KLIMAWANDEL

Ist die Klimakrise eine Identitätskrise?

Die Klimakrise ist mehr als nur ein Umweltproblem – sie stellt eine grundlegende Identitätskrise dar. Doch welche Rolle spielt die religiöse Identität im Kampf gegen die Klimakrise. Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Ibrahim Özdemir.

04
11
2023
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Symbolbild: Klimakrise © shutterstock, bearbeitet by islamiQ
Symbolbild: Klimakrise © shutterstock, bearbeitet by islamiQ

Identität und Klima im Islam

Sprechen wir von Muslimen, können wir festhalten, dass sie, um (eine) Lösung(en) für ihre Probleme, einschließlich der Umwelt- und Klimakrise, zu finden, als erstes auf den Koran zurückgreifen. Das „Selbstverständnis“ der Muslime und die islamische Zivilisation haben sich auf der Grundlage dieses Vorgehens, ja dieser Weltanschauung geformt und entwickelt. Die Besonderheit der islamischen Zivilisation, die sie von anderen Zivilisationen unterscheidet, ist ihr Verständnis von „Tawhîd, Prophetentum, Jenseits, Gerechtigkeit und Gottesdienst (bzw. „Amal“, gottgefällige Handlungen)“, das die Grundlage dieser Weltanschauung bildet.

Betrachten wir die Verse des Korans, die in den dreizehn Jahre der mekkanischen Periode offenbart wurden, können wir das klar und deutlich erkennen. Schon mit den ersten Versen begann der Koran, das Verständnis des Universums der vorislamischen Araber, das sie als „bedeutungslos, seelenlos, leblos und zufällig existierend“ ansahen, entscheidend zu verändern. Der Koran zeichnete seinen Zuhörern ein prächtiges Bild des Universums, das Dinge wie die Allmacht, das Wissen, den Willen, die Erhabenheit und die Schönheit seines Schöpfers widerspiegelt. Durch die Person des Propheten lud der Koran die Menschheit ein, „das Buch des Universums von seinem Schöpfer ausgehend“ zu lesen. Alles im Universum, das den Menschen umgibt und umarmt, ist bedeutungsvoll; „Es ist ein Zeichen, das auf das über ihm stehende weist; Es ist eine Bescheinigung Seines Seins“. Daher gibt es eine vollständige Übereinstimmung zwischen den „Ayat“, den „Zeichen“, Versen des Korans und den Zeichen, die überall auf Erden und im Menschen selbst erscheinen (Sura Fussilat, 41:53). Izutsu erklärt diese Dimension des Korans folgendermaßen: „Der Koran veränderte nicht nur die Art, wie die Araber an Gott glaubten, sondern er veränderte ihr ganzes Denksystem. Die islamische Gottesvorstellung hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die gesamte Art, wie man über das Universum dachte […] Alle Wesen, alle Werte wurden in den Bereich des neu Organisierten verbracht. Alle Elemente des Universums, ohne eine einzige Ausnahme, wurden von ihren alten Plätzen entfernt und in diesen neuen Raum gestellt“ (Izutsu, 1975). Darüber hinaus schuf der Koran auch eine moralische Dimension zwischen denen, die er ansprach und dem Universum. Anders gesagt „[…] bestand […] nach der Lehre des Koran […] eine der Grundvoraussetzungen für die Erlangung des wahren Glaubens darin, die ihn umgebenden natürlichen Gegebenheiten nicht als einfache Objekte, sondern als Zeichen der Güte Gottes gegenüber dem Menschen zu betrachten“ (Izutsu, 1975).

So gesehen war die Aufforderung des Korans an diejenigen, die er ansprach, „zu lesen“, weit über eine Anforderung hinaus, einen geschriebenen Text, ein Buch oder etwas aus dem Gedächtnis vorzutragen, vielmehr eine Aufforderung, das ganze Universum wie ein Buch zu „lesen“. Allein der nachfolgende Vers reicht aus, um die fundamentale Veränderung aufzuzeigen, die der Koran dem Verständnis des Universums zumisst: „Was in den Himmeln und was auf Erden ist, preist Allah“ (Sura Hadid, 57:1; Sura Dschum’a, 62:1; Sura Isra, 17:44). Der Gläubige, der den Koran liest, erkennt, dass alles im Universum Allah verherrlicht.

„Die Erde, die Himmel und alle Wesen darin, loben, preisen und verherrlichen Ihn. Das Blau der Himmel, das Grün der Felder, die Schönheit der Gärten, das Rascheln der Bäume und Wälder, das Rauschen der Bächer, das melodische Zwitschern der Vögel, der Auf- und Untergang der Sonne, die regenspendenden Wolken, all das, all das ist eine Lobpreisung Gottes und die Bezeugung seiner Einheit. Aber ‚Ihr könnt ihre Lobpreisung nicht verstehen, weil sie nicht es nicht in eurer Sprache tun‘“ (Sabunî, 1995).

