Organspende

„Jeder Mensch sollte anderen in Notlagen beistehen“

Seit Jahren wird in Deutschland über die Einführung einer Widerspruchsregelung zur Organspende diskutiert. Im IslamiQ-Interview erklärt der Theologe Idris Nassery, wie die Regelung aus islamisch-ethischer Perspektive zu bewerten ist.

15
07
2023
0
Jun.-Prof. Dr. Idris Nassery über die Organspende © Paderborner Institut für Islamische Theologie
Jun.-Prof. Dr. Idris Nassery über die Organspende © Paderborner Institut für Islamische Theologie

IslamiQ: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach will die Organspende neu regeln und damit die Widerspruchsregelung in Deutschland einführen. Demnach soll jeder Bürger automatisch ein Spender werden. Was halten Sie von dieser Regelung? 

Jun.-Prof. Dr. Idris Nassery: Die Einführung der Widerspruchsregelung zur Organspende in Deutschland ist zweifellos eine komplexe und kontroverse Frage von großer Bedeutung angesichts des erheblichen Ungleichgewichts zwischen der Nachfrage und dem Angebot an Spenderorganen. Diese Thematik erfordert höchste Sensibilität und die Berücksichtigung unterschiedlicher Sichtweisen.

Die Widerspruchsregelung hätte den klaren Vorteil, die Anzahl der verfügbaren Organe zu erhöhen und somit mehr Leben zu retten. Durch diese Regelung würde die Bereitschaft zur Organspende automatisch steigen, da jeder Bürger aktiv widersprechen müsste, um nicht als Spender zur Verfügung zu stehen. Jedoch muss auch eine Diskussion über mögliche Auswirkungen auf die Selbstbestimmung und Freiheit des Einzelnen geführt werden. Kritiker argumentieren, dass der Körper und die Organe persönliches Eigentum darstellen und dass der Staat nicht ohne ausdrückliche Zustimmung in diese Privatsphäre eingreifen sollte. Daher ist es von großer Bedeutung, rechtliche Bedingungen zu klären und kulturelle Normen sowie ethische Überlegungen einzubeziehen, wenn eine Widerspruchsregelung eingeführt wird. Transparenz und umfassende Aufklärung der Öffentlichkeit sind entscheidend, um Vertrauen und Akzeptanz zu gewährleisten, wie dies bereits in Frankreich und Spanien vor der Einführung der Widerspruchsregelung zur Organspende erfolgreich praktiziert wurde.

Persönlich halte ich die Einführung der Widerspruchsregelung grundsätzlich für positiv. Angesichts der dringenden Notwendigkeit, die Verfügbarkeit von Spenderorganen zu erhöhen und Leben zu retten, erscheint dies als vielversprechender Ansatz. Dennoch müssen alle Bedenken hinsichtlich der individuellen Selbstbestimmung und des Schutzes der Privatsphäre sorgfältig berücksichtigt werden. Eine umfassende und sachliche Diskussion mit allen relevanten Akteuren, einschließlich muslimischer Fachtheologen, ist von entscheidender Bedeutung, um eine Regelung zu finden, die sowohl die Bedürfnisse der Organempfänger als auch die Rechte und Freiheiten der Bürger respektiert.

IslamiQ: Wie kann man aus ethischer Sicht rechtfertigen, dass man einen moralischen Akt zu einem Automatismus macht? 

Nassery: Ethik umfasst eine Vielzahl von Ansätzen, die in Verbindung mit individuellen Überzeugungen stehen und von kulturellen Normen abhängig sind. Daher ist es unerlässlich, die Frage aus unterschiedlichen ethischen Perspektiven zu betrachten. Von utilitaristischer Seite kann die Einführung einer Widerspruchsregelung gerechtfertigt werden, wenn dadurch die Anzahl verfügbarer Organe erhöht wird und somit mehr Menschenleben gerettet werden können. In dieser Sichtweise wird der Automatismus als ein Mittel betrachtet, das dem Zweck dient, das Wohl der Gesellschaft insgesamt zu maximieren. Aus deontologischer Perspektive kann die Widerspruchsregelung als eine Verpflichtung angesehen werden, da sie notwendig ist, um anderen Menschen zu helfen und Leben zu retten. Hierbei steht insbesondere die Verantwortung im Fokus, dass jeder Mensch ein moralisches Gewissen hat und anderen in Notlagen beistehen sollte.

Allerdings betonen einige ethische Ansätze das individuelle Recht und die Freiheiten einer Person. Kritiker argumentieren, dass eine Widerspruchsregelung das Recht auf Selbstbestimmung einschränkt, da der Körper und die Organe eines Menschen zum staatlichen Eigentum werden. Dennoch kann hier auch ein Gegenargument vorgebracht werden, nämlich dass das Recht auf Leben und Gesundheit stets Vorrang hat. Durch die Einführung einer Widerspruchsregelung könnte die Chance erhöht werden, Leben zu retten.

