Der Krieg in Israel und Palästina ist eine Zäsur, auch für viele Menschen in Deutschland. Nichts veranschaulicht den Abgrund aus Diskursverschiebung, Menschenfeindlichkeit und Absage an universelle Normen so gut wie die Rede von Robert Habeck.
In diesen Tagen einen empörten Meinungsbeitrag über Deutschland und den Krieg in Nahost zu schreiben, ist nicht ganz einfach. Nicht weil es nicht genügend Gründe für Empörung gäbe. Das Schreiben fällt schwer, weil die Diskursverschiebung, das Ausmaß an Menschenverachtung, die Absage an all das, was gestern zwar auch schon brüchig aber doch irgendwie selbstverständlich schien, so gewaltig ist. So vernichtend, dass man versucht ist, einfach in Schockstarre davor zu verstummen.
Und weil Empörung eben auch immer ein klein bisschen Hoffnung voraussetzt, dass die eigenen Worte vermögen, daran etwas zu ändern. Aber wie soll man hoffen, wenn das einzige, worauf man sich derzeit verlassen kann, ist dass morgen schon wieder alles viel schlimmer ist.
Außerdem: Wo überhaupt anfangen? Bei den nicht enden wollenden Schreckensmeldungen aus Nahost? Beim Abgesang an Völkerrecht und universelle Normen? Bei den täglichen Angriffen auf Moscheen und Synagogen hierzulande? Bei der bedingungslosen Solidarität mit einem Staat, der vor aller Augen tagtäglich Kriegsverbrechen begeht? Bei Politikern, die sich tagelang am Slogan „Free Palestine from German Guilt“ abarbeiten, nur um mit ihrem Gerede vom importierten Antisemitismus weiter an „Free Germany from German Guilt“ zu arbeiten? Bei Medien, die sich gestern noch als Garant vor Fake News und staatlicher Desinformation inszenierten und seit fünf Wochen jede noch so irreführende Meldung staatlicher Propaganda-Abteilungen auf ihre Titelseite heben? Bei der Kriminalisierung und Stigmatisierung von all jenen, die sich für Frieden einsetzen? Bei all den gecancelten Behördenmitarbeitern, Vereinsvorständen, JournalistInnen, Künstlern und SchriftstellerInnen, deren einziges Vergehen es häufig war, die Sache mit der Gleichheit aller Menschen ernst zu nehmen? Bei jenen, die nun endlich die Chance gekommen sehen, ihren Menschenhass ungezügelt in die Welt zu schreien? Beim Schweigen jener Mehrheit, die sonst leidenschaftlich um jeden Genderstern streitet, und der nun kaum mehr einfällt als dass „da unten“ nun mal alles „sehr kompliziert“ sei? Bei den Minderheiten hierzulande, die es sich nicht leisten können, nicht betroffen zu sein, und immer häufiger über Auswandern nachdenken?
Also wo fängt man an? Vielleicht bei einem Mann, der es schaffte, viel von der Absurdität, der Bigotterie, den Unfassbarkeiten, die seit dem 7. Oktober kein Ende zu nehmen scheinen, in einer Rede zur Schau zu stellen. In zehn Minuten normalisierte Robert Habeck ein Maß an Generalverdächtigungen, Rassismus und Schuldabwehr, für die es sonst jahrelanger rechter Diskursverschiebung bedarf.
In seiner über das ganze politische Spektrum gefeierten Rede über „Israel und Antisemitismus“ machte der Wirtschaftsminister und Vizekanzler eigentlich nicht viel mehr als das, was in der rechten Schmuddelecke seit Jahren Gang und Gebe ist: die Schuld auf „die anderen“ schieben. Die anderen das sind auch in Habecks Fall jene, die seit Jahren schon in der rechtskonservativen Bubble als Alleinschuldige für alle Missstände hierzulande ausgemacht wurden: Linke, Klima-Aktivistinnen, Migranten, Putin- und Erdoğan-Fans, Post-Kolonialisten, vor allem aber Muslime.
Deren Repräsentanten, so Habeck, hätten sich infolge antisemitischer Ausschreitungen auf pro-palästinensischen Demos nicht ausreichend von der Hamas distanziert. Damit führt Habeck gleich in zweierlei Hinsicht in die Irre. Denn zum einen wurde keine der fraglichen Demos von einer der beschuldigten islamischen Religionsgemeinschaften organisiert. Zum anderen hatten zum Zeitpunkt von Habecks Rede alle relevanten islamischen Institutionen bereits von sich aus die gewünschte Distanzierung erbracht: die großen wie DITIB, Islamrat und Zentralrat der Muslime genauso wie kleinere wie die Union der Islamisch-Albanischer Zentren oder der Zentralrat der Marokkaner in Deutschland. Welche Organisation genau, ihm in dieser Liste fehlt, sagt Habeck nicht und schürt damit weitere Verdächtigungen.
Auch die wesentlich wichtigere Frage beantwortete Habeck nicht: Warum sollten deutsche Muslime sich überhaupt von einer Organisation distanzieren, mit der sie überhaupt nichts zu tun haben? Dass man einen grünen Minister überhaupt auf die Problematik solcher Pauschalisierungen in Zeiten täglicher antimuslimischer Übergriffe hinweisen muss, verdeutlicht, wie sehr sich der Diskurs in den letzten Wochen verschoben hat. Hätte ein AfD-Abgeordneter vor sechs Wochen vom Rednerpult des Bundestag Ähnliches versucht, ihm wäre der lautstarke Widerspruch der Grünen-Fraktion gewiss gewesen. Heute feiern Grüne und AfD solch ausgrenzende Rhetorik gemeinsam als „wohltuend differenziert“, „historisch“ und „staatsmännisch“.
