Der Nahostkrieg zieht die Aufmerksamkeit der Medien auf sich, wie kaum ein anderes Thema. Wir sprechen mit Prof. Dr. Sabine Schiffer über die Kritik an der Berichterstattung und die Rolle der Medien.
IslamiQ: Die aktuelle Berichterstattung über den Nahostkrieg in deutschen Medien wird stark kritisiert, da ihnen vorgeworfen wird, sehr einseitig zu berichten und das Leid in Gaza nicht ausreichend zu thematisieren oder sogar zu popularisieren. Teilen Sie diese Wahrnehmung?
Prof. Dr. Sabine Schiffer: Jain. Die Berichterstattung wird vielfach kritisiert. Den einen ist sie zu israelfeindlich, den anderen zu palästinenserfeindlich. Jede sieht ja immer ihren eigenen Ausschnitt. Und tatsächlich liegen quantitative empirische Daten für die deutschen Medien bislang nicht vor, soviel ich weiß. Meine persönliche Beobachtung ist – und diese basiert auf dem täglichen Hören des Deutschlandfunks, dem Querbeet-Lesen diverser Zeitungsartikel online, unregelmäßigem Hören der DLF-Presseschau und hin und wieder zielgerichtetem Schauen einer TV-Nachrichtensendung (weil ich TV eigentlich meide) – dass der Tunnelblick der ersten Wochen einer differenzierten Sicht- und Darstellungsweise gewichen ist, die versucht mehr Perspektiven als nur die der israelischen Regierung (= Bundesregierung) einzunehmen; wobei es immer noch Schlagseiten in der Markierungspraxis gibt. So wird etwa die Hamas zuverlässig als „radikal-islamisch“ gelabelt, die israelische Regierung jedoch nicht als „rechtsextrem“.
Im internationalen Medienvergleich fällt dennoch die Begrenztheit des deutschen Mediendiskurses auf, wie ich ihn beobachte. Vielleicht braucht es manchmal Schlüsselerlebnisse, wie die des ARD-Teams in der Westbank, wo es von Siedlern in Reservisten-Uniformen bedroht wurde. Seitdem wird auch immer wieder Licht auf die Situation dort geworfen, wo die Angriffe auf Palästinenser im Windschatten der Medienaufmerksamkeit auf Gaza ebenfalls zugenommen haben.
IslamiQ: Während europäische Medien im Ausland Begriffe wie „Apartheid“ oder „Genozid“ in ihren Berichterstattungen verwenden, werden diese Begriffe in deutschen Medien kritisiert. Warum?
Schiffer: Das dürfte der deutschen Geschichte geschuldet sein. Hier wird ja gerade zurecht darüber gestritten, welche Lehren aus der Geschichte zu ziehen sind. Gilt das „Nie wieder!“ nach 1945 nur den Juden, als Opfer des Holocaust, oder allen von Nazis massakrierten – also von Kommunisten bis Homosexuellen in KZs – oder gar allen Kriegsopfern und Menschen weltweit und damit auch der Absage an jeden Krieg und jede Menschenfeindlichkeit? Ich persönlich neige zu letzterem, aber die deutsche Regierungspolitik à la Staatsräson geht da offensichtlich einen anderen Weg und verwechselt Juden mit Israel; trägt also dazu bei, dass antisemitische Anfeindungen gegen Juden und Synagogen gerichtet werden, die ja nicht die israelische Regierung vertreten. Während man sich dann über steigenden Antisemitismus sorgt, erntet die zeitgleiche Zunahme antiarabischer Ressentiments kaum vergleichbare Kritik.
Unsere Medien könnten oft kritischer sein, aber auch nicht alles reparieren, was von politischer Seite ungünstig vorgegeben wird. Dennoch ließe sich nicht selten Menschenverachtung aufdecken, was einer vierten Gewalt gut zu Gesicht stünde. Gerade die Kommentierung der ICJ-Entscheidung ist an Peinlichkeit und Schlagseite kaum zu übertreffen. Viele Politiker machen sich anscheinend mehr Sorgen um den Ruf Israels als um vernichtete und bedrohte Menschenleben – und damit meine ich ausdrücklich alle Menschen in Gaza, die Palästinenser und die israelischen Geiseln.
Was die Begriffe und Programmatiken anbelangt, so führt die Schlagseite auch dazu, dass man etwa die Texte der Hamas zu Recht kritisiert, aber vergisst die Texte von Likud & Co. ebenfalls in Augenschein zu nehmen; denn die enthalten vergleichbare Passagen, dem Gegenüber die Legitimation abzusprechen. Das Weglassen von Fakten ist der Beginn der Lüge, auch wenn der gezeigte Ausschnitt wahr ist. Und natürlich fehlen – wie fast immer in der Berichterstattung – die Kräfte, die sich der Feindschaft widersetzen. Auch solche Gruppen haben nach dem Schock des Terrorangriffs vom 7. Oktober und seiner Folgen wieder Zulauf erhalten.
IslamiQ: Generell gefragt: Ist die Wahrnehmung der deutschen Medien zum Nahostkrieg realistisch?
