Sterbehilfe

„Der Zeitpunkt des Todes obliegt Allah allein“

Die Beihilfe zum Tod schwerkranker Menschen ist umstritten. In Deutschland ist die aktive Sterbehilfe verboten. Im IslamiQ-Interview erklärt Dr. Martin Kellner, wie die Sterbehilfe aus islamisch-ethischer Perspektive zu bewerten ist.

16
03
2024
0
Symbolbild: Sterbehilfe shutterstock, bearbeitet by iQ
Symbolbild: Sterbehilfe shutterstock, bearbeitet by iQ

IslamiQ: Vor drei Jahren erkannte das Bundesverfassungsgericht in einem Grundsatzurteil das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben an. Dies stößt in weiten Teilen religiöser Ethiksysteme und Deutungssysteme auf Ablehnung. Könnten Sie erläutern, wie der Islam die Ablehnung der aktiven Sterbehilfe begründet?

Dr. Martin Kellner: Das Grundsatzurteil bietet einen gesetzlichen Rahmen, in dem Menschen handeln und entscheiden können. In diesem Sinn wird aus muslimischer Sicht nicht das Gesetz an sich abgelehnt, sondern es stellt sich vielmehr die Frage, welche Angebote religiös orientierte Muslimen innerhalb des gegebenen gesetzlichen Rahmens für sich in Anspruch nehmen wollen. Hier gilt in allen mir bekannten Stellungnahmen der Grundsatz, dass die islamische Normenlehre die bewusste und gezielte Verkürzung des Lebens schwer erkrankter Menschen kategorisch ablehnt. Diese Haltung in Bezug auf direkte, aktive Sterbehilfe basiert meistens auf dem Gedanken der Unverfügbarkeit menschlichen Lebens, konkret in der religiösen Ablehnung von Freitod.

Menschliches Leben wird als schützenswert angesehen, und die Autoren in diesem Feld weisen darauf hin, dass wir uns bemühen sollen, die palliative Versorgung vor allem in Hinblick auf Schmerzlinderung zu verbessern, aber die Entscheidung über Leben und Tod nicht von Menschen getroffen werden dürfe – der Zeitpunkt des Todes obliegt Gott allein. Leiden soll verhindert oder gelindert werden, aber nicht auf dem Wege der bewussten Verkürzung von Leben.

Dieser Einwand gegen direkte aktive Sterbehilfe, aufbauend auf religiösen Texten, gilt als Orientierung für erkrankte Menschen oder deren Angehörige, die sich an religiös-ethischen Prinzipien orientieren und im Laufe der Behandlung bzw. im Falle einer schweren Krankheit vor die Wahl gestellt werden, wie sie weiter vorgehen wollen. Selbst im Rahmen einer künftig möglichen gesetzlichen Regelung pro medizinisch assistierten Suizid würde ja diese freie Wahl grundsätzlich weiterhin bestehen bleiben.

LESEN SIE AUCH

EUTHANASIE
Sterbehilfe im Islam – erlaubt oder verboten?
Sterbehilfe ist in Deutschland ein umstrittenes Thema. Dem Islam zufolge ist das menschliche Leben unantastbar. Der Theologe Prof. Dr. Saffet Köse erklärt die Haltung zur Sterbehilfe aus Sicht des Islams.

Dennoch wäre eine gesetzliche Neuregelung in Richtung der Erlaubnis aktiver Sterbehilfe von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung: Eine auch in muslimischen Schriften verwendete Begründung gegen bewusste Lebensverkürzung im Falle schwerer Krankheiten basiert auf dem Dammbruchargument: Man sieht die Gefahr einer derartigen Gesetzesänderung dahingehend, dass sozialer und emotionaler Druck auf Menschen in palliativen Krankheitssituationen ausgeübt werden könnte. Beispielsweise könnte implizit gefordert werden, dass schwer Erkrankte doch besser die Ressourcen schonen sollen oder dass man als alter oder schwer kranker Mensch das Gesundheitssystem nicht weiter belasten dürfe.

Aus einer schweren und emotional belastenden Krankheitssituation könnte ein vermeidbarer ökonomisch belastender Mehraufwand werden, der sich für die Gesellschaft „nicht mehr rechnet“. Dieses zweite Argument baut also nicht auf dem in der islamischen Literatur verankerten Suizid-Verbot, sondern vielmehr auf sekundäre soziale Folgen einer derartigen Öffnung. Solche Dammbruchargumente werden in der muslimischen Medizinethik in verschiedenen Fragestellungen häufig verwendet (aufbauend auf dem rechtsmethodologischen Prinzip „sadd al-ḏarāʾiʿ“, nämlich etwas ursprünglich Erlaubtes aufgrund zu erwartender negativer Folgen zu verbieten).

In den muslimischen Stellungnahmen zur Ethik des medizinisch assistierten Suizids stehen derartige Argumente in der Literatur aber noch im Hintergrund. Grund dafür könnte sein, dass lang andauernde palliative Behandlungen und Sterbebegleitungen im Krankenhaus – wie in Europa mittlerweile normal, unterstützt durch funktionierende Krankenversicherungssysteme- in den islamisch geprägten Ländern eher eine Ausnahme darstellen. Wenn Menschen aber in familiärer Pflege zu Hause sterben, ist die Frage über die Ethik derartiger Interventionsmöglichkeiten weniger präsent.