Konsumverhalten der Muslime von Westen beeinflusst

Wie man sieht, hat der Koran die Gemeinschaft selbst, der er offenbart worden ist, und ihr Verständnis des Universums von Grund auf verändert. Um das Einheitsverständnis herum ist ein neues Modell des Menschen und des Universums entstanden. Demnach hat Gott das gesamte Universum erschaffen. Er ist es, der die Himmel mit der Sonne, dem Mond und den Sternen, die Erde mit Blumen, Bäumen, Gärten und den verschiedensten Tieren geschmückt hat. Wiederum er ist es, der auf der Erde die Flüsse zum Fließen bringt, die Himmel ohne Stützten hält, den Regen fallen lässt und die Grenze zwischen Tag und Nacht festlegt. Der Reichtum und die Lebendigkeit des gesamten Universums sind das Werk und die Kunst seines Erschaffers, also Gottes. Wieder er ist es, der die Tiere und die Pflanzen in Paare erschaffen hat und ihre Vermehrung bewirkt. Später dann hat Gott auch den Menschen erschaffen.

Trotz dieses ganzheitlichen Weltbilds, das der Koran uns vorstellt, ist das Entwicklungsverständnis und das Konsumverhalten der muslimischen Gemeinschaften vom westlichen Weltbild beeinflusst – mehr noch: sie versuchen es nachzuahmen. Obwohl Seyyed Hossain Nasr immer wieder auf diesen Punkt hingewiesen hat, versuchen die Anführer und Technokraten der islamischen Länder die Wirtschafts- und Entwicklungsmodelle des Westens zu imitieren, trotz ihrer Erkenntnis, dass sie nicht weiterführbar sind. Dabei könnten wir als Muslime der gesamten Menschheit ein „islamisches“ Modell für Entwicklung und Konsumkultur vorstellen, welches das Maß, das Gleichgewicht, die Harmonie und die spirituelle Dimension, die Gott im Universum erschaffen hat, dauerhaft hervorhebt und sich die Makâsid al-Scharia, die Ziele, die die Religion zu verwirklichen sucht, zum Grundsatz nimmt. An dieser Hoffnung halte ich fest.

Zuflucht in der Religion

Die Hinwendung der Umweltschützer zu Religion und spirituellen Werten ist nicht nur Nostalgie; Es ist die letzte Hoffnung und Zuflucht der Menschen von heute, denen der wissenschaftliche Materialismus zusammen mit ihrer spirituellen und transzendentalen Welt auch die materielle Welt zerstört hat, so dass sie keine saubere Luft zum Atmen, kein sauberes Wasser zum Trinken und kein sauberes Meer zum Schwimmen mehr haben. An dieser Stelle sind die Umweltprobleme zu einem Identitätsproblem geworden. Dabei geht es nicht nur um ein technologisches Problem, sondern um ein solches, das mit der Bedeutung des Menschen, seiner Stellung in der Welt, seiner Freiheit, den Grenzen dieser Freiheit, der Bedeutung der Welt und des Universums und der Stellung des Menschen darin zu tun hat.

Deshalb finden wir uns, wenn es um Umweltprobleme und ihre Lösung geht, dem Phänomen der Religion und Kultur gegenüber, das nicht vergessen werden darf. Denn die Menschen werden in eine bestimmte Kultur und eine bestimmte religiöse Atmosphäre hineingeboren. Die Werturteile, zu denen der Mensch über sich selbst, über andere Menschen, über die Welt und die Natur gelangt, werden von den Religionen und Kulturen geprägt.

Studien haben gezeigt, dass Bildungs- und Entwicklungsprogramme, welche die Religionen und Kulturen der Menschen nicht berücksichtigen, nicht nur ihre Ziele nicht erreichen, sondern dass die Menschen sich gegen diese ihnen aufgezwungenen Programme regelrecht zur Wehr setzen. Diese Tatsache, die auch durch soziologische, anthropologische und psychologische Forschungen gestützt wird, hat die UN-Organisation dazu bewegt zu empfehlen, dass jede Nation ihren eigenen religiösen und kulturellen Reichtum für den Umweltschutz nutzen sollte. Nachdem das Ziel und der Zweck es ist, die Welt und das Ökosystem zu schützen und eine gesündere Zukunft aufzubauen, ist der Beitrag, den die Religionen leisten können, natürlich beträchtlich.

Fazit

Kurz gesagt, die Klimakrise ist eine Identitätskrise. Solange Muslime ihre Identität nicht auf das Weltbild des Korans gründend wiederaufbauen, scheint es nicht möglich, diese und andere Probleme zu lösen. Der pakistanische Philosoph und Dichter Muhammad Iqbal unterstrich dies schon 1930 in seinem Buch The Reconstruction of Religious Thought in Islam. Man kann sagen, dass das nur schwach ausgeprägte Umweltbewusstsein in muslimischen Ländern wiederum mit der Weltanschauung und dem „Selbstverständnis“ zusammenhängt.

Die Menschen schützen, was ihnen gehört und was sie lieben und sind auch bereit, dafür etwas in Kauf zu nehmen. Wer das Universum, die Schöpfung Gottes nicht als dessen Buch sieht und betrachtet, wer nicht erkennt, hört und fühlt, wie seine schönen Namen sich jeden Augenblick in der Welt um uns herum manifestieren, von dem kann man nicht erwarten, dass er sie liebt und schützt.