Was kann ein Mensch tun in einer Zeit, die von Krieg, Angst, Verlusten und Hoffnungslosigkeit geprägt ist? Ein Beispiel dafür gibt uns Rumi. Sein Todestag jährt sich zum 750. Mal.
Geboren wurde Mevlana im Jahr 1207 in Balch, das im heutigen Afghanistan liegt. Rumi wird er genannt, weil er auf ehemals römischem Gebiet lebte. So wurde Westanatolien damals genannt. Sein eigentlicher Name ist Muhammad ibn Bahauddin. Sein Vater war ein großer islamischer Gelehrter und wurde schon zu Lebzeiten als „Sultan der Gelehrten“ bezeichnet. Er flüchtete mit seiner Familie, wie so viele andere zu dieser Zeit, Richtung Westen. Das hieß nach Anatolien. In der Hauptstadt der Seldschuken fanden sie ihre neue Heimat.
Als sein Vater um 1230 starb, übernahm Rumi seinen Lehrstuhl. Er war einer der angesehensten Menschen am Hof der Seldschuken. Sprachliche Schwierigkeiten gab es keine, denn die Hofsprache war Persisch. Bis hierhin leitete Rumi eine Madrasa und war der Meister eines Sufi-Ordens – bis ein Mann in Konya auftauchte.
1244 veränderte sich das Leben Rumis fundamental. In diesem Jahr kam der Sufi Schams aus Täbris nach Konya. Die Begegnung dieser beiden ging in die Geschichte ein. Schams fragte Rumi, wer geistig auf einer höheren Stufe sei: Der bekannte Sufi Bayezid Bistami oder der letzte Gesandte Allahs, der das Siegel aller Propheten ist, Muhammad (s)? – Wie zu erwarten, sagte Rumi, dass der Prophet Muhammed (s) auf einer höheren Stufe sei. Er sei das Haupt aller Propheten und Gottesfreunde (arab. Ewliya). Doch Schams aus Täbris erwiderte Aussagen, die zu einem anderen Schluss verleiten könnten.
Der Prophet Muhammad (s) habe gesagt: „Wir preisen dich, O Allah, denn wir haben dich nicht gebührend erkannt.“ Der Sufi Bayezid Bistami habe hingegen gesagt: „Wie groß ist meine Würde, ich bin der Sultan der Sultane.“ Um dies zu verstehen, ist es nötig zu wissen, dass Bayezid Bistami zu Lebzeiten bereits den Beinamen Sultan al-Arifin erhielt. Das heißt der „Sultan der Erkennenden“. Schams aus Täbris stellte bewusst eine so provokante Frage. Die Antwort stand schon zu Beginn fest, doch ihn interessierte es, wie Rumi diesen scheinbaren Widerspruch auflösen wird.
Die Auflösung fasziniert bis heute und stellt eine große Lehre dar, für alle, die es sich zu einer Lebensaufgabe gemacht haben, ihren Charakter regelmäßig zu veredeln. Rumi sagte: „Weil der Durst Bayezid Bistamis nur gering war, ließ er sich von nur einem Schluck vom Wasser der Erkenntnis täuschen, sein Glas der Wahrnehmung war sofort gefüllt. Dagegen nahm der Durst unseres Propheten Muhammad (s) mit dem Trinken mehr und mehr zu. Sein Durst wurde nicht gestillt. Er brachte seinen Durst zu Wort und wollte Allah teala näher und näher kommen.“ Dies überliefert Ahmed Eflaki (gest. 1360) in seinem Werk „Ariflerin Menkibeleri“.
Dies war der Beginn einer Freundschaft. Es kann nicht ganz gesagt werden, wer der Meister und wer der Schüler war. Was gesagt werden kann: Zu Anfang war Rumi der Schüler. Im Werk „Makalat“, das Schams aus Täbris zugeschrieben wird, finden sich einige seiner Lehren, von der eine Aussage wiedergegeben werden soll: „Ich habe dich schlecht behandelt und du reagierst schlecht darauf. Was unterscheidet dich nun von mir?“
Lehren wie diese führten Rumi allmählich in das Geheimnis der Liebe ein. Der Gelehrte, der nie dichtete, begann zu dichten. Auf eine Art und Weise, die absolut neu für ihn selbst war. In einem Ruba’i, so werden Vierzeiler genannt, dichtet Rumi:
Als die Liebe für dich in meinem Herzen entfacht wurde,
Wurde alles, was ich besaß, verbrannt, außer der Liebe für dich.
