Rassismus, Sterbehilfe oder LGBTQ – das sind nur einige aktuell diskutierte Themen. Warum sich Muslime dazu äußern müssen und welche Rolle dabei islamische Religionsgemeinschaften spielen, erklärt Dr. Ahmet Inam.
Noch vor Kurzem wurde ich von einem Mitglied eines Integrationsrats angerufen und gefragt, ob die DITIB ein Positionspapier zum Thema „Antisemitismus“ hat. Grund dafür war, dass in einer Sitzung die unannehmbare Kombination „islamischer Antisemitismus“ zu Worte kam und dieses Mitglied diese Kombination ablehnte. Doch schien er mit seiner Stimme alleine zu sein.
Vor sechs Monaten klagten Freunde, die als Lehrer arbeiten, über Situationen in der Schule, in denen sie sich machtlos fühlten. Grund für dieses Gefühl sind Fragen rund um Homosexualität oder LGBTQ.
Viele Eltern wollen ihre Kinder vor diesen Themen schützen – ob religiös begründet oder nicht – und wenden sich an die Lehrer bzw. äußern ihnen gegenüber ihre Bedenken und Kritik. Zudem werden sie auch von nichtmuslimischen Kollegen mit Fragen gelöchert, wenn diese Themen bei muslimischen Eltern auf Ablehnung treffen. Diese muslimischen Lehrer müssen sich entweder alles stillschweigend anhören oder ihren Kollegen – meistens gegen ihre religiöse Auffassung – zustimmen, da es sonst zu Konsequenzen für sie führen kann. Hinzukommt – und das sei hier nur angerissen –, dass sie nicht selten mit dem ideologisch geprägten Argument „Es gibt nicht den Islam“ konfrontiert werden. Mit diesem Argument wird versucht, einen Legitimationsraum zu schaffen, um manches Unislamische islamisch begründen zu können.
Dies sind nur zwei Beispiele für viele Situationen, in denen Muslime gegen den Druck aus verschiedenen Richtungen hilflos zu sein scheinen.
Welche Rolle haben in diesem Kontext islamische Religionsgemeinschaften? Bevor wir diese Frage beantworten, müssen wir klarstellen, dass islamische Religionsgemeinschaften in Deutschland und Europa es nicht gerade leicht haben. Zum einen müssen sie jeden Tag aufs Neue gegen teils islamfeindlich denkende und handelnde Politiker, Medienschaffende und Bürger vorgehen. Zum anderen werden sie zur Rechenschaft gezogen, wenn ein Muslim eine schlimme Tat begeht, unabhängig davon, ob es sich um ein Gemeindemitglied handelt oder nicht. Anschließend werden sie, in hämischer Diktiermanier, mit politischen Forderungen überschüttet. In den entscheidenden Gremien oder Konferenzen sind sie wiederum nur ein Verein von vielen.
Ein weiterer Punkt ist der enge Kontakt zu den Herkunftsländern. Vielen Politiker ist es ein Dorn im Auge, dass die meisten Religionsgemeinschaften enge Kontakte zu ihren Herkunftsländern pflegen. Dabei ist es ihr gutes Recht, sowohl materiell als auch personell von den Möglichkeiten ihrer Herkunftsländer und darüber hinaus zu profitieren.
Schlussendlich werden islamische Religionsgemeinschaften auch von ihren eigenen Mitgliedern bzw. anderen Muslimen kritisiert. Der Grund dafür ist, dass viele Muslime denken, die Religionsgemeinschaften würden sich staatlichen Forderungen ergeben. Sicherlich hat es Personen gegeben, die diese Ergebung als wertvoll betrachtet haben. Doch Fakt ist, dass die Religionsgemeinschaften meistens keine andere Wahl hatten als auf die Forderungen einzugehen. Dafür arbeiten Politik und Medien hervorragend zusammen.
Was aber auch zur Wahrheit gehört, ist, dass natürlich auch die islamischen Religionsgemeinschaften in vielen Bereichen Nachholbedarf haben und gelegentlich Entscheidungen treffen, die kritikwürdig sind. Bei aller Kritik ist es aber eine Mammutaufgabe für die Gemeinschaften, ihre Dienste so gut wie möglich anzubieten und gleichzeitig den populistischen Angriffen von Politik und Medien entgegenzutreten.
Nach all diesen Punkten sollte eigentlich klar geworden sein, dass die großen islamischen Religionsgemeinschaften – ob sie es wollen oder nicht – sowohl für die Politik und Medien als auch für die Bevölkerung die ersten Ansprechpartner sind, wenn es um Religion und religiöse Themen in Deutschland geht.