IslamiQ: Zwei Initiativen für eine Neuregelung der Sterbehilfe scheiterten im Juli im Bundestag. Wie beurteilen Sie das Scheitern dieser Gesetzesvorlagen in Bezug auf die Fortführung der Debatte über dieses Thema?

Kellner: Die Thematik ist ethisch hochkomplex und wir sehen uns in Bezug auf den Umgang mit todkranken PatientInnen mit unterschiedlichen, an sich verständlichen Interessen und auch Gefahrenpotentialen konfrontiert. Einerseits gibt es tatsächlich Leidenssituationen, die nach derzeitigem Entwicklungsstand der Medizin nicht behandelbar oder kontrollierbar sind und unsägliches Leid verursachen. Aus dieser Perspektive versteht man den Wunsch von Menschen, eine scheinbar nur noch aus Schmerzen bestehenden Leidenssituation beenden zu wollen. Zugleich aber ist es schwer, hier einen gesellschaftlich tragfähigen Konsens zu finden, in dem auch alle Gefahrenpotenziale von Sterbehilfe berücksichtigt werden.

Der starke ökonomische Druck auf dem Gesundheitssystem sowie der Personalnotstand in Krankenhäusern könnten Faktoren sein, die den Trend zum „schnelleren Sterben“ begünstigen; damit besteht die Gefahr, dass aus ursprünglicher Berücksichtigung von Menschenwürde und Patientenautonomie ein sozialer Druck auf ältere, schwer erkrankte und schwächere Menschen entsteht. Einen Konsens über so sensible Fragen zu finden ist in einer weltanschaulich heterogenen Gesellschaft sicher ein langwieriger Prozess, der mit sehr viel Umsicht und unter Respektierung unterschiedlicher Perspektiven und Interessen begleitet werden muss. Die Tatsache, dass die beiden Initiativen im Bundestag nicht angenommen wurden, könnte man vielmehr als Auftrag zu einer weiteren, vertieften und in Ruhe ausgetragenen Diskussion zu einer so schwierigen Thematik sehen als es im Sinne eines Scheiterns zu betrachten ist.

IslamiQ: Welche Rolle spielt aus Ihrer Perspektive die Patientenautonomie bei der Diskussion um Sterbehilfe, und wie kann sie ethisch verantwortlich berücksichtigt werden?

Kellner: Aus Sicht islamischer Medizinethik ist die Willensfreiheit des Menschen einerseits ein sehr wichtiges und zu schützendes Rechtsgut, zugleich ist diese aber durch grundlegende Prinzipien eingeschränkt. Wenn man auf Basis einer konkreten Weltanschauung davon ausgeht, dass Suizid durch ethisch-moralische Normen verboten ist, dann steht dieses Prinzip in Widerspruch zum aktuellen Wunsch des Individuums, nämlich zu diesem Zeitpunkt zu sterben. Würde man aber einen Menschen unmittelbar nach einem „missglückten“ Suizidversuch auffinden, wäre es selbstverständlich, ihn medizinisch zu behandeln – steht dies aber nicht im Gegensatz zu seinem Wunsch seinem Leben ein Ende zu setzen?

Tatsächlich ist die Frage der Patientenautonomie auch in einer säkularen Ethik nicht immer leicht zu beantworten: So kann der Wille eines Menschen temporär sein. Was sollte man tun, wenn beispielweise ein 20-jähriger kerngesunder Mensch von einem Arzt Beihilfe zum Suizid verlangen würde, weil er unter starkem Liebeskummer leidet. Würden wir hier dem Wunsch des unglücklich Verliebten im Sinne des Respekts vor autonomer Entscheidung erfüllen?

Wie würden wir den Wunsch eines schwerkranken Patienten auf schnellen Tod einschätzen, wenn wir ganz sicher wüssten, dass dieser palliativmedizinisch mangelhaft behandelt wurde und man mit besserer Behandlung einen großen Teil der Schmerzen und Beschwerden zumindest zeitweise lindern könnte? Insofern ist es völlig klar, dass medizinische Behandlung vom Grundsatz her auf die „Einverständniserklärung“ und auf Respekt vor dem Individuum des Individuums durchgeführt wird, zugleich aber auch übergeordnete Prinzipien in die Diskussion miteinfließen.

IslamiQ: Welche Instanz ist verantwortlich für die Bewertung der Entscheidung eines Patienten bezüglich der Authentizität seines Willens, und wie erfolgt diese Bewertung?