Die Rolle der Angehörigen spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Wenn potenzielle Spender nicht schriftlich festgelegt haben, was mit ihren Organen geschehen soll, wenn ihre Hirnfunktion ausfällt, müssen Familienmitglieder den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen respektieren oder eine eigene Entscheidung treffen und damit die Last der Entscheidung für den Rest ihres Lebens tragen. In vielen Fällen lehnen Angehörige eine Organentnahme ab. Daher ist es meiner Ansicht nach unerlässlich, diese verschiedenen ethischen Perspektiven und die Bedeutung der Rolle der Angehörigen in die Diskussion einzubeziehen, um eine ausgewogene Lösung zu finden. Eine solche Lösung sollte die Rechte und Freiheiten der Einzelpersonen berücksichtigen, aber auch das Ziel verfolgen, Leben zu retten und den Bedarf an Spenderorganen zu decken.

IslamiQ: Gibt es bestimmte islamisch theologisch-normative Regelungen oder Grenzen, die die moderne Medizinethik im Hinblick auf die Organspende herausfordern? 

Nassery: Die islamisch-theologischen Regelungen und Grenzen in Bezug auf die Organspende stellen zweifellos eine komplexe Herausforderung für die moderne Medizinethik dar. Innerhalb der islamischen Rechtsgelehrsamkeit herrscht Uneinigkeit in Bezug auf verschiedene Arten von Transplantationen, was zu einer Vielzahl von Meinungen und Praktiken führt, die stark von der rechtstheologischen Schule und individuellen Überzeugungen abhängig sind. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass es eine konsistente Rechtsmeinung gibt, die die Verwendung menschlicher Organe ablehnt. Diese Meinung basiert auf einer grundsätzlichen Zurückhaltung gegenüber Eingriffen in den menschlichen Körper. Es gibt jedoch seit den 1970er-Jahren vermehrt Stimmen unter den Rechtsgelehrten, die Transplantationen befürworten und argumentieren, dass dieses Verbot überdacht werden kann, wenn dadurch ein größerer Schaden verhindert werden kann.

Die moderne Medizinethik steht somit vor der Herausforderung, die verschiedenen Bedingungen, die von Gelehrten und Fatwa-Institutionen für die Organspende festgelegt wurden, zu berücksichtigen und im deutschen ethisch-politischen Diskurs nicht nur weiterzuentwickeln, sondern auch konstruktiv als eine Stimme unter vielen Sichtweisen einzubringen.

IslamiQ: Ob man einen Mensch beim Hirntod wirklich als tot ansehen kann, ist eine heikle Diskussion. Der Philosoph Markus Gabriel sprach davon, dass die Frage entscheidend sei, ob eine Person wieder ein bewusstes Leben führen kann. Ein menschliches Leben sei lebenswert, wenn es ein bewusstes Leben ist und nicht ein bloßes Vegetieren. Wie sehen sie es? 

Nassery: Ja, Markus Gabriel legt großen Wert auf die Bedeutung des Bewusstseins als essenzielles Merkmal menschlichen Lebens. Das Bewusstsein ermöglicht es einem Individuum, seine Umgebung wahrzunehmen, Entscheidungen zu treffen, Emotionen zu erleben und Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Aus dieser Perspektive wird argumentiert, dass der Hirntod, bei dem sämtliche Hirnfunktionen irreversibel ausgefallen sind, den Verlust dieser Fähigkeiten mit sich bringt. Daher wird dieser Zustand als ein Punkt betrachtet, an dem das Leben eines Menschen nicht mehr als lebenswert angesehen wird.

In islamrechtlicher Perspektive wird das „Dahinvegetieren“ abgelehnt, da der Islam ein würdevolles und erfülltes Leben schätzt. Gemäß islamischer Lehren wird das menschliche Leben als die höchste Gabe Gottes angesehen, die geachtet und geschützt werden soll. Das bloße „Dahinvegetieren“, bei dem eine Person keine bewussten Erfahrungen macht und keine aktive Teilnahme am Leben hat, wird als Verlust der Lebensqualität betrachtet. Es ist bedenklich, wenn das „Dahinvegetieren“ aus ökonomischen Erwägungen seitens der Gesundheitseinrichtung oder rein emotionaler Motivation seitens der Verwandten befürwortet wird.

Daher betont die islamische Rechtstradition den Schutz der Würde und Lebensqualität eines Menschen als zentrale Maxime des islamischen Rechts (maqṣad aš-šarīa). Der Erhalt und die Wiederherstellung der bewussten Gehirnfunktionen werden als wichtig erachtet, um die Lebenswertigkeit eines Individuums zu gewährleisten.

