Sebahat Özcan ist Koordinatorin für Kinder- und Jugendbücher im PLURAL Verlag und Autorin der kürzlich erschienenen Buchreihe „Was wäre wenn…?“. Im IslamiQ-Interview sprechen wir mit ihr über die Bedeutung von islamischen Kinderbüchern in Europa.
IslamiQ: Sie sind verantwortlich für die Kinderbücher des PLURAL Verlags. Der PLURAL Verlag gibt Bücher für muslimische Kinder und Erwachsene heraus. Was steckt hinter dieser Motivation?
Sebahat Özcan: Lesen ist grundlegend für das Verstehen und Deuten der sozialen Wirklichkeit. Bücher sind ein wichtiger Teil in der Sozialisierung bereits in der frühen Kindheit. Damit haben sie erheblichen Einfluss auf die Identitätsentwicklung. Sie ermöglichen erste Wahrnehmungen über sich selbst und andere Kinder zu entwickeln. Auch beeinflussen Bücher, was als normal empfunden wird.
Seit Jahrzehnten bestehen kritisch zu betrachtende hierarchisierende Darstellungen in Kinderbüchern. Seien es Kindergeschichten oder ihre Illustrationen. Erfreulicherweise wird die Gesellschaft sensibler für ihre eigene Vielfalt. Es gibt immer mehr positive Beispiele, die jedoch im Allgemeinen auf der Wahrnehmung des „Fremden“ durch die Mehrheitsgesellschaft beruhen.
Der PLURAL Verlag hat es sich zur Aufgabe gemacht, muslimische Kinder in ihrer Identitätsentwicklung zu unterstützen, einen Grundstein in der Herausbildung eines positiven Selbstbildes zu legen und in der Entdeckung und Ausbildung ihrer inneren Ressourcen mitzuwirken. Sie sollen sich als fester Bestandteil der Gesellschaft verstehen und lernen sich selbst zu ermächtigen, um ganz selbstverständlich einen positiven Beitrag zu leisten.
IslamiQ: Welche Herausforderungen sehen Sie in Bezug auf Bücher für muslimische Kinder in Europa und wie können diese Herausforderungen bewältigt werden?
Özcan: Muslimische Kinder kommen in der mehrheitlichen Kinderliteratur kaum vor. Wenn sie vorkommen, stehen sie oft in Verbindung mit eindimensionaler Migration. Selbst wenn sie teilweise schon in dritter und vierter Generation in Deutschland und Europa leben. Zudem kommt hinzu, dass diese Migration oder Mehrsprachigkeit in der Literatur problematisiert wird statt als Bereicherung wahrgenommen zu werden. Anders ist es, wenn es innereuropäische Sprachen wie Englisch oder Französisch betrifft. Die Rolle der Repräsentation von Zugehörigkeiten sind besonders prägend für muslimische Kinder, aber auch nichtmuslimische Kinder. Immerhin vermitteln diese Darstellungen dem Leser ein Bild von einer Person, die einer bestimmten Gruppe angehört. Texte und Illustrationen gelten als Information für das Kind und prägen sein Selbst- und Weltbild.
Häufig werden Menschen, die Minderheitengruppen angehören, als ohnmächtig und inferior dargestellt. Die Auswirkungen davon werden öffentlich kaum thematisiert. Stereotype Darstellungen können die Gesundheit und Persönlichkeitsempfindungen von Kindern aus marginalisierten Gruppen massiv beeinträchtigen.
Deshalb ist es wichtig, das muslimische Kinder von Protagonisten und Helden lesen und hören, die ihnen selbst ähneln, mit denen sie sich identifizieren und die sie in ihrem Handeln als Vorbild nehmen können. Es ist erfreulich, dass es immer mehr muslimische Autoren gibt, die die Literaturlandschaft bereichern.
IslamiQ: Immer mehr Eltern wollen, dass ihre Kinder die Sprache ihres Herkunftslandes nicht vergessen. Dementsprechend gibt es einen Ansturm auf die Sprachen des Herkunftslandes. Was können Sie über die Buchproduktion in dieser Richtung sagen?
Özcan: Migration ist eine gesellschaftliche Realität. Es ist richtig, dass die Annahmen bezüglich der Rückkehr in die Heimat die Gastarbeitergenerationen geprägt haben. Dieses Denken hat selbstverständlich Einfluss auf die Folgegenerationen gehabt. Ich würde die Entwicklung und das späte Beginnen mit der Materialentwicklung und den Eingang in die europäische Literaturlandschaft nicht als ein Versäumnis betrachten. Ich denke, dass der lange Wunsch und die Sehnsucht nach Heimat den Folgegenerationen für eine tiefe emotionale Verwurzlung bestimmter Werte gesorgt haben. Und damit auch dem starken Bedürfnis, diese so gut wie möglich zu bewahren. Die jungen Menschen, die mit der Sehnsucht der älteren Generation nach alter Heimat und dem Geborenwerden in der neuen Heimat, groß werden, haben die Möglichkeit, das Beste aus verschiedenen Kulturen miteinander zu kombinieren. Das ergibt teilweise spannende Synergien. Selbstverständlich sorgt es auch für Herausforderungen, aber ich bin überzeugt, dass wir uns über die Ressourcen, die darin liegen, immer noch nicht vollends bewusst sind, es aber werden
IslamiQ: Der PLURAL Verlag erstellt Materialien für den Religionsunterricht, insbesondere für Kinder. Wie groß ist das Defizit in diesem Bereich?