Schiffer: Mmh, warum sollte sie beim Nahostkrieg realistischer sein als sonst? Nein, sicher nicht. Medien wählen aus, sie geben sprachlich und bildlich den immer viel komplexeren Sachverhalten Perspektiven bei der Darstellung; man kann ja nicht framen – weil unsere Sprache, Bilder, Symbolik vorgeprägt sind. Medien konstruieren unsere Vorstellung von der Situation, ja der Welt. Wir als Mediennutzende ziehen daraus dann Schlüsse, oft die falschen, denn wir neigen alle zu einem pars-pro-toto Reflex und verallgemeinern vom kleinen Ausschnitt auf das große Ganze. Das ist immer schief. Deshalb brauchen wir ein Schulfach Medienbildung, um systematisch Media Literacy zu lernen und über Meinungsbildung nachzudenken, damit wir alle mehr Distanz zu den jeweiligen Darstellungen aufbauen können. In diesem Krieg, wie in allen anderen Konflikten, leben wir alle in unterschiedlichen Medien- und Bilderwelten; dafür braucht es mehr Bewusstsein.
Nachdem wir in Deutschland nun als Volk von Fußballexperten und Ukraineexperten gescheitert sind, tauchen neue Nahostexperten auf, die tatsächlich glauben, nur die Hamas müsse die Geiseln freilassen und sich ergeben, dann wäre Frieden in Israel-Palästina. Hier wäre die Aufgabe der Medien und der Bildungseinrichtungen für mehr Geschichtsbewusstsein zu sorgen und Kontexte auszuleuchten, statt deren Tabuisierung mitzutragen. Die Propaganda versucht natürlich Kontext auszublenden, genau das müssen Medien aufdecken und sich klar von PR-Kampagnen unterscheiden.
IslamiQ: Menschen, die sich mit dem Leid der Opfer in Gaza solidarisieren, werden in den Medien öffentlich geächtet. Dabei werden extremistische Verbindungen hergestellt, und die Begriffe „Islamismus“ oder „Hamas-Unterstützer“ verwendet. Wie bewerten Sie diesen Trend?
Schiffer: Das ist in jeder Hinsicht schwierig. Mir sind ja schon alle Nationalfahnen suspekt, aber hier gibt es tatsächlich die Beobachtung, dass israelische Fahnen bei Demonstrationen gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben in Deutschland, sowie gegen Rechts und für Demokratie, als normal anerkannt werden, während palästinensische Fahnen sofort einen Generalverdacht auslösen. Nicht, dass unter dem Label „pro-Palästina“ nicht wirklich auch übles verlautbart wurde, aber ein Generalverdacht taugt nie. Und wie es gelingen konnte, dass unter dem Motto von Juden- und Israelsolidarität das Morden von Menschen hingenommen oder gar gerechtfertigt wird, wird noch aufzuarbeiten sein. Wenn man die Reden unserer Politiker zum Krieg in Nahost mit denen zum Ukrainekrieg vergleicht, dann erkennt man den Doppelstandard schnell.
Die Schwierigkeit scheint mir hier, dass nicht nur die missinterpretierte deutsche Staatsräson, sondern auch das lange antrainierte und verinnerlichte antimuslimische Feindbild aktiviert wird. Die palästinensischen Christen und Drusen werden dabei sowohl von Muslimen als auch Nichtmuslimen gerne ignoriert. Inzwischen lässt sich aber auch ein antipalästinensischer Rassismus feststellen.
IslamiQ: Viele Informationen über den Nahostkrieg werden über Social-Media-Kanäle konsumiert, oft ungefiltert und in Echtzeit übertragen. Besteht hier überhaupt die Möglichkeit einer ausgewogenen, differenzierten und sachlichen Perspektive?
Schiffer: Natürlich nicht, aber dafür bieten unsere Medien eben auch keine Garantie. Relotius war da ja nur die Spitze des Eisbergs. Bei aller auch guten Arbeit, die teilweise geleistet wird, fehlt es insgesamt an Kompetenz im Journalismus PR-Strategien zu erkennen. Sonst könnte man die langjährig wiederholte „menschliche-Schutzschild“-These oder die eines angeblich „fehlenden Ansprechpartners“ auf palästinensischer Seite von journalistischer Seite aufgeklärt werden. In dem weiten Feld der Tools und Techniken der Soft Power muss die journalistische Ausbildung ausgeweitet werden, denn auch die politischen Akteure arbeiten mit strategischer Kommunikation und dies auch in Social Media. Im Internet kommt dann natürlich noch der Algorithmus hinzu, der Diskurse verzerrt und radikalisierende Filterblasen befördert. Dies alles gehört in ein Schulfach Medienbildung, wie auch die Quellenprüfung und Verifikation von Bild- und Filmmaterial. Die Schüler werden ja nicht nur die Wähler, sondern auch die JournalistInnen und Lehrkräfte von morgen sein.
