Nahostkonflikt

Entfremdete Trauer – wenn der Schmerz sich fern anfühlt

Die Gewalteskalation im Nahostkonflikt hat erschreckende Ausmaße angenommen. Die Bilder lösen Trauer und Betroffenheit aus. Doch die öffentliche Debatte erschwert die Trauer um die palästinensische Zivilbevölkerung.

09
11
2023
Menschen in Gaza trauern
Menschen in Gaza vor ihrem zerstörten Zuhause © Anadolu Images, bearbeitet by iQ.

Wir befinden uns im 34. Tag des Todes und der Zerstörung des palästinensischen Volkes im Gazastreifen. Vielen Menschen geht das Leid in Gaza sehr nahe. Vielen wird die Last ihrer Trauer schwerer, während sie die Gräueltaten aus der Ferne inmitten ihres Alltags beobachten.

Verwirrt und desorientiert – Menschen, die mitfühlen, durchleben die gesamte Bandbreite der Trauer. Seelisch fühlen sie die gesamte Palette der Emotionen, von Taubheit über wütenden Ärger bis hin zu Trauer, Schuldgefühlen und Angst. Körperlich fühlen sie sich müde, übel, kämpfen mit Schmerzen und finden sich entweder im übermäßigen Schlaf oder völliger Schlaflosigkeit wieder. Bei der Arbeit oder in der Schule können sie sich nicht konzentrieren – sie fühlen sich entfremdet, „benebelt“, mit den schrecklichen Bildern und Videos aus Gaza beschäftigt.

Doch selbst wenn die Gefühle so stark sind, verdrängen und leugnen sie die Trauer, indem sie sich zwingen, wie gewohnt „weiterzumachen“. Sie sagen sich: „Ich habe kein Recht zu trauern… ich kenne diese Menschen nicht“ oder: „…aber ich bin nicht Palästinenser“, „das Leben muss weitergehen“, während sie das Bild einer palästinensischen Mutter, die ihr totes Kind in ihren Armen hält, in eine Ecke ihres Geistes schieben – ohne zu realisieren, dass diese Trauer, dieser Schmerz, den wir alle fühlen, real ist und dass das, was den Palästinensern im Gazastreifen passiert, nicht nur jemandem in Ferne geschieht, sondern uns allen, egal wo wir sind.

Dr. Saliha Afridi ist klinischische Psychologin in den USA. Mehr zu ihrer Arbeit findet ihr auf Instagram und auf ihrer Webseite.

In der heutigen digital vernetzten Welt überfluten Bilder und Geschichten von traumatischen Ereignissen unsere Bildschirme in Echtzeit. Selbst wenn wir Meilen entfernt und körperlich vor der unmittelbaren Gefahr sicher sind, kann die emotionale Wirkung des Zeugens dieser Ereignisse signifikant sein. Dieses Gefühl, das oft übersehen und unterbewertet wird, nennt man „entfremdete Trauer“.

Verständnis für entfremdeten Trauer

„Entfremdete Trauer“ bezieht sich auf eine Trauererfahrung, die nicht offen anerkannt, sozial sanktioniert oder öffentlich geteilt wird. Diese Form der Trauer kann entstehen, wenn die Beziehung zum Verstorbenen oder die Umstände des Verlustes nicht anerkannt werden. In diesem Kontext ist sie in uns allen präsent, wenn wir uns der Trauer des palästinensischen Volkes anschließen, das wir nie getroffen haben, der Tausenden unschuldigen Leben, die verloren gehen, der zerstörten Häuser und der Millionen von vertriebenen und getrennten Familien.

Auch wenn wir physisch distanziert und nicht direkt betroffen sind, ruft das Ausmaß des Leidens der Palästinenser starke Gefühle von Trauer, Traurigkeit und Hilflosigkeit in uns hervor. Das ist natürlich und menschlich, doch die Gesellschaft, unsere Schulen und unsere Arbeitsplätze mögen diese Emotionen nicht immer validieren, weil es keine „direkte“ Verbindung oder keinen „legitimen“ Verlust gibt.

