Euthanasie

Sterbehilfe im Islam – erlaubt oder verboten?

Sterbehilfe ist in Deutschland ein umstrittenes Thema. Der Bundestag diskutiert derzeit über ein neues Gesetz. Dem Islam zufolge ist das menschliche Leben unantastbar. Der Theologe Prof. Dr. Saffet Köse erklärt die Haltung zur Sterbehilfe aus Sicht des Islams.

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Sterbehilfe im Islam
Sterbehilfe im Islam © shutterstock, bearbeitet by iQ

Die Sterbehilfe, auch bekannt als Euthanasie, bezeichnet das Sterbenlassen einer Person, die keine Hoffnung auf ein Weiterleben mehr hat oder die aus unterschiedlichen Gründen unter unerträglichen Schmerzen leidet, aufgrund seines eigenen und ausdrücklichen Verlangens. Die Initiative für diese Maßnahme kommt manchmal von der leidenden Person selbst, manchmal von der behandelnden Institution oder den behandelnden Ärzten.

In der heutigen medizinischen Praxis gibt es vier Formen der Sterbehilfe, die als letzter Ausweg angesehen werden, wenn eine unheilbare Krankheit vorliegt. Die erste ist die freiwillige Euthanasie. Danach kommt die sogenannte nicht freiwillige Euthanasie. Auch bekannt als die Beendigung des Lebens aufgrund einer Entscheidung des behandelnden medizinischen Personals. Die dritte Form, die aktive Sterbehilfe, ist die aktive Beschleunigung des Todeseintritts durch einen medizinischen Eingriff. Zur vierten und letzten Form der Euthanasie kommt es durch den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen.

Die Befürworter der Sterbehilfe nennen drei Bedingungen, die vorher erfüllt sein müssen: die Einwilligung des betroffenen Patienten, unerträglich starke Schmerzen und die medizinische Unheilbarkeit des Patienten. Doch wie sieht es im Islam aus?

Schutz des Lebens als anvertrautes Gut

Dem Islam zufolge ist das Leben ein von Allah anvertrautes Gut, das geschützt werden muss. Niemand hat somit das Recht über sein eigenes Leben zu bestimmen, oder die für ihn bestimmte Lebensspanne zu verkürzen oder zu verlängern. Auch für die Menschen, die unter großen Schmerzen und Qualen leiden, ist der Selbstmord keine legitime Lösung. Das Prinzip der Unverletzlichkeit des Lebens, das dem Menschen von Allah anvertraut wurde, ist eines von fünf Grundprinzipien, die für alle Religionen gültig sind. Geschützt wird das Leben, in dem man alles vermeidet, was ihm schaden könnte, und sollte man doch auf etwas Schädliches treffen, sollte man es von sich weisen.[i] Der Mensch hat demnach nicht die Autorität, über sein eigenes Leben zu verfügen.

Tatsächlich sagt Allah im Koran: „… und bringt euch nicht selbst ums Leben… ;[ii] „… und tötet kein Leben, das Allah verwehrt hat, es sei denn aus rechtfertigendem Grund …[iii], und in einem anderen Vers wird die ungerechtfertigte Tötung eines Menschen mit der Tötung der gesamten Menschheit gleichgesetzt. [iv]

Wunsch des Todes ist nicht angemessen

Allein schon der Wunsch zu sterben, von der Tötung eines Menschen ganz zu schweigen, wird nicht als angemessen angesehen. Der Prophet sagte: „Niemand von euch soll sich aufgrund irgendeines Unglücks, das ihm in dieser Welt widerfährt, den Tod wünschen. Und wenn jemand in der Situation ist, sich den Tod wünschen zu müssen, soll er sagen: ‚O Allah, halte mich am Leben, solange wie das Leben gut für mich ist, und nimm meine Seele, wenn es der Tod ist, der gut für mich ist.‘“[v]

Wer sich selbst das Leben nimmt, macht sich schuldig

Der Prophet sagte, dass derjenige, der sich im Diesseits selbst das Leben nimmt, im Jenseits auf die gleiche Weise bestraft werde[vi] und erzählt dazu das folgende Ereignis: „In einem der Völker, die vor euch gekommen sind, gab es einmal einen verwundeten Mann. Er konnte den Schmerz seiner Wunde nicht ertragen, und so nahm er ein Messer und schnitt sich die Hand ab. Das Blut strömte ununterbrochen und der Mann starb. Daraufhin sagte Allah: ‚Mein Diener hat sich in der Frage des Lebens vor mich gestellt, deshalb habe ich ihm das Paradies verboten.‘[vii]

