Rassismus basiert auf der Überzeugung, dass man selbst auserwählt und den anderen überlegen ist. Prof. Dr. Ekrem Demirli untersucht, ob Religionen tatsächlich zu einer wirklichen Gleichheit zwischen den Menschen geführt haben? Ein Gastbeitrag.
Wäre eine klare Unterscheidung zwischen Ursache und Wirkung möglich, wäre es schwierig, ja sogar widersprüchlich, einen kausalen Zusammenhang zwischen Religion und Rassismus herzustellen. Insbesondere besteht ein klarer Gegensatz zwischen Religionen mit einem „universellem“ Inhalt, d. h. Religionen, die den Anspruch erheben, alle Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten anzusprechen, und dem Rassismus, der sich durch verschiedene Privilegien äußert und sich auf regionale, soziale oder sonstige Unterschiede stützt, die sich durch Abgrenzung und Ortsansässigkeit ergeben. So gesehen ist die Religion nicht nur keine Ursache für Rassismus, sondern vielmehr noch sein größter Feind. Andererseits kann der Begriff „Ursache“ aber manchmal auch im Sinne von Absicht und Ziel verwendet werden.
Die Behauptung, Rassismus gehöre zu Religionen wie dem Islam und dem Christentum, kann einfach zurückgewiesen werden, da dies den wesentlichen Zielen dieser Religionen widerspricht. Wenn nämlich das Ziel dieser Religionen darin besteht, an einen Gott zu glauben, der alles und jeden erschaffen hat, und deshalb Liebe und Zugehörigkeit zu seiner gesamten Schöpfung zu empfinden, dann wird alleine schon dadurch dem Rassismus, der auf Klassismus, Ortszugehörigkeit oder ähnlichem beruht, die Grundlage entzogen.
Um den Widerspruch zwischen Religionen und Rassismus zu verstehen, ist es notwendig, sich den historischen Prozess in Erinnerung zu rufen: Insbesondere die Traditionen und Überzeugungen, die dem Islam entgegenstanden, waren elitäre und klassenbasierte Religionen. Die Geschichte dieser Religionen reicht sehr weit zurück.Als der Islam und zuvor schon das Christentum die Idee der „Gleichheit“ aller Menschen einführten, waren es die niedrigen Klassen, die Sklaven und die Schwachen, die als erste diesem Ruf folgten. Während das Klassendenken im Islam fast vollständig aufgelöst wurde, existiert es im Christentum in Form der Auserwähltheit des „Klerus“ weiter. Ohnehin kann man davon ausgehen, dass es mit der Entstehung des Islam im historischen Prozess zu einem ernsthaften Bruch gekommen ist.
Aber ist mit den Religionen nun die Gleichheit wirklich erreicht worden, oder hat die Religion den alten Klassismus einfach nur durch einen neuen ersetzt? Diese Frage muss man nuanciert beantworten: Zunächst fällt auf, dass die Religionen, insbesondere das Judentum, das Christentum und der Islam, unterschiedliche Verhältnisse zu Klassen, Rängen und, im weiteren Sinne, zum „Rassismus“ aufgebaut haben. Hierbei haben die Religionen den Klassismus, der zuvor auf den Prinzipien der „Fähigkeit“ und der „besonderen Herkunft“ gründete, durch ein anderes Konzept der Überlegenheit ersetzt, nämlich dem der „Gnade“ und der göttlichen Bestimmung. Man kann die sozialen Aspekte der Religionen nicht untersuchen, ohne dabei diesen Aspekt zu berücksichtigen.
Das erste Beispiel dafür finden wir in der Entwicklung des Judentums. Das Judentum beruht auf dem Glauben, dass ein bestimmter Stamm von Gott auserwählt wurde. Tatsächlich ist einer der wichtigsten Aspekte dieser Religion neben dem Glauben an die Einheit Gottes eben auch dieser Glaube an die „Auserwähltheit“ eines bestimmten Volkes, in dem sich der Wille Gottes manifestiert. Diese Menschen sind die Hauptadressaten der göttlichen Aufmerksamkeit auf Erden; die anderen Menschen sind das im Allgemeinen nicht. In der jüdischen Theologie war diese Frage, nämlich, was die anderen Menschen denn eigentlich sind und wozu sie da sind, theologisch gesehen kein ernsthaftes Problem. In der Neuzeit allerdings hat sich das geändert, und die Frage hat an Bedeutung gewonnen. Es liegt ja auf der Hand, dass eine Theologie, in der nur eine begrenzte Zahl von „Auserwählten“ der Aufmerksamkeit Gottes würdig sind, ein ernsthaftes Problem aufwirft, was deren Beziehung zu anderen Menschen anbelangt. Das Judentum richtete sich nach dem Prinzip, dass seine Anhänger besser und wertvoller waren als andere Menschen. Somit gab es also durchaus eine Beziehung zwischen Religion und Klassismus.