Mein Herz legte Verstand, Belehrungen und Bücher beiseite,
Und lernte stattdessen Gedichte, Lieder und Vierzeiler.
(Rumi: Ruba’iyate. Die Vierzeiler von Rumi. Ins Deutsche übertragen von Peter Finkh. Zürich: Edition Shershir 2015
Dies sind Verse, die davon zeugen, welche freie Dichtung im damaligen muslimischen Reich möglich war. Solche Verse könnten den Eindruck erwecken, dass Rumi zu einem Menschen wurde, der der Rationalität abgeschworen hat, wie es in bestimmten Kreisen angenommen wird. Dies würde dem großen Gelehrten jedoch Unrecht tun. Neben solchen Vierzeilern, die wir nicht aus unserer heutigen, übermodernen Brille deuten sollten, sondern aus seinem Zeitgeist heraus verstehen müssen, neben solchen Vierzeilern dichtete er ebenfalls Vierzeiler wie den folgenden:
Solange ich lebe, bin ich ein Diener des Korans.
Ich bin Staub auf dem Weg Muhammeds, des Auserwählten.
Wenn jemand aus meinen Worten etwas anderes verstehen will,
Dann habe ich mit ihm gebrochen und bin über diese Worte erhaben.
(Rumi: Ruba’iyate. Die Vierzeiler von Rumi. Ins Deutsche übertragen von Peter Finkh. Zürich: Edition Shershir 2015)
Rumi auf bloße Religiosität zu beschränken und immer sein Muslimsein in den Fokus zu rücken, würde ihn jedoch auch einschränken. Nicht nur ihn: Einen Künstler auf sein privates Glaubensbekenntnis zu beschränken, verhindert, dass wir den Menschen und seine Facette der Menschlichkeit kennenlernen. Wie bei deutschen Dichtern und Denkern bieten uns seine Briefe einen Zugang zu seinem Werk. Er möchte einerseits Menschen helfen, dass sie zu mehr Erkenntnis gelangen. Andererseits möchte er ihnen den Mut geben, nach den gemachten höheren Erkenntnissen zu leben, wenn diese in der jeweiligen Gesellschaft unüblich scheinen. So schreibt Rumi in einem Brief an seinen leiblichen Sohn:
Es gibt viele naive, törichte Menschen, die mit schlechten und törichten Charakterzügen nur deshalb zufrieden sind, weil dieser und jener diese Handlungen auch ausführt. Würde ein intelligenter Mensch, der sieht, dass jemandem ein Auge fehlt, sich selbst deshalb auch ein Auge ausreißen? Dieser Charakterzug ist im Fundament schlecht und hässlicher als alle anderen Handlungen.
(Briefe ins Türkische übersetzt und herausgeben vom Rumi-Experten Abdülbaki Gölpinarli. Hier in eigener Übersetzung aus dem Türkischen.)
In seinen Briefen lernen wir die Persönlichkeit Rumis näher kennen. Während in seiner Poesie eine universalere Sprache erkennbar ist, mal begeisternd, überschwänglich und verzaubernd, so ist in seinen privaten Briefen Nüchternheit zu erkennen. Ähnlich in seinen islamischen Vorträgen. Rumi ist ein muslimischer Gelehrter. Er folgt der hanifitischen Deutungsschule (Mazhab) und ist selbst auf der Stufe eines Faqihs, d.h. jemand, der Rechtsgutachten erstellen kann. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt seine Dichtung eine besondere Bedeutung. Sie steht im Einklang mit der muslimischen Tradition. Sie ist kein Bruch. Das ist deshalb wichtig zu betonen, weil im Westen der Gedanke vorherrschte, dass Rumi trotz Islam seine Dichtungen verfasste, nicht aufgrund seines Islams.
Rumi sprach regelmäßig „Bismillah“, „Alhamdulillah“ und „Allahu Akbar“ – so wie wir Muslime es heute tun. Dieselben Worte, die von wenigen missbraucht und im Westen mit Unmenschlichkeiten assoziiert werden, verwendete Rumi, wenn er betete und dichtete. Dschelaleddin ist ein weiterer Beiname Rumis, d.h. „Schönheit der Religion“. Muslime wie Rumi und solche, die seinem Verständnis folgen, sind der Grund, warum wir Allahu Akbar mit schönen und erhebenden Dingen assoziieren.