Andere Formen der Trauer

Während wir um die unschuldigen Zivilisten im Gazastreifen trauern, trauern viele von uns auch um andere Verluste, die durch die jüngsten Ereignisse im Gazastreifen wieder ans Tageslicht gekommen sind. Und unsere Trauer erstreckt sich über Grenzen und Zeiten hinweg. Plötzlich sehen wir auf unseren Bildschirmen, was die Palästinenser seit über einem halben Jahrhundert erdulden mussten, als Hunderttausende von ihnen Tod, Vertreibung und Unterwerfung ausgesetzt waren. Unsere Trauer erstreckt sich auf alle Menschen, die der Unterdrückung ausgesetzt waren. Menschen verschiedener Hautfarben und anderer Minderheiten erinnern sich an ihre Mütter, Väter und Großeltern – und unzählige andere –, die von kolonialen, faschistischen und rassistischen Politiken und Regierungen unterdrückt wurden oder immer noch werden. In unserer kollektiven Erinnerung halten wir Raum für jede Person, der ihre grundlegenden Menschenrechte und Würde verwehrt wurde.

Wir trauern und beklagen

Wir trauern um den Verlust der Vorstellung, dass alle Menschenleben wichtig sind oder dass sie wichtig wären, wenn „die Menschen es nur wüssten“. Denn jetzt wissen wir, dass dem nicht so ist, dass nicht alle Menschenleben gleichermaßen wichtig sind, das Leben von Menschen muslimischen Glaubens, das der arabischstämmigen. Wir trauern um die Menschen, die so sehr in den Grenzen ihrer Ideologien, ihres Hasses und ihrer Angst gefangen sind, dass sie blind und taub für die Qualen eines anderen Menschen bleiben. Diejenigen, die aufgrund von Unterschieden in Religion, Rasse oder Hautfarbe den ungerechten Verlust von unschuldigen Menschenleben nicht betrauern können.

Wir trauern um den Verlust einer Weltanschauung, an die wir uns seit unserer Jugend klammerten – den Traum, dass „Frieden auf Erden“ nicht nur eine Floskel bleibt, sondern eine Realität ist. Heute sind wir mit der Wahrscheinlichkeit konfrontiert, dass wir diesen Frieden nicht mehr erleben werden. Wir beklagen den entmutigenden Verlust des Glaubens an das Sprichwort „Geschichte wird sich nicht wiederholen, wenn wir daraus lernen“, während wir Zeuge eines Völkermordes werden, der per Livestream übertragen wird.

Wir trauern um den Verlust des Respekts vor Unternehmen, Prominenten, Künstlern, Sportlern und Regierungen, die wir bewunderten, weil wir glaubten, dass sie sich für die Menschlichkeit einsetzen; Stattdessen verstärkten sie die Tragödien einiger selektiv, während sie für andere schwiegen.

Wir beklagen den Verlust der Sicherheit und des Vertrauens in den Schutzschild, den die „internationalen Gesetze“ versprachen. Stattdessen fühlt sich die Welt eher wie ein anarchisches Reich an, in dem die Gerechtigkeit sichtlich schwindet. Wir trauern um den unwiderruflichen Verlust der Unschuld, denn die Realitäten, mit denen wir konfrontiert wurden, haben uns für immer verändert und unsere Ansichten neu geprägt.

Die Anerkennung dieser Formen der Trauer ist aus zwei Aspekten wichtig:

Kollektives Bewusstsein: In einer vernetzten Welt können Ereignisse in einem Teil des Globus Emotionen und Wahrnehmungen anderswo beeinflussen. Wenn entfremdete Trauer nicht angesprochen wird, kann sie zu weit verbreiteten Gefühlen von Ohnmacht, Schuldgefühlen oder Apathie führen, die die gesellschaftliche Einstellung und das Verhalten beeinflussen können. Wenn Massen sich machtlos fühlen, könnten sie sich aus der Bürgerbeteiligung zurückziehen, was eine reduzierte Gemeinschaftskohäsion und -resilienz zur Folge hätte. Die Anerkennung dieser Gefühle, ihnen den Raum und die Anerkennung zu geben, die sie verdienen, ist nicht nur ein Akt der Selbstfürsorge; es ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit. In kollektiver Trauer heilen wir nicht nur uns selbst, sondern stärken auch das eigentliche Gewebe unserer Gemeinschaften. Die Anerkennung und Ansprache unserer emotionalen Reaktionen führen zu einem gesünderen Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft.

