erzählt habe, aber der Moment, in dem ich sage, dass meine Geschichte die Erfahrungen einer ganzen Gemeinde, einer ganzen Nation widerspiegelt, die mit physischer Vernichtung konfrontiert war, begannen die Leute zu bemerken, dass ich in der Tat ein Muslim bin.
Islamfeindlichkeit ist einer der Schlüsselbestandteile der europäischen Ignoranz eines Völkermordes in ihrer Mitte in den 1990er-Jahren. Sie können uns also nicht vorschreiben, wie wir unsere Erfahrungen zu definieren haben.
Dieses Jahr haben wir mit unseren Freunden und Partnern vom Jüdischen Weltkongress eine besonders wichtige Konferenz zur kollektiven Erinnerung an Srebrenica geplant. Wir werden diese Gelegenheit nutzen, um zu lernen, wie an den Holocaust erinnert wird und uns davon inspirieren lassen. Wir werden außerdem nach Möglichkeiten suchen, wie wir die Erfahrungen von Srebrenica und Bosnien noch fester in die europäische Geschichte verankern können. An dem Horizont türmen sich dunkle Wolken und die Zugehörigkeit zu einer Minderheit ist nirgends in Europa ein gutes Gefühl. Wir sind Europäer. Wir werden versuchen, unsere Geschichte mit unseren eigenen Worten zu schreiben.
IslamiQ: Eine kurze Frage zu den Zahlen. Kennen Sie die Zahl der Massengräber, die bisher entdeckt wurden, und gibt es Anzeichen oder Prognosen, die auf weitere Massengräber hindeuten?
Suljagić: Bisher wurden mehr als 100 Massengräber gefunden. Wir sind nun in einer Phase, in der wir immer noch nach den sterblichen Überresten von weiteren 1000 Personen suchen. Jedoch gibt es eine Mauer der Stille, eine Mauer der Verleugnung, die dieses Thema umgibt und wir können sie nicht alle erreichen. Wir sind derzeit nicht in der Position, diese Massengräber ausfindig zu machen, um die Personen zu identifizieren und mit Würde begraben zu können. Niemand tut etwas, um uns dabei zu helfen. Der Genozid hat sich buchstäblich woanders hin verlagert.
IslamiQ: Gibt es Kriegsverbrecher, die noch auf freiem Fuß sind und für ihr Handeln noch nicht vor Gericht gestellt wurden?
Suljagić: Ich lebe in Bratunac, eine kleine Stadt bei Srebrenica, und wenn ich rausgehe, treffe ich auf Menschen, von denen ich weiß, dass sie an der Genozid-Operation im Juli 1995 beteiligt waren. Ich treffe sie auf der Straße an. Ich habe mit einem von ihnen vor einem Supermarkt „abgehangen“. Er ist jetzt Familienvater.
Die Gedenkstätte Srebrenica ist eine einzigartige Institution. Wir sind einzigartig, weil diese Institution hauptsächlich von Überlebenden betrieben wird. Wir sind alle Überlebende des Völkermordes und wir arbeiten immer noch in einem Umfeld, das von Individuen definiert wird, die entweder persönlich und direkt am Völkermord beteiligt waren oder die eine unterstützende Funktion während des Völkermordes von Srebrenica hatten. Und wir arbeiten mit einer lebenden Geschichte. Die Geschichte, mit der wir uns beschäftigen, ist immer noch lebendig. Auch sind die Zeugen noch am Leben und die Täter und Anstifter ebenfalls. Wir kämpfen im wahrsten Sinne des Wortes, um unser Recht, die Worte zu benutzen, die wir benutzen möchten, um unsere eigenen Erfahrungen zu beschreiben.
IslamiQ: Einige Menschen, darunter auch öffentliche Persönlichkeiten, leugnen oder relativieren den Völkermord in Bosnien. Wie gehen Sie damit um?
Suljagić: Nur wenige Wochen zuvor hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Artikel veröffentlicht, der den Genozid in Srebrenica mit der Hinrichtung von Nazi-Kollaborateuren nach dem Zweiten Weltkrieg und dem sogenannten Massaker von Bleiburg verglich. Darin hat ein deutscher Journalist behauptet, dass die Opfer der Nazi-Kollaborateure dasselbe Recht haben, erinnert zu werden. Nazi-Kollaborateure, die zehn Tausende von jugoslawischen Juden und anderen Minderheiten getötet haben, werden mit Srebrenica verglichen.
IslamiQ: Konnten die Menschen, die den Genozid in Bosnien und den umgebenden Regionen direkt miterlebt haben, die Traumata, die sie erlitten haben, überwinden oder verarbeiten? Wie geht die bosnische Diaspora mit diesem Thema um?
Suljagić: Unsere Diaspora ist eine junge Diaspora. Sie existiert seit weniger als 30 Jahren. Sie beginnen gerade erst auf eigenen Beinen zu stehen. Eine neue Generation von bosnischen Muslimen ist aufgewachsen und wurde auf westlichen Universitäten ausgebildet. Diese jungen Menschen sprechen Deutsch, Französisch und Englisch. Sie werden als Mitglieder ihrer Gesellschaften anerkannt und ich denke, dass es sich in dieser Hinsicht noch verbessern wird. Die Stimme unserer Diaspora wird stärker und lauter werden.
Zum Thema Genozid muss ich gestehen, dass wir alle daran gescheitert sind, den Überlebenden psychosoziale Hilfe anzubieten. Viele Menschen leiden noch immer an den psychologischen Folgen und erleben Trauma. Insbesondere, weil sie immer noch in einem Umfeld leben, in dem die Exitenzbedrohung nachweislich präsent ist.
IslamiQ: Wie würden Sie die aktuelle Lage in Bosnien und Herzegowina einschätzen? Inwieweit glauben Sie, existiert noch das Konfliktpotenzial, und wie sehen die Aussichten für ein friedliches Zusammenleben der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen aus?
Suljagić: Die internationale Gemeinschaft muss verstehen, dass Bosnien der Schlüssel zum Frieden im Balkan ist, und nicht Serbien oder Kroatien. Es ist wichtig, dass die Probleme in Bosnien gelöst werden, um einen nachhaltigen und langfristigen Frieden in der gesamten Region zu erreichen. Bosnien ist das Gegenteil von Las Vegas. Was in Vegas passiert, bleibt in Vegas, aber was in Bosnien passiert, bleibt nie in Bosnien. Es neigt dazu, überzuschwappen.
Die Vorstellung, dass Bosnien irgendwie befriedet werden kann, indem man Serbien und Kroatien Spielraum gibt, sich in die bosnischen Angelegenheiten einzumischen – und wir sehen das jetzt, wir sehen diesen Prozess, während wir hier sprechen – ist eine Illusion. Eine Illusion, die nur zu noch mehr Gewalt führen wird. Denn nach 100.000 Toten werden wir niemals akzeptieren, dass Belgrad und Zagreb das Recht haben, sich in Bosnien einzumischen und uns vorzuschreiben, wie wir zu leben haben.
Das Interview führte Enes Bayram.