Mongolen kamen aus dem Osten angestürmt, Kreuzkrieger kamen aus dem Westen angestürmt. In der Mitte waren die Muslime. Die Mongolen behaupteten Muslime zu sein, wie es heute bestimmte Gruppierungen tun. Im Werk „Von Allem und vom Einen“, das in deutscher Übersetzung vorliegt, sagt Rumi:
„Jemand sagte: Die Mongolen glauben auch an die Auferstehung und sagen, es werde ein Gericht geben. Er antwortete: Sie lügen. Weil sie sich mit den Muslimen zusammen tun möchten, sagen sie: »Wir wissen und glauben das auch.« […] Wenn sie nun wirklich an die Auferstehung glauben – wo ist Zeichen und Beweis dafür? Ihre Sünden und Unrecht und Übeltaten sind wie Schicht um Schicht von Schnee. Wenn die Sonne der Reue und der Umkehr kommt, Nachrichten aus dem Jenseits und Gottesfurcht, dann wird dieser Schneehaufen von Sünden ganz schmelzen, sowie die Sonne Schnee und Eis schmilzt. Wenn Schnee und Eis sagen: »Ich habe die Sonne gesehen und die Junisonne hat auf mich geschienen [d.h. den Islam erkannt und ihn auf mich wirken lassen]«, und es bleibt immer noch Schnee und Eis, würde kein vernünftiger Mensch das glauben. Es ist unmöglich, dass die Julisonne kommen und Schnee und Eis nicht schmelzen würden.“
Julisonne ist Rumis Synonym für Islam. Die Art und Weise seines Wirkens erscheint wie ein Wunder. Weshalb verfasste ein Mensch, während Kriege und Missstände herrschten, Gedicht und Texte über Liebe und Freude und Frohsinn? Die Antwort: Er wollte den Menschen Trost sein. Er bot ihnen seinen Herzensreichtum an – ohne zwischen Juden, Christen und anderen zu unterscheiden. In einem bisher nicht ganz korrekt übersetzten Zitat spricht Rumi: „Zwischen Iman und Kufr ist ein Ort, an dem treffen wir uns.“ Dies findet sich im Netz in der folgenden Variante: „Zwischen wahr und falsch ist ein Ort, an dem treffen wir uns.“
Es so zu übersetzen, ist möglich, doch beraubt es, das Zitat des ideell revolutionären Inhalts. Zischen Glaube und Unglaube, Glaube und Leugnen ist ein Ort, an dem treffen wir uns. Das ist, was Rumi lehrt. Kriege und Tyrannei dürfen nicht zwischen Menschen stehen. Das ist es, was uns Rumi als universaler Poet und als muslimischer Gelehrter, als Deuter und Exeget des Korans beibringt. Rumi ermahnt alle Islamhasser, antimuslimischen Rassisten und auch Islam missbrauchende Menschen in seinem Hauptwerk, dem Mathnawi, wie folgt: „Du hast das jungfräuliche Wort interpretiert; interpretiere dich selbst, nicht das Buch. Du interpretierst den Koran nach deiner Begierde; durch dich wird die erhabene Bedeutung erniedrigt und pervertiert.“ (Mathnawi, Band 1, Vers 1079ff)
Wer mehr zu Rumi erfahren möchte, dem sei Annemarie Schimmels Buch „Rumi. Leben und Wirken des großen Mystikers“ und ihre Übersetzung „Von allem und vom Einen“ empfohlen. Im Verlag Chalice erschien eine Übersetzung seines Hauptwerkes in Jamben, dem Versmaß, das Goethe und Schiller in ihren klassischen Dramen verwendeten. Der zeitgenössische Professor Ahmad Milad Karimi aus Münster gab eine kommentierte Ausgabe seiner liebsten Verse Rumis im Verlag Patmos heraus: „Du wurdest mit Flügeln geboren“. Friedrich Rückert übersetzte bereits vor zwei Jahrhunderten. Seine Übersetzungen sind mit wenigen Klicks im Internet zu finden.