Çetin Gültekin verlor seinen Bruder Gökhan beim rassistischen Anschlag in Hanau. Mit seinem Buch will er an den gewaltsamen Tod seines Bruders erinnern. In unserer Serie „Nachgefragt“ sprechen wir mit ihm über die Idee des Buchs und seinen Kampf um Gerechtigkeit.
IslamiQ: Wem würden Sie Ihr Buch gerne schenken und warum?
Çetin Gültekin: Ich würde mein Buch gerne Steven Spielberg schenken, da das Ganze verfilmt werden muss. Die außergewöhnliche Lebensgeschichte meines Bruders Gökhan und der rassistische Anschlag von Hanau mit all seinen Details sind filmreif und würden einen Blockbuster ergeben.
IslamiQ: Ihr Buch „Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland!“ erzählt die tragische Geschichte Ihres Bruders Gökhan und setzt sich gegen Rassismus ein. Was hat Sie dazu bewegt, diese Geschichte zu teilen?
Gültekin: Ich habe es Gökhan an seinem Grab versprochen. Die Mission, ihn unsterblich zu machen, seinem gewaltsamen Tod einen Sinn zu geben, und stets für seine Gerechtigkeit, aber auch im Sinne der ganzen Gesellschaft gegen Rassismus zu kämpfen, hat mich dazu bewegt, ein Buch darüber zu schreiben. Auch die Tatsache, dass der Öffentlichkeit noch viele Einzelheiten unbekannt sind, es keinerlei politische und juristische Konsequenzen gab, und dass dies für immer in die Historie eingehen und festgehalten werden muss, waren entscheidende Punkte.
IslamiQ: Ihr Buch in drei Wörtern zusammengefasst?
Gültekin: Ehrlich, erschreckend und erschütternd!
IslamiQ: Seit dem schrecklichen Vorfall in Hanau setzen Sie sich aktiv gegen Rassismus ein. Welche Veränderungen oder Maßnahmen würden Sie sich wünschen, um gegen Rassismus vorzugehen und ähnliche Anschläge zu verhindern?
Gültekin: Seit dem Anschlag setze ich mich täglich gegen Rassismus ein. Ich reise landesweit, nehme an Veranstaltungen teil und teile die Geschichte meines Bruders, obwohl es mir jedes Mal schwerfällt. Es ist wichtig, Rassismus und Alltagsrassismus genau zu beobachten und effektive gesetzliche Maßnahmen zu ergreifen, um Täter schnell zu bestrafen. Denn verbale Gewalt bildet den Nährboden für physische Angriffe. Beleidigungen und Drohungen sind leider noch immer an der Tagesordnung, ohne angemessene Konsequenzen für die Täter, sei es im Internet, im Alltag, in Schulen oder am Arbeitsplatz.
Es ist dringend an der Zeit, Landes- und Bundesbeauftragte gegen antimuslimischen Hass zu ernennen und ihre Positionen zu stärken. Fast jeder rassistische Anschlag hat einen islamfeindlichen Hintergrund, was durch offizielle Zahlen des Innenministeriums bestätigt wird. Die tatsächlichen Vorfälle dürften jedoch noch höher liegen.
IslamiQ: Im Dezember hat der Untersuchungsausschuss einen Bericht veröffentlicht. Dabei sind mehrere Versäumnisse der Behörden ans Licht gekommen. Wie bewerten Sie die letzten vier Jahre im Hinblick auf die Verarbeitung des Attentats?
Gültekin: Die bekannten Versäumnisse der Behörden sollten mit dem Einsatz von Familien und dem Untersuchungsausschuss Konsequenzen haben, was jedoch nicht geschah. Der Ausschuss enttäuschte, brachte keine Veränderungen, und es erfolgte keine Abberufung oder Rücktrittsforderung gegenüber den Behörden und Politikern. Im Gegenteil erhielten sie sogar Förderungen. Die Lobpreisung der Polizeiarbeit zum Attentat erscheint skandalös.
Die letzten vier Jahre waren für uns schrecklich, jeden Tag erleben wir den 19. Februar erneut. Die Trauerphase bleibt unüberwunden, und wir kämpfen weiterhin hart. Mit den Ermittlungen des Untersuchungsausschusses hatten wir die Hoffnung, dass es zumindest besser wird, aber wir wurden einmal mehr enttäuscht.
IslamiQ: Welche Botschaft möchten Sie insbesondere an junge Menschen weitergeben, um sie für den Kampf gegen Rassismus zu sensibilisieren und zu aktivieren?
Gültekin: Die aktuellen Entwicklungen in Deutschland erfordern, dass niemand mehr passiv bleibt, sondern aktiv handelt. Jeder sollte Verantwortung übernehmen und seinen Beitrag leisten, da sonst keine Verbesserung in Sicht ist. Die Realität, dass es jeden selbst oder seine Liebsten treffen kann, darf nicht vergessen werden. Rassismus betrifft alle direkt oder indirekt, und nur gemeinschaftliches Handeln kann ihn bekämpfen. Besonders junge Menschen sollten heute etwas bewirken, um morgen eine Veränderung herbeizuführen. Mit meinem Buch, das ich derzeit auf Deutschlandtour vorstelle, lade ich alle zu Veranstaltungen ein, sei es zu Lesungen oder Gedenktagen. Sich zu informieren und ein Zeichen zu setzen, indem man das Buch kauft, sind zentrale Aspekte dieser Arbeit. Nur wer wirklich darüber Bescheid weiß, kann es nachempfinden und aktiv gegen Rassismus vorgehen.
Das Interview führte Muhammed Suiçmez.