Gerade Lehrkräfte dürfen sich nicht verführen lassen zu glauben, dass Spannungen in der Schule nun allein an TikTok oder dergleichen lägen. Zwar ist die Verschleierung der Quelle da wirklich ein Problem, wie auch der stereotype Feed bei einer Hashtag-Auswahl, aber vielleicht liegen die Probleme der Schüler ja doch eher in familiären Banden, Beziehungen zur angegriffenen Region und Gruppen, also in persönlicher Betroffenheit. Das gilt es herauszufinden, bevor man „den Medien“ oder „den sozialen Medien“ oder sonst, wem die Verantwortung zuweist. Denn es müssen Gespräche ermöglicht werden, die im öffentlichen Diskurs nicht stattfinden. Ich habe großen Respekt vor dieser Aufgabe, denn sie wird systematisch durch einseitige öffentliche Stellungnahmen erschwert.
IslamiQ: Wie könnten Medienkonsumenten kritischer mit Informationen über den Nahostkrieg umgehen, um eine ausgewogenere Perspektive zu erhalten?
Schiffer: Es ist sicher immer gut, aus dem eigenen Umfeld herauszublicken und gezielt nach anderen Stimmen zu suchen – aber die muss man dann freilich auch aushalten und ehrlich, die Dummheit im Hinblick auf Konfliktursachen und Konfliktbewältigung ist für mich schon kaum zu ertragen. Wie erst für Betroffene? Als nicht direkt Betroffene versuche, ist etwas durch Analyse und Hinweise beizutragen, die die Frontstellung infrage stellen könnten – denn Frieden für Israel wird es nur geben, wenn es ein sicheres Palästina gibt und umgekehrt.
Danach richtet sich auch meine Auswahl an Medien, die ich empfehle, wie z.B. Democracy Now oder Haaretz, aber auch originelle Aktivistengruppen wie Code Pink in den USA, die DFG-VK in Deutschland oder „Standing Together“ in Israel. Auch die jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost zeigt, wie man gemeinsam mit Palästinensern für eine Konfliktlösung kämpfen kann. Aber grundsätzlich kann es niemals darum gehen, wem man glauben soll, sondern alle Beiträge sind auf ihre Qualität hin zu prüfen – was man wie Lesen und Schreiben lernen kann.
Das umfassende Wissen der Friedensbewegung wird ja von vielen Medien wesentlich ausgegrenzt. Das Internet bietet hier die Möglichkeit des direkten Zugriffs, etwa beim Kassler Friedensratschlag oder IMI-Online. Denn, was wir gerade erleben, ist für Israelis und Palästinenser eine Retraumatisierung alter Erfahrungen und Ängste sowie eine akute Bedrohung vor allem für die 2 Mio. Menschen im Gaza-Streifen; aber das Ganze gehört zu einer globalen Entwicklung der Militarisierung im Kampf um die endenden Ressourcen und den Erhalt oder Ausbau von Machtsphären. Die globale Perspektive scheint aber weniger von unseren Medien, als vielmehr von Akteuren des Globalen Südens erfasst zu werden.
Der Versuch, etwa die Angriffe der Houthis im Roten Meer als Piraterie zu framen – statt sie im Kontext des Gaza-Krieges zu sehen – bedient die Idee der Verteidigung des freien Handels, was wiederum im Interesse des sog. militärisch-industriellen Komplexes ist, der vom Neoliberalismus begünstigt wird. Das bietet einen Vorgeschmack, in wessen Namen die kommenden Kriege am Völkerrecht vorbeigeführt werden. Die Aufgabe der Medien wäre hier, Zusammenhänge zu denken und aufzuzeigen und dabei nicht zur Ermöglichung von Menschheitsverbrechen beizutragen; denn Medien sind stets als Vervielfältiger und Veredler strategischer Botschaften im Visier der Informationskrieger.
Darf ich am Schluss bitte Sie fragen: Was tragen Sie als Medium konkret dazu bei, dass konstruktivere Menschen und Lösungen Platz und Raum erhalten und den Polarisierungen und Feindbildern, die nur den Börsenkursen der Rüstungskonzerne Gewinne bescheren, Einhalt geboten wird? Mir hat etwa die Kunst-Aktion des Comedian Shahak Shapira #StandWithHumans sehr gut gefallen, weil sie die selektive und damit verratene Humanität vorgeführt hat und eine Hand reicht. Jedes Medium ist gefordert, sich neben Dokumentationsaufgaben auch darüber Gedanken zu machen, wie man den menschlichen Zusammenhalt fördert – zum Auseinanderdriften durch den Transport von Feindbildern trägt man ja oft genug bei. Ohne eine starke vierte Gewalt haben wir jedoch keine Chance auf eine bessere Welt.
Entschuldigen Sie die etwas provokante Frage! Aber die gewöhne ich mir gerade an, weil Medien ja oft dem Mythos verfallen, sie bildeten nur ab; dabei gestalten sie fleißig mit. Und auch dafür gilt es, mehr Bewusstsein zu schaffen.
Das Interview führte Kübra Layık und Muhammed Suiçmez.