Das Christentum entstand als Religion, die jedwede Form von Auserwähltsein und Bevorzugung, die im gesellschaftlichen Leben auftreten können, ablehnt. Es hat so weit wie möglich den Kreis der Adressaten der göttlichen Botschaft, die das Judentum auf ein einziges Volk beschränkte, erweitert, und es entstand ein universell ausgelegtes Religionsverständnis. Die Menschen fanden die Gleichheit, die sie suchten, in der Botschaft, die von den Aposteln Jesu Christi verbreitet wurde. Die Armen und Waisen, die aus den Städten vertrieben worden waren, waren nun zu „Geschwister“ der Herrschenden geworden. Diese Gleichheit und Brüderlichkeit ist wohl einer die paradiesischen Zustände auf Erden, die Religionen den Menschen bescheren könnten.
Gleichzeitig war das Christentum aber auch mit zwei grundlegenden Problemen konfrontiert. Das Erste ist die Stellung Jesu im Christentum. Das Christentum ist eine Religion, in dessen Zentrum sich Jesus als „Sohn Gottes“ befindet. Somit ist er weder Prophet noch Mensch.
Dies führt dazu, dass diejenigen, die diese Religion nicht annehmen, dadurch zu Ungläubigen werden, die Gott leugnen. Das ist der Grund, warum das Christentum andere als die eigenen Anhänger negativ beurteilt: Sie sind diejenigen, die Gott nicht anerkennen. Wenn ein Mensch aber eine Religion nicht akzeptiert, ist er deswegen noch kein Götzendiener oder Atheist. Indem das Christentum jedoch diejenigen, die Jesus Christus nicht anerkennen, als Heiden betrachtet, hat es seine ursprüngliche Weite und Universalität aufs engste eingeschränkt und das schwerwiegendste Urteil für diese Menschen im Jenseits gefällt, vom Diesseits ganz zu schweigen.
Das zweite Problem ist, dass mit der Romanisierung des Christentums Stände entstanden, die gewisse Privilegien genossen. Der wichtigste Indikator dafür ist die Entstehung des Klerus, der Klasse der Geistlichen. Diese zwei Sachverhalte, nämlich die Göttlichkeit Jesu als Sohn Gottes und die Entstehung einer Klasse der Geistlichen, hat im Christentum zu einem Verständnis beigetragen, das soziale Privilegien ermöglichte.
Im Vergleich zu anderen Religionen ist der Islam als eine Religion entstanden, die Rassismus im eigentlichen Sinn überhaupt nicht zulässt. Zumindest war das ein klarer Grundsatz. Denn der Islam hat mit seinen Grundprinzipien, insbesondere mit der Auslegung des Tawhîds, seines monotheistischen Verständnisses, Universalität in den Vordergrund gestellt und eine möglichst breite Beziehung zwischen Religion und Mensch sowie zwischen Religion und Leben hergestellt. Zunächst einmal impliziert das Prinzip des Tawhîd an sich schon eine gewisse Gleichheit unter den Menschen. Die Idee der Gleichheit aller Menschen ohne Diskriminierung angesichts der Einheit des Schöpfers nimmt somit schon das Prinzip der „universellen Menschenrechte“ der modernen Zeit vorweg.
Die Einheit Gottes bedeutet auch, dass alle Geschöpfe gleich und in ähnlicher Absicht geschaffen wurden. Die Tatsache, dass alle Menschen von denselben Eltern abstammen, ergibt sich aus ebendiesem Verständnis. Ferner hat der Islam den Grundsatz der Gleichheit sowohl in seinem Rechtswesen als auch in seinem ethischen Verständnis so klar systematisiert, dass kein Raum für Diskriminierung bleibt. Dieser Grundsatz wurde immer aufrechterhalten, sowohl was die Verantwortlichkeit anbelangt als auch die weltlichen und geistigen Stufen, die erreicht werden können. Der Islam hat allen Menschen die gleiche Verantwortlichkeit auferlegt, ohne zwischen Männern und Frauen zu unterscheiden und klargestellt, dass alle Menschen die gleichen geistlichen Stufen erreichen können. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele.
