Seit vielen Jahren wird in den Medien und im politischen Diskurs in Österreich behauptet, dass Muslime eine negative Haltung gegenüber Anderen einnehmen. Aber wie verhalten sich Muslime mit Nichtmuslimen im Alltag wirklich? Ein Gastbeitrag von Jonas Kolb.
Die Frage, wie Muslime, die in Österreich leben, ihre Einstellung gegenüber anderen Religionen und Andersgläubigen gestalten und wie sie sich in Gesellschaften mit religiöser Vielfalt positionieren, ist seit langem ein kontroverses Thema in den österreichischen Medien sowie Gegenstand politischer Diskussionen. Darin stehen oftmals Themen wie muslimische Parallelgesellschaften, politischer Islam, Salafismus, religiöser Extremismus und Radikalisierung im Vordergrund. Politische Parteien und gängige Stereotype unterstellen dabei gerne, dass religiös pluralistische Meinungen unter Muslime Seltenheitswert hätten.
Dieser Eindruck verstärkte sich nach dem Terroranschlag in Wien am 2. November 2020, bei dem vier Menschen ermordet wurden. In der Nacht vor dem zweiten Lockdown nutzten viele Bewohner Wiens die letzte Gelegenheit für absehbare Zeit, ein Restaurant oder eine Bar ersten Wiener Gemeindebezirk zu besuchen. Später stellte sich heraus, dass der Täter gezielt Menschen im sogenannten ‚Bermudaviertel‘, einer bekannten Ausgehmeile nahe dem Schwedenplatz, angegriffen hatte. Der Täter, der bei dem Anschlag starb, wurde in einer Kleinstadt südlich von Wien geboren, besaß die österreichische Staatsbürgerschaft und hatte seine Schulausbildung in Österreich absolviert. Seine Familie stammt aus Nordmazedonien und gehört der dortigen muslimischen Minderheit an. Als Angehöriger der zweiten Migrationsgeneration durchlief der Attentäter Prozesse der Radikalisierung, insbesondere in islamistischen Kreisen und Moscheegemeinden in Wien.
Nach dem Anschlag folgte eine dreitägige Staatstrauer. Während dieser Zeit bekräftigte der damalige Kanzler Sebastian Kurz, dass „die Feinde der Demokratie […] niemals alle Angehörigen einer Religionsgemeinschaft“ seien. Diese zunächst differenzierte Haltung gegenüber der muslimischen Bevölkerung sollte jedoch nicht lange anhalten. In den folgenden Wochen wurden von verschiedenen Seiten Vorurteile gegenüber österreichischen Moscheen geäußert und der Eindruck erweckt, dass in muslimischen Gebetsräumen durchweg ablehnende Haltungen gegenüber Nichtmuslimen gefördert würden.
Wie es um die Einstellungen von Muslimen gegenüber Andersgläubigen und anderen Religionen tatsächlich bestellt ist, darüber werden zwar oft Vermutungen angestellt, aber es besteht eine weitgehende Forschungslücke zu dieser Frage. Aufschluss über die Positionen österreichischer Muslime gegenüber anderen Religionen und Andersgläubigen bietet eine empirische Studie von Ednan Aslan, Jonas Kolb und Erol Yıldız mit dem Titel „Muslimische Diversität“ (2017). Auch wenn das Datenmaterial aus der Zeit vor dem Wiener Terroranschlag stammt, bergen die darin enthaltenen Informationen aufschlussreiche Perspektiven für die Gegenwart. Befragt wurden im Rahmen der Studie 71 Muslime mittels qualitativer Leitfadeninterviews sowie 700 Personen im Alter zwischen 16 und 85 Jahren mithilfe eines quantitativen Fragebogens.
