Vier Jahre Arbeit, 400 Seiten, dutzende Studien – nur um am Ende vom eigenen Auftraggeber „entsorgt“ zu werden. Das vorläufige Ende des Berichts „Muslimfeindlichkeit“ zeigt auch, auf welcher Seite die Bundesregierung beim Thema antimuslimischer Rassismus steht.
Das Leben schreibt immer noch die härtesten Punchlines. Da erarbeitet das halbe „Who is Who“ der deutschen Rassismus- und Migrationsforschung vier Jahre lang eine Art Blue-Print für die Gleichberechtigung von Muslimen in Deutschland: kritisch, wissenschaftlich fundiert und praxisnah. Und am Ende landet das 400 Seiten starke Werk in einem Schredder in einem Büro des Bundesinnenministeriums. Die wohl umfassendste und schonungsloseste Bestandsaufnahme zu Muslimfeindlichkeit in Deutschland wird selbst zum Opfer von Muslim-Feinden.
Man habe den Bericht „Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz 2023“ offline genommen, die restlichen Druckexemplare „entsorgt“, ließ die Bundesinnenministerin vergangene Woche das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg wissen. Dieses hatte zuvor einer Klage des Publizisten Henryk M. Broder stattgegeben. Broder, dessen Schaffen vorwiegend aus dem Schreiben muslimfeindlicher Kolumnen besteht, sah sich durch die Erwähnung im Bericht zu Unrecht als muslimfeindlich verunglimpft. Das Gericht beanstandete zwar nicht die Kritik an Broder an sich, wohl aber, dass diese als amtliche Äußerung der Bundesregierung verstanden werden könnte. Der Bericht war zwar von einem „Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit“ (UEM) erstellt worden. Aber schon auf dem Cover des Berichts prangte das Logo des Bundesinnenministeriums (BMI). Dieses regierte prompt: Nicht etwa, indem es die fraglichen acht Zeilen schwärzte, sondern indem es gleich die kompletten 400 Seiten offline nahm.
Dass das BMI nun so konsequent (über)reagierte, liegt vermutlich nicht nur im aktuellen Gerichtsentscheid. Von Beginn an sahen sich die Macher des Berichts scharfen Angriffen aus jenen Teilen von Politik, Medien und Öffentlichkeit ausgesetzt, die man ohnehin mehr mit Muslimfeindlichkeit als der Aufklärung darüber in Verbindung bringt.
Geklagt hatte neben Broder beispielsweise auch die selbst ernannte „Islamismus-Expertin“ Sigrid Herrmann-Marschall. Die Biologin hatte es trotz fraglicher Expertise mit ihren Blog-Beiträgen über tatsächliche oder vermeintliche „Islamisten“ in den vergangenen Jahren von AfD-Veranstaltungen, über Springer-Medien bis in Verfassungsschutzberichte geschafft. Der UEM befand hingegen, dass Herrmann-Marschall auf Basis von Mutmaßungen und unbelegten Vorwürfen muslimische Existenzen zerstören würde.
Auch der CDU-Politiker Christoph de Vries machte in den vergangenen Monaten regelmäßig Stimmung gegen den Bericht und dessen Verfasser. Diese hatten ihm eine inhaltliche Nähe zur AfD bescheinigt: etwa, weil er „antimuslimischen Rassismus“ als konstruierten Begriff ablehne und gesetzestreue muslimische Organisationen in Verbindung mit islamischen Extremisten bringe. Die vom UEM-Bericht ausführlich problematisierte Gleichsetzung von Muslimen und Extremisten wandte die Zeitung „Die Welt“ gleich auf die Macher des Berichts selbst an. In mehreren Beiträgen brachte sie die (teils muslimischen) Studienmacher kurzerhand selbst in Verbindung mit Islamisten. Eine Vorlage, die unzählige Accounts in sozialen Medien in Anfeindungen, Beleidigungen und Shitstorms übertrugen.