Persönliches Wohlbefinden: Wenn Gefühle von Trauer oder Traurigkeit ignoriert oder unterdrückt werden, verschwinden sie nicht einfach. Stattdessen finden sie Zuflucht in den tieferen Winkeln unserer Psyche und tauchen gelegentlich auf unerwartete Weise auf. Im Laufe der Zeit können diese Gefühle ein Reservoir ungelöster Emotionen bilden, die sich in Form von anhaltendem Stress, Anfällen von unerklärlicher Traurigkeit, erhöhter Angst oder Gefühle der Entfremdung manifestieren äußern.

Umgang mit entfremdeter Trauer

Das Gewicht der Trauer zu spüren, kann überwältigend sein. Es gibt Methoden, die dabei helfen, Trauer zu verarbeiten und damit umzugehen:

Gefühle anerkennen: Verstehe, dass deine Trauer gültig ist. Es ist natürlich und normal, Trauer, Ärger oder Hilflosigkeit zu empfinden – sowie alle anderen Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen, die aus dieser tiefen Traurigkeit resultieren. Die Akzeptanz und Schaffung von Raum für diese Emotionen in deinem Alltag ist der erste Schritt, um sie anzugehen.

Unterstützung suchen: Trauer, insbesondere kollektive Trauer, soll nicht allein getragen werden. Das Wort „Trauer“ stammt vom lateinischen Wort „gravis“, was „schwer“ bedeutet. Sich mit Freunden oder in einer Unterstützungsgruppe zu umgeben, die ähnliche Probleme haben, kann dir dabei helfen, deine Emotionen zu benennen und sie zu verarbeiten.

Auf sozialen Kanälen engagieren: In solchen Situationen ist es zwar entscheidend, informiert zu bleiben und online Unterstützung zu zeigen, aber es ist auch wichtig, dies bewusst und verantwortungsvoll zu tun. Lege spezifische Zeiten fest, in denen du dich engagieren wirst, greife dabei auf zuverlässige Informationsquellen zurück und verliere nicht den Bezug zu deiner eigenen Realität: Verbringe weiterhin Zeit mit deiner Familie und gehe wie gewohnt deinen Verpflichtungen nach, während du dich für das Schicksal der Palästinenser einsetzt.

An konstruktiven Aktionen beteiligen: Wut ist eine mobilisierende Energie, und wenn sie eingesetzt wird, um Mitgefühl, Frieden und Menschlichkeit zu fördern, hat sie die enorme Kraft, die Welt zu verändern. Unterstütze humanitäre Hilfsaktionen oder Organisationen mit Spenden oder mit deinem ehrenamtlichen Engagement. Selbst kleine Gesten wie die Unterstützung von jemandem, der aktiv involviert ist, oder das Senden eines Hilfspakets oder einer Spende können einen Unterschied machen und ein gesundes Ventil für deine Emotionen bieten.

Selbstberuhigung und Selbstfürsorge praktizieren: Anhaltende emotionale Überlastung kann dazu führen, dass deine Psyche in den „Schutz“-Modus übergeht und zu einer Desensibilisierung, Entfremdung oder Taubheit führt. Führe Aktivitäten durch, die deine mentale und emotionale Gesundheit fördern, damit du aktiv bleibst.

Professionelle Hilfe suchen: Wenn deine Gefühle überhandnehmen oder anhaltend werden, hole dir Beratung oder Begleitung von kompetenten Fachkräften. Sie können einen Raum bieten, um deine Emotionen zu verarbeiten, sowie Bewältigungsstrategien, die auf deine Bedürfnisse zugeschnitten sind.