Özcan: Der Bedarf ist immens. Von Büchern bis hin zu Lernmaterialien und Spielzeugen besteht ein großer Bedarf. Wir versuchen diesen Bedarf mit vielen Produkten wie islamischen Lehrbüchern, Mal- und Bastelmaterialien, Postern und Kartenspielen zu decken. Denn wenn islamische Konzepte und Symbole zusammen mit ihren Werten von klein auf gelehrt werden können, fällt es den Kindern leichter, diese Werte zu verinnerlichen.
Beispielweise steht die Zakat für gesellschaftliche Gerechtigkeit, Hilfsbereitschaft und Achtsamkeit anderen gegenüber. Viele Prophetengeschichten sind verbunden mit bestimmten Symbolen. Je mehr Sinneseindrücke Kindern durch Materialien ermöglicht werden, desto stärker entwickelt sich ein Selbstbewusstsein. In Moscheegemeinden und Bildungszentren gibt es viele wertvolle Erzieher, die sowohl Kindergärten als auch andere Altersgruppen unterrichten. Einige von ihnen sind so begeistert von ihrer Arbeit, dass sie freiwillig selbst wunderbare Materialien vorbereiten und sie ihren Gruppen zur Verfügung stellen.
Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin einer Moschee. Sie hat in den letzten Jahren ein Dutzend verschiedene Spiele für muslimische Kinder entwickelt und nutzt sie in ihrer Spielgruppe. Es ist schade, wenn diese bereits bestehende hervorragende Arbeit nicht alle erreicht. Am liebsten würde ich jede einzelne Moschee persönlich besuchen, um die erstellten Materialien vor Ort zu sehen. Ich bin überzeugt, dass es zahlreiche talentierte Ehrenamtler gibt, die über sich selbst hinauswachsen.
IslamiQ: Sie haben kürzlich Bücher mit dem Titel „Was wäre, wenn…?“ veröffentlicht. Können Sie uns etwas über die Motivation hinter diesen Büchern erzählen?
Özcan: Es hat mich immer zum Nachdenken gebracht, wenn ich den Satz „Es sind die kleinen Dinge, die einen Menschen glücklich machen“, gehört habe.
Erwachsene bezeichnen nämlich einen ruhigen Moment, in dem sie innehalten, einen Kaffee trinken, aus dem Fenster schauen, ein Buch lesen oder einfach nur in der Natur stehen und tief einatmen als „klein“. Dabei sind das alles überwältigend großartige Dinge. Dass wir beispielweise saubere Luft tief in unsere Lungen einatmen dürfen, ist nichts Kleines. Das Dasein der Farben der Natur, die Kombination der Farben des Himmels und der Erde und dass wir zudem die nötigen Sinne haben all das überhaupt wahrzunehmen, ist ein reines Wunder.
Tafakkur, d.h. das Nachdenken über das Leben und die Schöpfung, gilt als einer der idealen Zustände und schönes Verhalten in der islamischen Religion. Man kann Tafakkur unendlich fortführen und es ist eine der bereichernden Handlungen des Lebens. Die „Was wäre, wenn“-Reihe ist reinstes Tafakkur.
Das kleine Mädchen heißt Duha. Ihr Name soll an den letzten Vers der Sure Duha erinnern: „Sprich überall von den Gaben deines Herrn“ (Sure Duha, 93:11) Genau das macht Duha. In dem ersten Buch betrachtet sie sich selbst. Wie hat Allah mich erschaffen? Sie blickt auf ihre Hände, Haare, ihre Augen und denkt parallel an die Menschen in ihrem Umfeld. Es ist spannend, dass jeder anders aussieht. Das Schöne ist, dass sie von dieser Andersartigkeit von jedem Einzelnen begeistert ist. Immerhin macht das jeden Einzelnen zu etwas wirklich Besonderem. Und was ich als besonders wahrnehme, was mich begeistert, das verurteile ich nicht. Das bewerte ich nicht negativ. Das ist das, was jeder Mensch im innersten bedarf – einfach so wertgeschätzt zu werden, wie er ist. Es liegt mir sehr am Herzen, dass wir uns um eine Gesellschaft bemühen, in der die Ressourcen jedes Einzelnen im Fokus stehen. Man kann sich am besten entfalten, wenn man sich angenommen und gesehen fühlt.
Im zweiten Buch geht es um den Wechsel der Jahreszeiten. Dem Leser wird vor Augen geführt, dass die Dinge, die wir jeden Tag für selbstverständlich halten, in Wirklichkeit erstaunlich sind. Beide Bücher befassen sich mit dem Thema Dankbarkeit und Besinnung durch Duha. Ich glaube, dass nur Menschen, die dankbar und achtsam sind, sich selbst, andere Menschen und ihre Umwelt respektieren und schützen und viel leichter glücklich und zufrieden sein können. Diese Bücher wollen dazu einladen.