Keine Krankheit ohne Heilung

Der Gedanke, eine Krankheit könne unheilbar sein, wird im Islam verneint. So sagte der Prophet Muhammad (s): „Es gibt für alles ein Heilmittel, und wenn es gefunden wird, erfolgt die Heilung mit der Erlaubnis Allahs“[viii] und befahl den Menschen, sich um Heilung zu bemühen. Die medizinische Wissenschaft entwickelt sich ständig weiter. Viele Krankheiten, die früher zum Tod führten, sind heutzutage kurierbar. So ist es wiederum genauso möglich, dass manche Krankheiten, die heute unheilbar erscheinen, in Zukunft heilbar sein werden.

Kein Zwang zwischen Grund und Wirkung

Aus islamischer Sicht ist für diese Thematik auch von Bedeutung, dass es in der Beziehung zwischen Grund und Wirkung keinen unmittelbaren Zwang gibt. Die Existenz oder Nichtexistenz einer Sache ist keine notwendige Voraussetzung für die Existenz einer anderen. Als Beispiel mögen hier Feuer und Verbrennung oder Heilmittel und Heilung genannt werden. Sobald Baumwolle mit Feuer in Berührung kommt, verbrennt sie. Denn die Essenz des Feuers ist das Brennen. Aber die Fähigkeit des Feuers, Baumwolle zu verbrennen, hängt von Allahs Erlaubnis ab.

In diesem Fall ist Allah derjenige, der durch das Feuer etwas verbrennt. Als der Prophet Ibrahim (a) von seinem Volk ins Feuer geworfen wurde, konnte das Feuer ihm nicht schaden[ix], weil Allah nicht wollte, dass er verbrennt.

Bei Krankheiten verhält es sich ähnlich. Weder das Heilmittel noch der Arzt heilen einen Kranken. Genauso wenig ist es die Krankheit, die einen Menschen tötet. Die Krankheit ist eine Ursache. Eine Krankheit, von der man weiß, dass sie tödlich ist, kann eine Person töten oder auch nicht[x]. Deshalb muss nach Behandlungsmöglichkeiten gesucht, alle Bedingungen für eine Behandlung erfüllt, die Moral des Kranken hochgehalten und außerdem noch zu Allah gebetet werden.

Krankheit ist eine Prüfung

Ein Muslim sieht die Welt als einen Ort der Prüfung an. Unter anderem wird er mit dem „Leben“geprüft. Wer durch diese Prüfung geht, hat die Pflicht, geduldig und willensstark zu sein.  Allah erklärt das so: „Und wahrlich, wir werden euch mit Furcht prüfen sowie mit Hunger und Verlust an Besitz und Menschenleben und Früchten; doch verkünde den Standhaften Heil. Ihnen, die da sprechen, wenn sie ein Unheil trifft: ‚Siehe, wir gehören Allah, und zu Ihm kehren wir heim.‘ Segnungen über sie von ihrem Herrn und Barmherzigkeit! Sie sind die Rechtgeleiteten[xi];

Und in einem anderen Vers heißt es: „Wahrlich, geprüft sollt ihr an eurem Vermögen und an euch selbst. Und wahrlich, ihr werdet viel Verletzendes von denen hören, welchen die Schrift vor euch gegeben wurde und von den Polytheisten. Wenn ihr jedoch standhaft seid und gottesfürchtig — siehe, dies ist der Dinge Ratschluss.[xii]. Aus diesen Versen geht klar hervor, dass die Menschen weder das Recht noch die Befugnis haben, sich selbst das Leben zu nehmen.