Wenn dem nun so ist, kann man dann erwarten, dass es im Islam einen Diskurs oder eine Praxis gibt, die in irgendeiner Weise zu Diskriminierung oder Klassenunterschieden führen könnte? Oder, anders gesagt, kann der Islam als Ursache oder Anstifter für die Diskriminierung ausgemacht werden, zu der es in der Vergangenheit und Gegenwart in verschiedenen Gesellschaften gekommen ist?
Man kann diese Frage nicht einfach im Vorhinein verneinen. Vielmehr müsste man sagen, dass bei näherer Betrachtung der historischen Entwicklungen und Erfahrungen man nicht wirklich behaupten kann, die tatsächlichen Ereignisse hätten immer vollständig mit den Zielen der Religion übereingestimmt. Das ist der erste Punkt zu diesem Thema. Hierzu muss man wissen, dass historische und soziologische Prozesse muslimischer Gesellschaften auch die Religion in die Richtung lenken, die sie eingeschlagen haben. Auch wenn Religion das Prinzip einer Neugestaltung beinhaltet, prägen trotzdem Tradition und soziale Normen das religiöse Leben ebenfalls als wirksame Faktoren mit. In der Vergangenheit genauso wie heute sind es Bräuche, Traditionen sowie historische und soziale Gewohnheiten, die der Beziehung zwischen Religion und sozialer Diskriminierung zugrunde liegen.
Ein zweiter Punkt dieser Thematik ist, dass die Religion selbst den Anspruch erhebt, Überlegenheit zu gewähren. Genauer gesagt, gewährt die Religion ihren Anhängern Privilegien und eine Überlegenheit, die Diskriminierung ermöglicht, weil ihre Anhänger den Nichtgläubigen überlegen sind. Das ist eine unleugbare Tatsache. Da die Auswirkungen dieses Sachverhaltes heutzutage mehr oder minder sichtbar sind, scheint es notwendig, diesem Aspekt mehr Aufmerksamkeit zu schenken:
Im Islam ist es der Glaube an sich, der zu einer Unterscheidbarkeit der Menschen führt. Während der Islam alle Gläubigen mit dem Grundsatz „Gläubige sind Geschwister“ auf einer gemeinsamen Grundlage vereint, legt er eine metaphysische Hierarchie fest, mit der er Glauben mit Gnade und Rechtleitung verknüpft. Gleichzeitig weist er den Menschen den Glauben und die Werte dieses Glaubens als Ziel und stützt die Idee einer gewissen Überlegenheit der Gläubigen. Verse im Sinne von „der Überlegene vor Allah ist derjenige, der fromm ist“ oder „wenn ihr glaubt, seid ihr überlegen“ bedeuten in gewissem Sinne die grundsätzliche Akzeptanz einer Art von Überlegenheit, die diese Werte gewähren.
In dieser Hinsicht gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen dem Islam und dem Christentum. Während der Islam seine eigenen Anhänger als „Gläubige“ bezeichnet, betrachtet er die anderen Menschen, wenn sie den Islam nicht angenommen haben, mit Toleranz. Sie werden nicht gleich grundsätzlich als Heiden oder Atheisten angesehen, da im Herzen des Islams kein der Gottessohnschaft Jesu ähnliches Prinzip besteht.
Im Zentrum des Islam steht nämlich Gott alleine und auf dem Weg, der zu Ihm führt, findet sich das Prophetentum. Deswegen ist jemand, der den Islam nicht akzeptiert, auch meist jemand, der Propheten nicht akzeptiert. Das ist einer der Punkte, in denen sich die Religionen des Christentums und des Islam unterscheiden: Während die eine Andersgläubige als „Heiden“ betrachtet, sind in der anderen diejenigen, die das Prophetentum nicht annehmen, „Ungläubige“.