„Wir können etwas bewirken“

Die „entfremdete Trauer“, die durch die Zerstörung und das Leid in fernen Ländern entstanden ist, ist ein Zeugnis der menschlichen Empathiefähigkeit. Sie ist eine Erinnerung an unsere gemeinsame Menschlichkeit. Es ist entscheidend, unsere kollektive und persönliche Trauer zu erkennen, anzusprechen und zu lenken, dass wir sowohl für uns selbst als auch für die Welt als Ganzes etwas bewirken können.

Leserkommentare

Evergreen sagt:
Das Leid im Gazastreifen und auf der Westbank ist entsetzlich. Und trotzdem darf man den Kern des Problems darüber nicht vergessen oder gar vernebeln. Seit 1948 wird das Existenzrecht Israels immer wieder mit Worten, Terror, Geiselnahme, Selbstmordattentaten und Kriegen in Frage gestellt. Die HAMAS und ihre vielen Partnerorganisationen wollen auch jetzt noch erklärtermaßen den Staat Israel ausradieren und nach eigenen Worten bis zum Endsieg Terrorangriffe immer wieder fortsetzen. Wenn die Hamas ihre Raketen und Brigaden nach dem Imam Al-QASSAN benennt, müssen die israelischen Sirenen schrillen. Alliierter von Al-Qassam war der Mufti von Jerusalem Al-Husseini. Dieser war Komplize Adolf Hitlers und schleuste Muslime in die nationalsozialistische Waffen-SS. Freiwillig, wissentlich und aktiv förderte er die Massenmorde an Millionen Juden. Häufig bei unterschiedlichen Gelegenheiten Mufti Al-Husseini : „Tötet die Juden, wo immer ihr sie findet. Das gefällt Gott, der Geschichte und dem Glauben.“ Das ist der Kern des Problems und Leids: Wo man das Existenzrecht Israel leugnet, den Staat ausradieren und auf dem Weg dorthin allen greifbaren jüdischen Individuen an die Gurgel will, ist kein Kompromiss möglich. Wer sich von solchem Denken nicht eindeutig lauthals distanziert – auch in unseren muslimischen Gemeinden, auf den Straßen und im Internet, darf über erlittenes Leid klagen. Aber solche Klagen haben einen seltsamen Beigeschmack. Im Übrigen hielt ich Netanjahus Politik immer für verhängnisvoll, die Linie der Partei Ben Gvirs für verbrecherisch und Merkel am israelischen Kabinettstisch in JERUSALEM für fatal. Die Verlautbarungen des Zentralrats der Juden in Deutschland sind interessegeleitet und teile ich oft ganz und gar nicht. Doch dieser Zentralrat hat immer wieder eindeutig auch gegen anti-muslimischen Rassismus Position bezogen. Anderslautende Leserkommentare sind unehrlich und Hetze.
09.11.23
23:24
Tarik sagt:
Zitat Oliver Ginsberg, Nachfahre von Holocaustüberlebenden: „Wer Israel jetzt noch unterstützt, setzt sich nicht für Jüdinnen und Juden und deren Nachkommen ein, sondern für ein militaristisch-koloniales Staatsprojekt ein, welches KEIN Existenzrecht für sich beanspruchen kann. Es sind MENSCHEN, die ein Existenrecht und Recht auf Leben in Würde und Freiheit haben. Staaten, welche dieses Recht systematisch und mit derartiger Grausamkeit mit Füßen treten, haben jedes Existenzrecht verwirkt, auch wennsie sich ein fassadendemokratisches Mäntelchen umhängen.“ PUNKT. DAS ist der Kern des Problems. Die z.t. bestislischen Verbrechen der zionistischen Truppen 1948 - die, wie man heute weiß VOR dem Keieg 1948 geplant waren - wurden nie geahndet. Das ging sogar soweit, dass die Brunnen palästinensischer Dörfer vergiftet wurden, um socherzustellen, dass keiner zurückkommt. Bei all dem Leid sind heute alle - um Ginsberg zu zitieren - „ fassadendemokratische“ Masken gefallen.
23.11.23
17:55