Bei der Analyse der empirischen Befragungen wird zunächst ersichtlich, dass sich Muslime, egal ob sie dem religiös Anderen offen, reserviert oder ablehnend gegenüberstehen, oftmals auf den Koran berufen, um ihre diesbezüglichen Ansichten und Handlungen zu begründen. Dies hängt damit zusammen, dass das Thema Andersgläubige und andere Religionen im Koran weder systematisch noch eindeutig abgehandelt wird. So finden sich Stellen, in denen exklusivistische, inklusivistische und pluralistische Positionen gegenüber dem religiös Anderen zum Ausdruck kommen. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass der Koran in einer Zeitspanne von ca. 20 Jahren sukzessive offenbart und erst nach dem Ableben des Propheten Muhammad durch dessen Gefährten in einem Buch zusammengefasst wurde.
In exklusivistischen Passagen wird die Position vertreten, dass die eigene Religion allen anderen überlegen sei. Eine solche Perspektive auf Andersgläubige macht selbstredend kein Angebot für ein Miteinander. Angehörigen anderer Bekenntnisgemeinschaften steht ein exklusivistischer Ansatz per se ablehnend gegenüber.
Als inklusivistisch werden hingegen Stellen bezeichnet, die anderen Religionen grundsätzlich Geltung und Existenzberechtigung zusprechen und die Heilsmöglichkeit außerhalb des religiös Eigenen nicht grundsätzlich verwerfen. Den Heilsanspruch in vollem Umfang einlösen könne jedoch nur die eigene Religion, bei dem religiös Anderen sei dies nur mit Abstrichen der Fall. Pluralistische Passagen wiederum betrachten religiöse Diversität und die Existenz anderer Religionen und Andersgläubiger als Bereicherung. Deren Heilsversprechen werden nicht nur geduldet, sondern als ebenbürtiges Angebot betrachtet. Dieser Auffassung zufolge sind alle Religionen anzuerkennen und gleichberechtigt auf eine Stufe zu stellen, sofern sie ihren Angehörigen als wahr, authentisch und heilsstiftend gelten.
Generell zeigt das empirische Datenmaterial der Studie von Aslan, Kolb und Yıldız eine große Bandbreite an Positionen von Muslimen in Österreich gegenüber anderen Religionen und Andersgläubigen auf und zeichnet nach, wie diese geformt werden.[1] Aufgegriffen werden sollen an dieser Stelle drei Aspekte, die einer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen: die Diversität der Positionen gegenüber dem religiös Anderen und Andersgläubigen, die Beeinflussung durch Kontextbedingungen sowie die Rolle von Medien und deren Rezeption.
Unter Muslimen in Österreich werden exklusivistische, inklusivistische und pluralistische Positionen gegenüber anderen Religionen und Andersgläubigen vertreten. Unter religionsfernen Personen finden sich häufiger inklusivistische und tolerante Positionen, die religiöse Wahrheitsansprüche und Heilsversprechen anderer Religionen anerkennen und für ein gleichberechtigtes Nebeneinander plädieren, sowie pluralistische und xenosophische Haltungen, die sich durch Interesse und Wohlwollen Andersgläubigen gegenüber auszeichnen. Auch zeigt sich, dass besonders religiöse Muslime nicht zwangsweise zu exklusivistischem Denken tendieren und anderen Religionen ablehnend gegenüberstehen. Streng religiöse Orientierungen und inklusivistische oder pluralistische Ansätze schließen sich keineswegs aus, sondern bestehen oftmals nebeneinander. Exklusivistische Haltungen finden sich nicht nur bei sehr religiösen Personen – auch wenn sie von diesen häufiger vertreten werden – , sondern auch bei religionsferneren Praxisformen. Exklusivistische Positionen ergeben sich also nicht allein aus einer bestimmten religiösen Praxis und müssen auch nicht mit einer spezifischen Form der Religiosität einhergehen. Ebenso wenig bedeutet die Zurückweisung religiöser Exklusivitäts- oder Überlegenheitsansprüche, dass die Betreffenden im Umkehrschluss automatisch pluralistische Einstellungen präferieren. Sie können der religiösen Vielfalt von Gegenwartsgesellschaften auch aus einer prinzipiell kritischen Haltung gegenüber Religionen skeptisch gegenüberstehen.