Hierbei haben Islam und Christentum zwei unterschiedliche Haltungen. Im Islam steht das Prophetentum im Mittelpunkt der Religion, und im Christentum Gott. Der Islam hat dadurch bessere Voraussetzungen, sein Verständnis von Universalität aufrechtzuerhalten: Wenn jemand das Christentum nicht akzeptiert, gilt er mit Sicherheit für Christen als gottlos. Nimmt jemand hingegen den Islam nicht an, so hat er trotzdem als Angehöriger der „Leute des Buches“ gewisse Rechte, auch wenn er bezüglich des Prophetentums als Ungläubiger gilt.
Hier gilt es einige Punkte zu beachten: Zunächst einmal ist es eine Tatsache, dass der Islam eine Unterscheidung zwischen Muslimen und den anderen Menschen trifft und über Privilegien spricht, die als solche einen Beitrag zur Solidarität unter den Muslimen leisten. Diese Unterscheidung ist eine Unterscheidung zwischen Glauben und Unglauben, zwischen einem Gläubigen und einem Ungläubigen. Dabei gewährt die Zugehörigkeit zu den Gläubigen Überlegenheit, das kann nicht geleugnet werden.
In der vorherrschenden Auslegungstradition, insbesondere derjenigen der Sunniten, finden sich jedoch einige Hindernisse, die einer Umwandlung dieses Privilegs in tatsächliche Diskriminierung entgegenstehen. Erstens erfordert die Tatsache, dass der Glaube eine göttliche Gnade ist, egal welcher Art, dass Frömmigkeit nicht als Privileg oder Anspruch, sondern als göttliche Gunst angesehen wird. Wenn ein Mensch religiös geworden ist, bedeutet das nicht, dass er etwas „erreicht“ hätte, noch dass er anderen gegenüber privilegiert wäre oder sie in irgendeiner Weise „geschlagen“ hätte. Es ist ihm lediglich eine Gnade zuteilgeworden und er ist nun fortwährend in Sorge darum, ob diese auch dauerhaft ist. Genauso wie Gott jemandem Rechtleitung gewähren kann, kann er den Menschen ja auch irreführen. Das ist die sunnitische Auslegung. Wenn ein Mensch, ein Mumin oder ein Muslim ist, weiß er nur, dass er der göttlichen Gunst anteilig geworden ist. Anstatt sich als Gläubiger mit anderen Menschen zu vergleichen, ist er bemüht, die göttliche Gabe und Gnade zu begreifen. Das ist das Wesentliche und Zentrale in diesem Sachverhalt.
Gleichzeitig kann ein Gläubiger das Wesen der Beziehung anderer Menschen zu Gott nicht kennen. Jeder Mensch ohne Ausnahme kann zu jeder Zeit und jedem Ort zum Glauben finden. Ein anderer Aspekt sind die Zweifel und die Unsicherheit, die einen Menschen in Bezug auf seine Frömmigkeit befallen können. Frömmigkeit, die auf Gnade und Gunst beruht, führt beim Menschen nicht zu einem Dogmatismus, der auf unerschütterlicher Überzeugung beruht, sondern lässt Raum für Zweifel, Suche, Unsicherheit oder ähnliche Zustände, die eine mögliche Überlegenheit hinauszögern. So gesehen hat Frömmigkeit keine Form und keine Stufen, sondern man kann erwarten, dass sie, vervollständigt zwar durch ethisches Verhalten, beim Menschen auch auf Zweifel und Unsicherheit trifft.
All das ändert die Angelegenheit im Grunde nicht: Wie auch die anderen Religionen, ist auch der Islam in bestimmten Zeiten der Geschichte, Ausgangspunkt für Privilegien und Überlegenheitsdenken gewesen. Auch die Muslime haben ihre Religion, so wie schon andere Religionen oder auch Ideologien, so ausgelegt, dass sie zu einem Überlegenheitsdenken geführt hat. Der Grund dafür sind psychologische und soziologische Faktoren, so wie sie auch in anderen Gesellschaften ähnlich auftreten. Wenn Menschen, individuell oder in der Gesellschaft, ihre eigene Schwäche erkennen, konstruieren sie sich kompensatorisch eine Ideologie der „Überlegenheit“, die ihre Unterschiede zu anderen Menschen deutlich machen. In muslimischen Gesellschaften, wo es zu solchen Erscheinungen gekommen ist, war es eine der Verteidigungsstrategien, die Religion in die psychologische und gesellschaftliche Verteidigung einzubeziehen.