Inmitten des deutschen Laternenzaubers brodelt der Schmerz des Nahostkonflikts in vielen Seelen. Zwischen Kinderkonzerten und Kriegsrealitäten entfaltet sich für Elif Zehra Kandemir eine persönliche Odysee der Entfremdung und Empathie. Ein Kommentar.
Köln. Wir sind auf einem Kinderkonzert. Ein Saal voller Kinder begleitet das Orchester. In einem Lied heißt es: „Komm, wir malen uns die Zukunft aus!“ Am Ende des Liedes fragt die Solistin die Kinder: „Aber was ist die Zukunft überhaupt?“ Mit theatralischen Bewegungen gibt sie die Antwort: „Die Zukunft ist heute. Sie kommt nach diesem Konzert. Nicht morgen, nicht nächsten Monat, sondern genau jetzt.“
Pause.
Meine Kinder rennen um mich herum. Ich erledige meine Einkäufe. Ich putze das Haus. Gehe dann aufgrund von Schmerzen in der Brust zum Hausarzt. Die Schmerzen halten mich nachts wach. Tagsüber kann ich kaum atmen. Ich fühle mich, als hätte ich einen Schlag auf den Rücken bekommen, an den ich mich nicht erinnern kann. Der Arzt gibt mir eine Überweisung zur Radiologie und Pneumologie. Die EKG-Ergebnisse sind in Ordnung. Meine Lunge ist gesund.
Auf Instagram schalte ich die Beiträge von Motaz Azaiza auf stumm. Auch nehme ich mir eine Pause von den Beiträgen des Mohammed Zaanoun, Eye on Palestine, Middle East Eye, Shaun King. Ich gehe ein paar Tage spazieren, spiele mit den Kindern Verstecken und fühle mich wie eine echte privilegierte Weiße. Bedauerlich nur, dass ich Elif heiße. Seit einem Monat herrscht Krieg im Gazastreifen. Ich schließe meine Augen. Die Menschen in Gaza sterben weiter. Einer nach dem anderen, wie das Ticken einer Uhr. Selbst, wenn ich meine Augen schließe.
Die Journalistin Noor Harazeen teilt ein Video. Es zeigt ein Baby, das ein 2 cm großes Loch im Hinterkopf hat. Das linke Auge sieht seltsam gelähmt aus. Die Windel des Kindes ist voll. Als Mutter eines zweijährigen Kindes ist die übliche Reaktion: „Oh, schnell Windel wechseln.“ Wäre bloß nur die Windel das Problem. Noor schreibt, dass das Baby „unknown“ ist. Ich kenne das unbekannte Kind. Alles, was ich in Gaza gesehen und miterlebt habe, macht mich arbeitsunfähig. Meine deutschen Vertreter enthalten sich bei der UN-Resolution. Ich fühle mich vollends entfremdet.
Ich schließe meine Augen. Ich bin dankbar, dass ich Trauer empfinde, während andere dazu nicht fähig sind. Meine Trauer ist ein Segen, die von der deutschen Öffentlichkeit ignoriert wird. Ich versetze mich in die Lage der Mutter des „unbekannten“ Babys. Fühle, dass mein Kind und ich keinen Platz in der Gnade der Wenigen haben, die mit aalglatten Outfits in den Parlamenten sitzen, in den Talkshows reden. Mir wird bewusst, dass meine Sicherheit in Deutschland genauso zerbrechlich ist wie die Gebäude, die in Gaza bombardiert wurden.
Ich sehe ein Video von einem beschädigten, aber nicht zerstörten Gebäude, an dem sie einen toten Körper an Seilen nach unten hängen. In Deutschland werden Berichte über „Desinformation auf Social Media: Gaza-Fakes“ geteilt. Ich weigere mich, von gewissen deutschen Medien belehrt zu werden, die die Geschehnisse in Gaza leugnen. Ich sehe das Leid in Gaza, Leid in voller Klarheit. Aus 4.360 km Entfernung.
Motaz Azaiza teilt ein Video von einem Kind. Der Staub der Trümmer hat das Kind grau gefärbt. Es zittert am ganzen Körper. Sichtlich geschockt, zeigt es dem Kind neben sich seine Wunde an der Hand. Ich sehe, wie Palästinenser sterben, wirklich sterben, zerstückelt, bombardiert, unter Trümmern begraben werden.
Die meisten Politiker in Deutschland scheinen ihren moralischen Kompass verloren zu haben. Dieses selektive Gewissen ist mir nur zu gut bekannt. Es ist eine Mentalität, die Empathie und Freiheit für die „eigene“ Gruppe fordert, während sie darauf abzielt, das „andere“ zu zerstören. Ich kenne dieses Gewissen, weil ich selbst von meinen türkischen Bekannten ausgeschlossen werde, wenn ich sage: „Israelis, deren Angehörige derzeit in Gaza gefangen gehalten oder getötet werden, durchleben die Hölle. Auch denen gilt meine Trauer.“
Während es in der einen Heimat keinen Platz für das Leid der Palästinenser gibt, gibt es in der anderen keinen Platz für das Leid der Israelis. Hier bin ich eine Antisemitin, dort bin ich eine Verräterin. Je heimatloser ich mich fühle, desto intensiver empfinde ich das Leid. Das Leid des „unknown“ Babys und der zitternden Kinder. Ich möchte das tödliche Ticken der Uhr stoppen.
Ich beobachte, wie die deutsche Öffentlichkeit moralisch in den Abgrund stürzt: Ich sehe schweigend zu, wie ein Verbrechen an der Menschlichkeit verwirklicht wird. Manche sprechen sogar von Völkermord. Angetrieben von rassistischen Fantasien und unterstützt von meiner Regierung.
Pause.
Der Thoraxschmerz bleibt. Abends möchte ich zu Hause Laternen basteln, genau wie es Katja Adler vorgeschlagen hat. Ursprünglich war ein Bastelnachmittag in der Kindertagesstätte vorgesehen. Dieser wurde abgesagt. Grund: Personalmangel. Anscheinend besteht das einzige Problem der deutschen Kindertagesstätten darin, dass „Zuwanderer in den Kitas kein Weihnachten feiern wollen“. Zwischen meinen Problemen und den Problemen von privilegierten weißen Menschen liegen Welten.
Ich mache bei allen Feiern mit. Bei jedem St. Martin-Zug und bei jedem Laternenbasteln bin ich dabei. Für die Weihnachtsfeier organisiere ich die Geschenke für die Erzieherinnen in der Kita. Und trotzdem merke ich, dass ich niemals deutsch genug sein werde.
Um ehrlich zu sein, bin ich seit ein paar Wochen dankbar dafür. Ich möchte mein Gewissen nicht mehr damit belasten, weil ich nie als Teil des Ganzen gesehen werde. Ich bewahre lieber meine Würde.
Feuerpause!
Nein, Waffenstillstand!
Nicht morgen, nicht nächsten Monat, sondern genau jetzt!
Vom Kinderkonzert nehme ich folgende Botschaft mit: Die Zukunft entsteht nicht nur durch das Tanzen und Singen mit Kindern auf einem Konzert in Köln. Eine Vision, die nicht in der Lage ist, allen Kindern dieser Erde ein lebenswürdiges Leben in Schutz und Freude zu ermöglichen, ist dazu verurteilt, die Zukunft nicht in Würde gestalten zu können.