Autoren schreiben hunderte Seiten. Doch was passiert, wenn sie ihr Buch auf seine Essenz herunterbrechen müssen? Unsere Serie „Nachgefragt“ liefert Antworten. Heute Melina Borčak und ihr Buch „Mekka hier, Mekka da“.
IslamiQ: Wem würden Sie ihr Buch gerne schenken und warum?
Melina Borčak: Menschen, die sich mit antimuslimischem Rassismus beschäftigen, aber dessen Maximum vergessen – Genozide. Wir würden nie sagen: „Ja, Sebastian ist Holocaustleugner, aber Antisemit ist er bestimmt nicht!“ Das wäre eine unfassbare Aussage, da Holocaustleugnung das Maximum des Antisemitismus ist. Aber dass antimuslimische Genozide, deren Leugnung und Verharmlosung das Maximum an antimuslimischem Rassismus sind – das checken Leute irgendwie nicht. Leute müssen verstehen, dass die Genozide an Uiguren, Bosniaken, Rohingya und vielen mehr uns alle betreffen. Es kann doch nicht sein, dass es so viele muslimische Vereine und Antirassismusvereine gibt, aber bei Demos für Uiguren nur 15 Menschen sind. Oder Bosniaken und Albaner immer alleine gegen serbischen Nationalismus kämpfen.
IslamiQ: Warum ist die Thematik Ihres Buches im Lichte aktueller Debatten wichtig?
Borčak: Weil es überhaupt Debatten gibt. Es wird jahrzehntelang über Dinge diskutiert, die man eigentlich im Kindergarten lernt: Menschen nicht aufgrund ihrer Herkunft in eine Schublade zu stecken, zu pauschalisieren, als Einheitsbrei zu sehen. Ich wusste schon als 4-jähriges Flüchtlingskind, dass das nicht ok ist. Aber deutsche Talkshows sind voll mit überbezahlten, selbst ernannten Experten für alles, die nicht mal so etwas verstehen und nonstop über „die Muslime“ debattieren. Ich will einfach nur in Ruhe gelassen werden, es ist erschöpfend. Ach ja – und weil die AfD 21 % auf unsere Kosten holt, natürlich.
IslamiQ: „Beim Lesen guter Bücher wächst die Seele empor.“ Warum trifft dieses Zitat von Voltaire auf Ihr Buch zu?
Borčak: Viele muslimische Menschen haben mir schon erzählt, dass sie das Buch ermutigend und empowernd fanden, aus mehreren Gründen. Erstens, weil ich diese erdrückenden Dinge, die uns allen Kraft rauben, mit Humor nehme. Zweitens, weil sie nun rassistische Aussagen und Taten klarer erkennen und sich wehren können, statt einfach ein mulmiges Gefühl zu haben, das sie nicht richtig einordnen können. Und drittens, weil ich uns allen weitere Argumente gebe für die leider notwendige Selbstverteidigung, die wir alle durchmachen müssen, wenn mal wieder über “die Muslime” gesprochen wird. Beispielsweise meinte ein Imam, dass ich bestimmte Dinge, die er bisher aufwendig erklären musste, in einem kurzen Satz auf den Punkt gebracht habe. Wir machen bedauerlicherweise so viel durch – es freut mich sehr, dass ich es Menschen etwas erleichtern kann. Und für Nichtmuslime gibt es natürlich auch sehr viel Wertvolles zu entdecken.
IslamiQ: Ihr Buch in drei Wörtern zusammengefasst?
Borčak: Lernen, lachen, weinen.
IslamiQ: Eine spezielle Frage für Sie: Das öffentliche Islambild in den Medien wird seit Jahren von negativen Erzählmustern dominiert, positiv konnotierte Themen über muslimisches Leben werden oft ausgeblendet. Dies hat dazugeführt, dass antimuslimischer Rassismus kein rechtes Phänomen mehr ist. Was muss sich für die Zukunft in der Medienlandschaft bzw. in den Berichterstattungen ändern, damit sich ein positives Islambild entwickelt und was können Muslime dafür tun?
Borčak: Die komplette Basis dieser Diskussionen und die Grundannahmen, die diskutiert werden, sind falsch. Zum Beispiel wird immer über “die Muslime” und “den Islam” geredet, als seien wir eine graue, monolithische Masse. Wir müssen uns distanzieren von Erdoğan, Saudi-Arabien, Iran, Dubai und wahllos Dörfern in Pakistan, in denen einmal vor 40 Jahren irgendwas Schlimmes getan wurde. Christen werden nie gedrängt, sich von explizit christlichen kroatischen Kriegsverbrechern, von Großserbien, evangelikalen US-Amerikanern, Breivik oder gewaltvollen christlichen Gangs zu distanzieren. Warum? Weil Christen und christliche Länder als Individuen gesehen werden, während Muslime keine Individualität haben. Das ist eigentlich die erste Regel des Rassismus: Alle in einen Topf werfen. In den USA gab es mehrere Fälle von 10 Jahre jungen Mädchen, die gezwungen wurden, die Kinder ihrer Vergewaltiger zu gebären. Wäre das in Pakistan passiert, hätten alle deutschen Medien es rauf und runter diskutiert, als hielten Muslime für richtig. Aber wenn es in den USA passiert, dann weiß man ja, dass das “normale”, individuelle Menschen sind.
Und genauso ist es mit Erinnerungskultur: Die serbischen Völkermörder Karadžić und Mladić wurden sogar vom UNO Tribunal verurteilt wegen Terror, und wegen des Terrormords an über 11.500 Menschen in Bosniens Hauptstadt Sarajevo. An diese Zahl kommt keine RAF, IRA, ETA oder IS in Europa auch nur annähernd ran. Warum wird nie darüber gesprochen, dass die größten Terroristen Europas keine Muslime sind, sondern weiße, europäische Christen, die unschuldige Muslime ermordeten? Würde man mehr über Muslime wissen und sie nicht aus dem kollektiven Gedächtnis des Kontinents ausschließen, würden all diese Debatten ganz anders laufen.
Also: Was können wir Muslime tun? Genozide nicht mehr ignorieren, sondern immer mitdenken. Auf der Vielfalt und Individualität unserer Gemeinden beharren. Medien, Politik und Institutionen öffentlich und gemeinsam korrigieren und kritisieren, wenn sie rassistisch sind. Uns vernetzen und gemeinsam antirassistische Aktionen planen – selbstverständlich inklusive Aktionen gegen Genozide, denn gemeinsam sind wir stärker.
Das Interview führte Muhammed Suiçmez.