Ansichten gegenüber dem religiös Anderen fallen „nicht vom Himmel“, sondern werden immer durch Kontextbedingungen – wie den Grad der Religiosität, Werteorientierungen, Migrationserfahrungen, soziale Interaktionen mit Andersgläubigen im Alltag oder das soziale Umfeld – beeinflusst. Während das Bildungsniveau, der höchste Schulabschluss oder die Berufswahl die Entwicklung von Haltungen gegenüber dem religiös Anderen nicht merklich zu beeinflussen scheinen, kommt den Erfahrungen, die Muslime im Austausch mit der nichtmuslimischen Mehrheitsbevölkerung machen, dabei eine zentrale Rolle zu. Menschen, die rege soziale Kontakte zu einem interreligiösen Umfeld pflegen, tendieren meist zu pluralistischen Auffassungen, vor allem dann, wenn sie auch in Freizeitkontexten mit Nichtmuslimen interagieren. Dies ist insofern relevant, als die meisten Muslime berufsbedingt tagtäglich mit Andersgläubigen zu tun haben, während Treffen mit Freunden und Bekannten gezielt und selbstbestimmt stattfinden.
Die Wahrscheinlichkeit, exklusivistische Positionen auszuprägen und dem religiös Anderen ablehnend gegenüberzustehen, ist bei jenen, die sich in ein religiös homogenes, womöglich strenggläubiges soziales Umfeld zurückziehen, höher. Zu beobachten ist dieses Phänomen häufiger bei Muslimen der ersten Migrationsgeneration, die in einem anderen Land als Österreich geboren und aufgewachsen sind. Für sie ist das Leben in einer pluralen Gesellschaft nicht immer eine Selbstverständlichkeit. Bei Muslimen der zweiten oder dritten Migrationsgeneration, die selbst oder deren Eltern bereits in Österreich geboren und aufgewachsen sind, ist die Situation nicht so eindeutig und mitunter zwiegespalten. Während es für einige ganz normal ist, sich in einem religiös heterogenen sozialen Umfeld zu bewegen und im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis tagtäglich mit Andersgläubigen zu tun zu haben, ziehen sich andere in religiös homogene Milieus zurück. Die Motive dafür können unterschiedlich sein: erfahrene Kränkungen oder Frustration, Sinnkrisen, das Bedürfnis nach Identitätsstiftung, Bestätigung oder Geborgenheit, der Wunsch nach Beheimatung oder auch die Suche nach den eigenen Wurzeln.
Die empirischen Befunde der Studie von Aslan, Kolb und Yıldız belegen darüber hinaus, dass die Haltung gegenüber anderen Religionen und Andersgläubigen zu einem Gutteil durch Medien – seien es traditionelle Medienorgane wie Fernsehnachrichten oder Printmedien oder Social Media und Messaging-Dienste – sowie durch politische Diskurse beeinflusst wird. In den Interviews, die auch unter dem Eindruck von Terroranschlägen in europäischen Ländern geführt wurden, beklagen Muslime neben der medialen Hetze, etwa gegen Minarette oder das Kopftuch, auch eine pauschale Stigmatisierung sowie die Gleichsetzung von muslimischem Glauben mit Islamismus oder Terrorismus, und sie drücken die Befürchtung aus, dass antimuslimische oder islamfeindliche Äußerungen in den Medien und in der öffentlichen Meinung im deutschsprachigen Raum in Zukunft noch zunehmen werden. Derartige Aussagen finden sich sowohl bei streng religiösen als auch bei wenig religiösen Muslimen.