Die große Wirkung der Rede lässt sich auch daran ablesen, dass eine Woche später Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gleich versuchte, Habecks Erfolgsrezept zu kopieren. Diesmal waren es „Menschen mit palästinensischen und arabischen Wurzeln“, die sich von der Hamas distanzieren sollten. Innerhalb einer Woche machten Vizekanzler und Bundespräsident eine ganze Bevölkerungsgruppe zu potenziellen Terror-Unterstützern. Mehr staatliche Legitimation kann Generalverdacht kaum bekommen.
Aber die Gefahr von Habecks Rede geht über die symbolische Wirkung hinaus. So wie in den letzten Wochen die Pauschalverbote von Demos und traditioneller palästinensischer Kleidung an Schulen, am Rechtsverständnis vieler Behörden zweifeln ließen, offenbart auch Robert Habeck ein gefährliches Verständnis von Demokratie und Grundrechten.
„Die hier lebenden Muslime haben Schutz vor rechtsextremer Gewalt“, sagt Habeck und ergänzt, dass diese sich im Gegenzug schützend vor Juden und Jüdinnen stellen sollen. Das klänge schön, handelte es sich dabei um das gegenseitige Versprechen zweier gleichberechtigter jüdischer und muslimischer Mitglieder eines interreligiösen Gesprächskreises. Aus dem Mund eines führenden Vertreters der deutschen Exekutive gegenüber einer der vulnerabelsten Gruppen der Gesellschaft wirkt diese Formulierung wie eine Drohung. Um sicherzugehen, dass diese auch wirklich von jedem verstanden wird, macht Habeck sie noch einmal deutlicher: „Sie müssen sich klipp und klar von Antisemitismus distanzieren, um nicht ihren eigenen Anspruch auf Toleranz zu unterlaufen.“ Was Habeck unterschlägt: Das Recht auf Schutz vor Gewalt und Diskriminierung ist bedingungslos und hängt nicht vom guten Willen des Wirtschaftsministers ab. Wenn man sich Grundrechte erst durch Wohlverhalten verdienen muss, dann sind sie keine mehr.
Dass mehr oder weniger sicher geglaubte Werte und Normen mal eben über Bord geworfen werden, ist vielleicht das verstörendste und furchterregendste Merkmal der Welt nach dem 7. Oktober. Während zurecht kaum ein Politiker-Statement ohne Verurteilung der Hamas-Terrors auskommt, hat es bis heute kein Regierungsmitglied geschafft auch nur leise Kritik an den israelischen Kriegsverbrechen und Kollektivstrafen in Gaza zu äußern. Auch Habecks Rede folgt diesem Schema. In einer von der Überzeugung moralischen Überlegenheit getragenen Rede, stellt Habeck vor allem die eigene Doppelmoral zur Schau. Ja, die Situation in Gaza sei schlimm. Jedes tote Kind sei eines zu viel. Und das Völkerrecht gelte natürlich für alle. Das ist alles, was Habeck zum Tod Tausender und dem Aushungern und Vertreiben von Millionen Menschen einfällt. Wer als muslimischer Repräsentant in Deutschland ähnlich lapidar Kriegsverbrechen abtun würde, wäre wahrscheinlich schnell aller seiner Ämter enthoben.
Wobei der Vergleich hinkt: Anders als bei den gescholtenen muslimischen Repräsentanten besteht bei Habeck als Mitglied einer Regierung, die ihre Rüstungsexporte nach Israel seit dem 7. Oktober verzehnfacht hat, tatsächlich ein Näheverhältnis zum Krieg in Nahost. Dass ausgerechnet er es wagt, Menschen, die rein gar nichts mit den Verbrechen der Hamas zu tun haben, zur Distanzierung aufzufordern, ohne selbst auch ein kritisches Wort an Israel zu richten, ist an Bigotterie kaum zu übertreffen.
Von einigen Kritikern wurde Habeck in Anschluss an seine Rede vorgeworfen, Rassismus und Antisemitismus gegeneinander auszuspielen. Das stimmt insofern, als dass Habecks Rede rassistisch ist. Das stimmt aber auch nicht, da dies bedeuten würde, dass Habecks Rede etwas mit Antisemitismusbekämpfung zu tun hätte. Daran lässt sich zumindest zweifeln. Wie seine rechtspopulistischen Ideengeber erwähnt auch Habecks jene Gruppe auffällig wenig, auf deren Konto nach wie vor die weitaus meisten antisemitischer Straftaten in Deutschland gehen: deutsche Normalos.
Ob Habeck so wirklich etwas zur Sicherheit von Juden und Jüdinnen beiträgt, kann man bezweifeln. Eine andere Sache hingegen hat er auf jeden Fall erreicht: die Entlastung deutschen Mehrheitsgesellschaft. Vielleicht ist dies auch ein Grund, warum die breite Bevölkerung so begeistert auf die Rede reagierte, während die wenigen kritischen Kommentare vor allem von migrantischen Stimmen stammten.
Andererseits: Anderthalb Wochen nach Habecks Video, ist die Empörung vielleicht ohnehin schon wieder hinfällig, der Diskurs noch ein paar Stockwerke weiter nach unten gefahren. An Stelle des Videos über Antisemitismus und Muslime des grünen Wirtschaftsministers empfehlen Regierungsmitglieder und Parteivorsitzende nun das Video eines britischen Rechtsextremisten. Die Botschaft: Alle Menschen in Gaza seien Terroristen und anders als die Hamas hätten deutsche SS-Soldaten beim Morden immerhin Skrupel geplagt. Es wird immer schlimmer dieser Tage. Zumindest darauf ist Verlass.