Sie stehen sowohl dem Fanatismus entgegen als auch säkularen Bestrebungen, die Religion zu deformieren. Solange die Religionsgemeinschaften sich nicht den Wünschen aus verschiedenen Richtungen hingeben, werden die zumeist unsachlichen und ideologischen Kritiken nicht aufhören. Und das ist nicht nur gut, sondern auch eine Gelegenheit, den stets hämischen, kritisierenden, diktierenden, stigmatisierenden politischen und medialen Stimmen eine Absage zu erteilen und den Muslimen, gegenüber denen sie in erster Linie verantwortlich sind, ein Gefühl von Zusammenhalt zu geben. Und umgekehrt müssen wiederum – bei aller intellektueller, kultureller, theologischer oder politischer Diskrepanz – Muslime die großen Religionsgemeinschaften unterstützen.
Doch bisher fehlt die sichtbare und gemeinschaftliche Repräsentanz zu ernsthaften Themen auf gesellschaftlicher und politischer Ebene. Diese Aufgabe der Repräsentanz können und dürfen kleine Vereine nicht übernehmen, zumal sie schon von Anfang an aufgrund ihrer Mitgliederzahl scheitern werden.
Wenn Muslime zu kontroversen Themen keine Referenzen haben, auf die sie verweisen können, werden sie im Alltag, im Berufsleben, in der Erziehung und anderen Bereichen stets einsam bleiben, auch wenn sich unter ihnen theologisch-wissenschaftliche Experten befinden. Einzelne Stimmen werden ihnen nicht viel nützen. Doch wenn die islamischen Religionsgemeinschaften einheitlich Größe zeigen würden, hätten Muslime gegen die Indoktrination, gegen die Hetze, gegen die Anfeindungen, gegen säkular-autokratischen Bestrebungen eine wichtige Stütze und – was wichtiger ist – eine gemeinsame und zugleich gewichtige religiöse Stimme.
Es kann damit begonnen werden, dass die Religionsgemeinschaften Kommissionen bilden, die sich zu verschiedenen Themen austauschen und eine (einheitliche oder überwiegende) Einigung erzielen. Diese müsste dann für alle zugänglich sein, damit sich jeder bei Bedarf einlesen oder es z. B. der Schulleitung zur Verfügung stellen kann. Hierfür gibt es bereits gute Beispiele, diese müssten aber viel öfter und nachhaltiger werden.
Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland bietet eine hervorragende Grundlage für die Ausübung von Freiheiten und Rechten wie die Religionsfreiheit oder das Erziehungs- bzw. Elternrecht. Daher können Positionspapiere dazu beitragen, dass die Muslime ihre von der Verfassung gewährten Freiheiten und Rechte ernst nehmen sowie ihre Bedenken und Wünsche berücksichtigen und zugleich der Politik und den Medien verdeutlichen, dass die Bedenken und Rechte der Muslime auch von diesen ernst genommen werden müssen. Statt den Forderungen islamfeindlicher Parteien und Personen nachzugehen und wertvolle Zeit zu verlieren, sollten wir mit den Positionspapieren auch den vielen einsichtigen und vernünftigen nichtmuslimischen Menschen den Rücken stärken, die in den meisten Fällen mit den Muslimen einer Meinung sind.
Aktuell stehen Muslime aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen z. B. zu den Themen Homosexualität und LGBTQ unter Beschuss. Positionspapiere zu diesen Themen, zu denen Experten verschiedener Disziplinen beisteuern, könnten nicht nur für Nichtmuslime eine Möglichkeit sein, überhaupt über die muslimische Sichtweise informiert zu werden. Auch würden solche Stellungnahmen dazu beitragen, bei gleichseitiger und eindeutiger Klarstellung, dass Homosexualität eine große Sünde ist, homosexuelle Menschen vor Diskriminierungen und Anfeindungen zu schützen.
Gemeinsame Positionierungen könnten zugleich muslimischen Fanatikern den Wind aus den Segeln nehmen und die Jugend schützen. Jugendliche wollen Antworten auf aktuelle Fragen haben, zumal auch sie ständig in der Schule und im Freundschaftskreis damit konfrontiert werden. Sie suchen Antworten, die sie, wenn sie diese nicht von den großen Gemeinschaften bekommen, von Randgruppen erhalten.
Nicht zuletzt könnten Positionspapiere gegen Bagatellisierungsversuche „säkularer Muslime“ dienen. Diese kritisieren die Religionsgemeinschaften – manchmal zurecht, doch meistens heuchlerisch – für die Stille, nutzen diese Stille aber nicht selten als Vorlage, um anschließend sich selbst als vermeintliche „Stimme der schweigenden Mehrheit“ hervorheben zu können.
Antisemitismus, Kopftuch, Rassismus, Toleranz und Religionsfreiheit, Tod und Beerdigung, Demokratie, Krieg und Frieden, politische Teilhabe, Gier und Kapitalismus, Künstliche Intelligenz, soziale Ungerechtigkeit, Umweltbewusstsein etc. sind nur einige Themen, für die es ein Positionspapier bedarf.
Es ist Zeit zum Handeln! Ganz im Sinne folgender Überlieferung (Muslim, Birr, 131,132):
Abî Barzah fragte: „O Gesandter Gottes! Lehre mich etwas, was mir nützt?“ Der Prophet (s) antwortete: „Entferne die Hindernisse aus dem Weg der Muslime!“