Verdächtig leise hingegen blieb es bei der Auftraggeberin des Berichts. Öffentliche Unterstützung der eigenen Expertenkommission durch Nancy Faeser und ihr Ministerium blieb weitgehend aus. Ohnehin drängt sich der Verdacht auf, dass auch Faeser selbst das aktuelle Gerichtsurteil nicht völlig ungelegen kommt. Von Beginn an hinterließ die Ministerin den Eindruck, dass sie mit dem noch von ihrem Amtsvorgänger Horst Seehofer in Auftrag gegebenen Bericht möglichst wenig in Verbindung gebracht werden möchte. Ihre Teilnahme an der Veranstaltung zur Vorstellung des Berichts am 29. Juni 2023 sagte Faeser kurzfristig ab: zur sicht- und hörbaren Verstimmung all jener, die jahrelange Arbeit in den Bericht gesteckt hatten.
Fast ein halbes Jahr lang lag der Bericht daraufhin unbeachtet in Faesers Schublade. Erst zur Islamkonferenz am 20. November 2023 stand dessen Handlungsempfehlungen endlich auf der Tagesordnung. Aber auch daraus wurde nichts. Unter dem Eindruck (oder dem Vorwand) des Krieges in Nahost strich Faeser den Bericht weitgehend wieder aus dem Programm. Statt wie geplant über Wege aus der Muslimfeindlichkeit zu diskutieren, machte Faesers Eröffnungsrede selbst den Eindruck, ein Fall für den UEM zu sein: etwa indem sie islamische Religionsgemeinschaften pauschal in Verbindung mit der palästinensischen Hamas brachten oder Muslime pauschal für Antisemitismus in Deutschland verantwortlich machte.
Als Faeser damals nach über 20 Minuten Muslimfeindlichkeit endlich doch noch kurz auf „Muslimfeindlichkeit“ und den von ihrem beauftragten Bericht zu sprechen kam, ließ sie es sich nehmen, noch einmal deutlich zu machen, wie wenig sie von all dem hält. „Ich teile ausdrücklich nicht jede Aussage, die der UEM in seinem Bericht trifft“, sagte Faeser gegen Ende ihrer Rede und reduzierte so die jahrelange Arbeit dutzender Wissenschaftler kurzerhand auf eine Frage persönlicher Meinung.
„Ministerin Faeser hat bisher das Gespräch über den Bericht und unsere Handlungsempfehlungen verweigert“, zitiert aktuell „Der Spiegel“ Medienwissenschaftler und UEM-Mitglied Kai Hafez. Tatsächlich scheint bis heute keine einzige der Handlungsempfehlungen des UEM-Berichts umgesetzt worden zu sein. Diese reichen von der Einrichtung eines Sachverständigenrats und Ernennung eines Bundesbeauftragten zum Thema Muslimfeindlichkeit, über die stärkeren Förderungen muslimischer Akteure und weiterer rassismuskritischer Studien hin zu Maßnahmen gegen Muslimfeindlichkeit in Sicherheitsbehörden.
Der UEM-Bericht zeichnet das Bild eines Deutschlands, in dem Muslime in so ziemlich allen Lebensbereichen Diskriminierung erfahren: auf dem Wohnungsmarkt und dem Uni-Campus, vor Familiengerichten und Parlamenten, in Drehbüchern und Verfassungsschutzberichten, auf der Straße und Theaterbühnen, nicht zuletzt aber auch durch das Bundesinnenministerium und dem ihm unterstellte Behörden.
So prangert der Bericht Vorurteile und diskriminierendes Verhalten innerhalb der Polizei an. Über den Verfassungsschutz – dessen Jahresberichte übrigens auch mit BMI-Logo auf dem Cover erscheinen – schreibt der UEM: Dieser würde eine „regelrechte Misstrauens- und Verdachtskultur gegenüber Muslim*innen (insbesondere jenen in exponierten Positionen) etablieren.“ Mag sein, dass gerade der Umstand, dass der UEM-Bericht mit seiner Kritik auch nicht vor der eigenen Auftraggeberin Halt gemacht hat, zu seiner „Entsorgung“ beigetragen hat.
Zumindest in seiner Online-Fassung ist der Bericht „Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz 2023“ vielleicht aber noch nicht völlig verloren. Man wolle den Bericht wieder zur Veröffentlichung freigeben, heißt es beim Bundesinnenministerium. Nicht auf der eigenen Website, ohne BMI-Logo auf dem Cover, dafür aber um kritische Stellen „bereinigt“. Eine gute Sache hat die Geschichte damit dann vielleicht doch noch: Es wird für jeden sofort ersichtlich, auf wessen Seite das BMI (nicht) steht.