Im Falle einer Krankheit – wie bei jedem Unheil, das einen Muslim trifft – hat dieser die Pflicht, sie zu überwinden und geduldig zu bleiben. Der Prophet Muhammad (s) sagte, dass die Krankheit eine Sühne für Sünden ist[xiii] und wies darauf hin, dass man sich ihr dementsprechend standhalten muss.<

Zeitgenössische islamische Rechtsgelehrten zur Sterbehilfe

Heutzutage sind sich die islamischen Rechtsgelehrten darüber einig, dass die bedeutendsten Quellen des Islams eine aktive Sterbehilfe verbieten. Diesen Standpunkt vertreten Hayrettin Karaman, Saim Yeprem von der Fatwa-Behörde des türkischen Präsidiums für religiöse Angelegenheiten, Karadawi, der Fatwa-Ausschuss der Al-Azhar-Universität, die Muftis Ägyptens und auch Organisationen wie das European Council for Fatwa and Research (EFCR), die Islamic Medical Association sowie die Islamic Medical Association of North America. Demnach ist es weder zulässig, dass der Patient sich selbst tötet, noch dass eine andere Person ihn tötet, auch nicht mit seiner Zustimmung.

Was die passive Sterbehilfe in Form des Abbruchs der Behandlung oder ihrer Verweigerung anbelangt, vertritt Yusuf al-Qaradawi die Auffassung, dass die Fortsetzung der Behandlung in Fällen, in denen Hoffnung auf Heilung besteht, verpflichtend ist[xiv].Die Versammlung der islamischen Fiqh-Akademie hat sich auf ihrer dritten Tagung in der jordanischen Hauptstadt Amman vom 11. bis 16. Oktober 1986 mit allen Aspekten der Abkoppelung von Patienten von lebenserhaltenden Geräten auseinandergesetzt und ist nach anschließender Anhörung von Fachärzten zum Schluss gekommen, dass dies haram sei.

Meinung von drei Fachärzten einholen

Die Fiqh-Akademie der islamischen Weltliga, die gegründet wurde, um die Koordination und Zusammenarbeit zwischen den islamischen Ländern auf religiöser Ebene zu gewährleisten, erklärte auf ihrer Tagung in Mekka 2015 ebenfalls, dass eine Sterbehilfe haram sei, selbst dann, wenn sie vom Patienten oder seinen Angehörigen gewünscht wird.

Wenn der für die Behandlung des Patienten verantwortliche Facharzt davon überzeugt ist, dass die Behandlung dem Patienten nützt und ihm nicht schadet, bzw. dass der Nutzen größer ist als der Schaden, muss er gemäß der Meinung der Fiqh-Akademie die Behandlung fortsetzen, auch wenn die Wirkung nur eine vorübergehende sein sollte. Der Grund dafür ist, dass Allah eine bessere Reaktion auf die Behandlung bewirken könnte, als der Arzt es erwartet.

Die Akademie hat für das Beenden der Behandlung eines Patienten die Bedingung festgelegt, dass die Meinung von drei Fachärzten vorliegen muss, die darin übereinstimmen, dass die Behandlung für den Patienten eine Qual ist und keine Verbesserung seines Zustands bewirkt. Weiterhin ist es notwendig, den Patienten weiterhin mit Nahrung zu versorgen und es muss weiterhin versucht werden, sein Leiden so weit wie möglich zu lindern oder zu beseitigen.

[i] Schâtibī, al-Muwâfakât, II, 8-12; Qarâfî, al-Furûq, IV, S. 33; Ibn Âschûr, Maqâṣûd, 78-96

[ii] Sure Nisa, 4:29

[iii] Sure An’âm, 6:151

[iv] Sure al-Mâida, 5:32

[v] Muslim, „Dhikr„, 10; Nesâî, „Genâiz„, 1-2).

[vi] Bukhari, „Genâiz“, 84; Muslim, „Iman“, 175

[vii] Buchârî, „Genâiz“, 83

[viii] Buchârî, „Tib“, 1; Muslim, „Salam“, 69

[ix] Sure Anbiyâ, 21:69

[x] al-Ghazâlî, Tahâfut, 17

[xi] Sure Al-Bakara, 2:155-157

[xii] Sure Alî-Imrân, 3:186

[xiii] Buchârî, „Merdâ“, 1, 13; Muslim, „Birr“, 45

[xiv] Tuba Erkoç, “Fıkhi Açıdan Hayatın Sonuna İlişkin Tıbbi Sorunlar: Ötanazi “, Hayatın Başlangıcı ve Sonu Tıbbi, Dinî ve Etik Sorunlar, İstanbul 2013, s. 284-285.