Damit sich aus einer enttäuschten Haltung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft und aus einer ablehnenden Einstellung gegenüber anderen Religionen sowie Andersgläubigen eine Bereitschaft zu Gewalt und entsprechenden Handlungen entwickelt, sind jedoch weitere Faktoren notwendig. Förderlich für eine religiöse Radikalisierung sind u. a. die Einbindung in Sozial- und Gruppenprozesse sowie die Orientierung an charismatischen religiösen Autoritäten, die klare Unterscheidungen zwischen ‚richtig‘ und ‚falsch‘ anbieten, religiöse Erweckungserlebnisse fördern und das Gefühl vermitteln, eine exklusive Wahrheit zu besitzen oder an einem Kampf von Auserwählten gegen das vermeintlich Lasterhafte mitzuwirken. Vieles deutet darauf hin, dass der Attentäter von Wien Prozesse dieser Art durchlaufen hat. So konnten die Ermittler nachweisen, dass er bereits wenige Jahre vor dem Attentat im November 2020 versucht hatte, sich dem IS in Syrien anzuschließen und dass er nach seiner Haftentlassung Kontakte zu islamistischen Netzwerken in Österreich gepflegt hat. Es wird angenommen, dass er sich in diesen Zusammenhängen radikalisiert hat.
Resümierend zeigen die geschilderten Befunde, dass unter Muslimen das Gefühl, zurückgestoßen, enttäuscht oder von der nichtmuslimischen Mehrheitsbevölkerung stigmatisiert zu werden, durchaus verbreitet ist. Gleichwohl belegen empirische Daten, dass die Zurückweisung und Ablehnung anderer Religionen, eine abwertende Haltung gegenüber Andersgläubigen oder der nichtmuslimischen Mehrheitsbevölkerung keinesfalls bei allen in Österreich lebenden Muslimen anzutreffen sind. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Denn die Ansicht, dass jede Religion einen wahren Kern habe, wird beispielsweise von 33,0 % der Stichprobe voll und ganz sowie von weiteren 38,5 % der Befragten eher vertreten. Folglich zeichnet sich die Mehrheit der interviewten Muslime durch Offenheit, Interesse und Wohlwollen gegenüber dem religiös Anderen aus, während nur eine Minderheit andere Religionen ablehnt oder eine abwertende Haltung gegenüber Andersgläubigen einnimmt – ein Befund, den es sich in öffentlichen Debatten stets zu vergegenwärtigen gilt.
Verwendete Literatur:
Aslan, Ednan/Kolb, Jonas/Yildiz, Erol (2017): Muslimische Diversität. Ein Kompass zur religiösen Alltagspraxis. Wiesbaden: Springer VS.
Kolb, Jonas (2023): „Muslims and the Religious Other: On the Diversity of Austrian Muslims’ Pluralistic Attitudes, Religious Schemes and Interactions with People of Another Faith and Other Religions“. In: Journal of Muslims in Europe, 12 (2), 161–193. DOI: https://doi.org/10.1163/22117954-bja10051 (open access).
Neumann, Peter (2013): „Radikalisierung, Deradikalisierung und Extremismus“. In: APuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte, 63 (29–31), 3–10.
Nikbakhsh, Michael/Meinhart, Edith (2020): „Terror in Wien: Was wir bisher über Attentäter F. wissen“. In: Profil, Beitrag vom 03.11.2020. Abrufort: https://www.profil.at/oesterreich/terror-in-wien-was-wir-bisher-ueber-attentaeter-f-wissen/401086029 (letzter Zugriff am: 08.03.2023).
Schmidt-Leukel, Perry (2019): Wahrheit in Vielfalt: Vom religiösen Pluralismus zur interreligiösen Theologie. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
Vogt, Jonas (2020): „Sebastian Kurz: Um Geschlossenheit bemüht“. In: Die Zeit, Beitrag vom 03.11.2020. Abrufort: https://www.zeit.de/politik/2020-11/sebastian-kurz-islam-terroranschlag-wien-oesterreich (letzter Zugriff am: 08.03.2023).
[1] Für eine detaillierte Analyse siehe Kolb 2023.