Mehr zum Thema

Debatte
Die Organspende aus islamischer Perspektive
Immer mehr Menschen warten auf eine Organspende. Die Politik versucht mehr Menschen zum Spenden zu motivieren. Der Theologe Hulusi Ünye erklärt, unter welchen Umständen aus islamischer Perspektive eine Organspende vorgenommen werden kann.

IslamiQ: Wie sehen die islamisch-ethischen Herangehensweisen zu dieser Frage aus? Ab wann gilt der Mensch im Islam als Tod? 

Nassery: Gemäß der internationalen islamischen Fiqh-Akademie wird ein Mensch im Islam als tot angesehen, wenn sowohl ein unwiderruflicher Herz- und Atemstillstand vorliegt als auch der unumkehrbare Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen (Hirntod) ärztlich festgestellt wurde. Diese Ansicht findet in vielen muslimisch geprägten Ländern breite Akzeptanz und bildet eine Grundlage für die ethische Beurteilung von Organtransplantationen.

Allerdings gibt es auch andere Standpunkte innerhalb der islamischen Rechtstradition. Einige Gelehrte betrachten den Hirntod als vorübergehenden Zustand und bestehen darauf, dass der natürliche Herzstillstand abgewartet werden sollte, bevor der Tod endgültig festgestellt wird. Diese Perspektive betont die Wichtigkeit des natürlichen Sterbeprozesses und verlangt eine strengere Auslegung der Kriterien für den Tod. Trotz dieser Unterschiede besteht ein allgemeiner Konsens darin, dass die Feststellung des Todes und insbesondere des Hirntods sorgfältig und präzise durch qualifizierte Ärzte erfolgen muss. 

Die islamische Rechtstradition legt Wert auf die Wahrung der Würde des Menschen und die Beachtung ethischer Prinzipien bei der Organspende. Daher ist es wichtig, dass die Feststellung des Todes im Einklang mit den medizinischen Standards und den islamischen ethischen Grundsätzen erfolgt, um sicherzustellen, dass die Organspende moralisch gerechtfertigt ist.

IslamiQ: Welche Herausforderungen oder Verantwortungen stellen sich für Hinterbliebene, die sich emotional an ihre Verstorbenen gebunden fühlen und die Organe nicht abgeben möchten. Ist es moralisch vertretbar, dass man in solchen Fällen als Hinterbliebener die Organspende nicht akzeptiert? 

Nassery: In islamischen Rechtsdiskursen wird die Frage nach dem Einverständnis der Hinterbliebenen aufgeworfen, ob der Verstorbene in einem Testament oder einer Verfügung seine Zustimmung zur Organspende gegeben hat. In einem solchen Fall obliegt es den Hinterbliebenen, den Willen des Verstorbenen gemäß der Verfügung umzusetzen. Wenn jedoch keine solche Erklärung des Verstorbenen vorliegt, liegt die Entscheidung gemäß dem islamischen Rechtsverständnis in der Verantwortung der Erben. Dies stellt eine der großen Herausforderungen der Organspende dar.

Als Lösungsansatz zur Überwindung dieser Herausforderung können die islamisch-rechtlichen und ethischen Argumentationen herangezogen werden, die von Gelehrten und Fatwa-Institutionen zur Zulässigkeit der Organspende angeführt werden. Die Organspende kann zweifellos als ein bedeutsames Zeichen der menschlichen Solidarität betrachtet werden, das auf koranischen und prophetischen Prinzipien beruht und aus einem Gefühl der Barmherzigkeit entsteht. Gleichzeitig kann sie als Umsetzung einer der Hauptmaximen islamischer Normen betrachtet werden, nämlich dem Schutz des menschlichen Lebens.

Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass die Frage der moralischen Vertretbarkeit der Organspende von verschiedenen ethischen Perspektiven und individuellen Überzeugungen abhängt. Es gibt also kein einheitliches „richtig“ oder „falsch“ in dieser Frage. Dennoch bin ich der Ansicht, dass Aufklärung, Sensibilisierung und Transparenz dazu beitragen können, einen Ausgleich zwischen der Autonomie der Hinterbliebenen und der Bedeutung der Organspende für das Wohl anderer zu finden. Dabei sollten die religiös-ethischen Grundsätze und Werte in einen Dialog einbezogen werden, um eine angemessene Balance zwischen den Rechten und Bedürfnissen der Hinterbliebenen sowie dem potenziellen Nutzen der Organspende für die Gemeinschaft zu erreichen.

IslamiQ: Eine letzte Frage, Herr Nassery, haben Sie einen Organspendeausweis? 

Nassery: Nein, noch nicht. Allerdings ist dieses Interview eine schöne Erinnerung für mich, darüber nachzudenken, einen Organspendeausweis zu beantragen.

Das Interview führte Enes Bayram und Muhammed Suiçmez.