Kellner: Entweder der Patient selbst ist in der Lage, seinen Willen klar zu formulieren, oder aber es muss der mutmaßliche Patientenwillen ermittelt werden. In Notfällen beispielsweise geht man ja prinzipiell davon aus, dass der Mensch, der in einer lebensbedrohlichen Situation ist, weiterleben möchte und man bemüht sich deshalb darum, sein Leben zu retten – doch auch hier gibt es ethische Problematiken: Was macht man, wenn man davon ausgehen kann, dass das Weiterleben nur mehr Leiden bedeuten würde, beispielsweise aufgrund massiver Schädigungen im Gehirn des betroffenen Individuums? Oder was tut man, wenn man einen Patienten reanimieren will, auf dessen Brust man dann eine verblasste Tätowierung „Do not resuscitate“ findet? Derartige Fälle zeigen, wie schwer es ist, den Willen des Patienten als das einzig relevante Entscheidungskriterium zu sehen.

IslamiQ: Neben der aktiven Sterbehilfe gibt es auch die passive Sterbehilfe. Wie wird die passive Sterbehilfe aus einer islamisch-ethischen Perspektive betrachtet und wie wird sie aus religiös-ethischer Perspektive beurteilt?

Kellner: Passive Sterbehilfe im Sinne des Verzichts auf eine Therapie, die nach menschlichem Ermessen für die Patienten keinen zu erwartenden Nutzen mehr bringt, wird in der islamischen Rechtsliteratur eindeutig erlaubt. Diese religiöse Norm steht aber einer oft beobachtbaren kulturellen Haltung gegenüber, dass Angehörige und manchmal auch Patienten maximale medizinische Behandlung „bis zum letzten Atemzug“ fordern. Dabei, so wird vielfach berichtet, wird immer wieder das Argument göttlicher Allmacht eingebracht: Vom medizinischen Personal wird angeraten, in einem bestimmten präterminalen oder terminalen Krankheitsgeschehen auf weitere Behandlungen zu verzichten, weil diese keinen Nutzen mehr hätten.

Dann wird von Angehörigen oft verlangt, dass man alles versuchen solle, da Gott ja zu allem in der Lage sei und deshalb es auch möglich wäre, dass Er auch diese (medizinisch beurteilt) unheilbare Krankheit heilen könne. Die theologisch fundierte Antwort darauf wäre die, dass es zwar richtig ist, dass ein derartiges Wunder theoretisch möglich wäre, aber dass Gott dafür keine Medikamente, keine Chemotherapie und keine intensive medizinische Intervention braucht. Die Erfahrung zeigt, und das wäre das korrekte Argument für den Behandlungsreduktion, dass in einem bestimmten Krankheitsstadium viele Formen medizinischer Interventionen nur mehr schädlich sind und es aus menschlicher Sicht besser ist, diese zurückzufahren oder in manchen Fällen auch darauf zu verzichten.

Derartige Rechtsgutachten, die passive Sterbehilfe in vielen Fällen erlauben, sind weit verbreitet, aber der Wunsch nach möglichst intensiver Behandlung scheint aus verschiedenen Gründen stärker zu sein als die Stellungnahmen von muslimischen RechtsexpertInnen. Unter Umständen spielen hier auch gewisse kulturell gewachsenen Tabuisierungen von Krankheit (ganz besonders von Krebs) eine gewisse Rolle. All dies zeigt die Notwendigkeit von guter Kommunikation und Aufklärung in diesem Bereich.

IslamiQ: Welche ethischen Überlegungen sollten Ihrer Meinung nach in Betracht gezogen werden, wenn es darum geht, assistierten Suizid zu regeln und mögliche Gesetzesänderungen zu diskutieren? Und welche Rolle sollte dabei eine verbesserte palliativen Versorgung spielen?

Kellner: Die Verbesserung der palliativen Versorgung, die multiprofessionelle Zusammenarbeit im Dienste des Wohlbefindens von Menschen in ihrer letzten Lebensphase muss Priorität in diesem Bereich haben. Das Lindern von Leiden auf verschiedenen Ebenen und die Verbesserung der Lebensqualität der Patienten und ihrer Angehörigen sind zentrale Anliegen palliativer Versorgung –seelsorgerische Begleitung und theologische Expertise könnte einen wichtigen Beitrag in der Planung und Implementierung umfassender Pflege bei religiös orientierten muslimischen Patienten spielen.

Am Rande ist auch noch zu bemerken, dass es ja nicht nur um die religiösen Konzepte auf Seite der erkrankten Menschen geht. Zunehmend arbeiten im deutschen Gesundheitssystem auch Menschen mit muslimischem Bekenntnis, die in ethisch-religiöse Dilemma-Situationen hinsichtlich ihrer eigenen beruflichen Tätigkeit geraten können. Deshalb ist der Begegnungsraum zwischen MedizinerInnen, PflegerInnen, PatientInnen, Angehörigen, SeelsorgerInnen, TheologInnen, PsychologInnen und sozialen Diensten gerade im Bereich von palliativer Versorgung – in der es mehr um „Befinden als um Befunde geht“ – von so großer Bedeutung.

Erfreulich ist, dass sich in diesem Bereich innerhalb weniger Jahrzehnte in Deutschland doch so viel bewegt hat. Interkulturelle und interreligiöse Sensibilität im schwierigen Feld medizinethischer Fragestellungen am Lebensende ist sicherlich ein weiterer wichtiger Schritt in diese Richtung.

Das Interview führte Enes Bayram.