Die Gewalteskalation im Gazastreifen erschüttert Menschen weltweit. In Deutschland leben viele Muslime, die aus Gaza stammen und dort eine Familie haben. Im Gespräch mit IslamiQ sprechen sie über ihre Gefühle.
Die Lage im Gazastreifen eskaliert von Tag zu Tag. Die Zahl der Opfer liegt bei knapp 9.000. Während die meisten europäischen Länder Israel ihre volle Unterstützung zusichern, beobachten die Palästinenser das Geschehen mit großer Sorge. Die Bevölkerung im Gazastreifen kämpft unter sehr schwierigen Bedingungen. Die israelische Regierung hat eine Blockade verhängt: kein Strom, kein Wasser, keine Lebensmittel.
Weltweit kommt es zu immer größeren propalästinensischen Demonstrationen und Kundgebungen. Zehntausende von Demonstranten verlangten in vielen Städten Deutschlands sowie etwa in den USA, Frankreich und Großbritannien ein Ende der israelischen Bombardements im Gazastreifen.
Doch wie geht es den Menschen, deren Familien und Verwandten im Kriegsgebet leben? IslamiQ hat mit zwei Betroffenen gesprochen. Einer von ihnen ist der 24-jährige Ahmad* (24). Er ist über die aktuelle Lage im Gazastreifen erschüttert. Ahmad ist der einzige von vier älteren Geschwistern, der in Gaza auf die Welt gekommen ist. Mit 3 Monaten ist er nach Deutschland gekommen.
Ein großer Teil der Verwandten von Ahmad leben in Palästina. Er habe immer wieder Kontakt zu ihnen über WhatsApp. Zwischen 3 und 5 Uhr morgens bekommt Ahmad eine Nachricht: „Die Töne der Kampfflugzeuge machen einen verrückt, man kann nicht schlafen, unsere Gedanken sind durcheinander, man hofft nur darauf, das Nachtgebet zu erreichen und Ruhe zu bekommen“. Seine Verwandten zeigen Geduld und hoffen auf ein Ende dieser Tage.
„Ich bin einfach nur entsetzt und traurig. Niemand spricht über das Leid in Gaza“, sagt Ahmad gegenüber IslamiQ. Niemand spreche hier über Tausende tote Zivilisten. Es gehe um Menschenleben – ob dieser Mensch ein Jude, Christ oder Muslim ist, spiele keine Rolle. Ahmad empfindet es als traurig, dass er in Deutschland als Terrorist oder Antisemit abgestempelt wird, weil er sich für den Frieden aller einsetzt. „Ich hatte noch nie etwas gegen Juden oder Christen“, sagt Ahmad. Seit Jahren pflegt er ein gutes Verhältnis mit Andersgläubigen und besucht regelmäßig Kirchen und Synagogen. „Ich würde gerne der ganzen Welt erklären, dass es in diesem Krieg nicht um Religionen geht.“
Ahmad kann seine Gefühle nicht wirklich beschreiben. „Stellt euch vor, ihr lebt in Deutschland und eure Familie lebt im Gazastreifen. Du siehst und hörst die Nachrichten in Dauerschleife. Weißt nicht, wer überlebt und wer stirbt. Du kannst deine Familie nicht fragen, wie es ihnen geht. Hoffst aber immer wieder auf ein Lebenszeichen – es geht nicht um ‚mir geht es gut oder schlecht‘, es geht um ‚ich lebe oder nicht‘. Diese Ungewissheit, verbunden mit Angst, macht mich seit Wochen verrückt“, so Ahmad weiter.
Zum Ende des Gesprächs zeigt sich Ahmad besorgt darüber, dass sich Schülerinnen und Schüler, zu den Vorfällen im Gazastreifen positionieren müssen. Ein 15-Jähriger mit palästinensischen Wurzeln aus seiner Bekanntschaft wurde in der Schule so sehr diskriminiert, dass er weinend nach Hause ging. Ihm wurde vorgeworfen, er sei ein Terrorist. „Wir befinden uns dauerhaft im Rechtfertigungsdruck, auch weil sehr viele falsche Informationen weitererzählt werden. Wir dürfen aber nicht damit aufhören, über das Leid der Menschen in Gaza zu sprechen“.
Hilflosigkeit ist das erste Wort, das Marwa* einfällt. Sie ist so weit weg von ihren Verwandten und versucht, ihre Angehörigen per Festnetz zu erreichen. Da ihre Verwandten keinen Zugang zum Internet haben, fragen sie Marwa, wo und was bombardiert wurde. Sie selbst würden nur die Bomben hören und fragten Marwa: „Das klang so nah – wisst ihr, wo, was vorgefallen ist?“.
„Wir fühlen uns extrem hilflos“, sagt Marwa. Das anfängliche Verbot von Demonstrationen und dass man bestimmte Dinge nicht sagen darf, dass die palästinensische Flagge mit Hamas gleichgesetzt wird, habe diese Hilflosigkeit vertieft. Die aktuelle Situation hat vieles in ihrem Alltag verändert. „Ich laufe durch die Straßen hier in Deutschland und habe das Gefühl, dass ich als Frau mit Kopftuch schief angesehen werde. Das habe ich hier noch nie erlebt. Es ist ein sehr unangenehmes Gefühl, als Problem wahrgenommen zu werden.“
Am 7. Oktober feierte Marwa ihre Hennafeier. Mitten auf der Feier haben sie die Musik ausgeschaltet. Marwa hat auch ihre Hochzeit verschoben, weil sie in diesem Zustand nicht feiern wollte. Einerseits denkt sie, dass das Leben weitergehen muss – aber der Schmerz sei einfach so groß. Ihre Verwandten können kaum glauben und nachvollziehen, wie sehr sie hier mit leiden. „Wir fühlen uns hilflos, eingeengt und belastet. Als sei unser Leben auf Eis gelegt.“
Marwas Bruder ist in der 9. Klasse. Er musste sich in der letzten Zeit immer wieder im Unterricht rechtfertigen. Er werde so behandelt, als sei er an allem Schuld. Marwa habe dann das Gespräch mit Schuldirektor gesucht. „Kinder sollten sich dafür nicht rechtfertigen müssen. Ich habe ihm gesagt, wie wir uns zurzeit fühlen und wie mein Bruder sich gerade fühlt und dass das einfach nicht fair ist. Doch auch nach dem Gespräch hat sich nicht viel verändert“, erklärt Marwa weiter. Erst nachdem der Bürgermeister ein Schreiben an die Schulen herausgeschickt hatte, wurde die Situation an der Schule entspannter.
Telefonate sind für Marwa zurzeit erschreckend. Sie haben es sich zur Angewohnheit gemacht, dass sie einander vorher Bescheid sagen, warum sie anrufen. Sonst denke man, es sei etwas Schlimmes passiert. Im Vergleich zu den ersten Tagen geht es Marwa etwas besser. Trotzdem versucht sie, die Medien zu vermeiden. „Es tut mir einfach viel zu weh. Selbst mein Vater, der normalerweise viel Wert darauf legt, deutsche Nachrichten zu verfolgen, versucht sich von den Inhalten fernzuhalten. Wenn wir uns vorstellen, dass die Leute draußen die Dinge nur auf diese Weise hören und kennen, kann ich das nicht ertragen.“
* Die Namen wurden von der Redaktion aus Rücksichtnahme geändert.