Sind Hadithe patriarchalisch geprägt? Welche Rolle spielen Frauen und Männer in der Hadithliteratur? Prof. Dr. Ruggero Vimercati Sanseverino untersucht die historischen und theologischen Aspekte.
Sind Hadithe Ausdruck eines patriarchalischen Weltbilds? Stehen Hadithe im Widerspruch zur Gleichberechtigung der Geschlechter? Diese Fragen werden gerne sehr bestimmt bejaht oder auch vehement verneint. Die Positionen scheinen verbittert und erhärtet: Als „liberaler“ Muslim erklärt man die meisten Hadithe selbstredend für unecht und verdrängt sie als Artefakt einer patriarchalischen Manipulation religiöser Werte – außer natürlich diejenigen Hadithe, die mit den eigenen ethischen Überzeugungen vereinbar sind. Als „konservativer“ Muslim hingegen hält man Hadithe, in denen Frauen und Männer vorkommen, für das Abbild einer sozialen Ordnung, die es unbedingt zu verteidigen bzw. zu implementieren gilt.
Tatsächlich zeigt das Thema Rollenbilder von Frauen und Männern wie kein anderes, wie sehr die zeitgenössische Betrachtungsweise auf den Hadith von einem Kulturkampf vereinnahmt und letztendlich säkularisiert wird. Doch wird man so dem Anliegen des Hadith, und den Frauen und Männern, die darin vorkommen, gerecht? Was ist überhaupt der Hadith und lässt sich aus ihm ein bestimmtes Männer- und Frauenbild herleiten und sozial normieren?
Zunächst ist festzustellen, dass die beiden beschriebenen Umgangsweisen mit dem Hadith, die vermeintliche „liberale“ oder „konservative“, mehr Gemeinsamkeiten aufweisen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Und diese Gemeinsamkeiten begründen auch ihren problematischen Charakter, jedenfalls aus einer theologischen Perspektive, die den Hadith in seinem eigentlichen Anliegen ernst nehmen möchte.
Auffällig ist, dass beide Lesarten sehr selektiv vorgehen und jene Hadithe in den Vordergrund stellen, die die eigene Agenda zu bestätigen scheinen. Wir haben es also in beiden Fällen mit einem normativen Reduktionismus und Textualismus zu tun: Hadithe werden als quasi-verfassungsrechtliche Texte gelesen, die per se eine weltanschauliche und gesellschaftlich normativierende Geltung beanspruchen.
Diese selektive und reduktive Lesart von Hadithen missachtet jedoch den Zeugnischarakter von Hadithen und die Tatsache, dass der Prophet sich über 23 Jahre lang in sehr unterschiedlichen Situationen an verschiedene Menschen mit sehr unterschiedlichen Lebenswegen und Hintergründen gerichtet hat. Entgegen der Ansicht von Salafisten, und ihrer „liberalen“ Gegenspieler, sind nicht alle Hadithe zu jeder Zeit und von jedem umzusetzen. In der klassischen Normenfindung, dem Fiqh, steht ein komplexes hermeneutisches Instrumentarium zur Verfügung, das zu klären erlaubt, unter welchen Bedingungen und für wen ein Hadith normativ überhaupt relevant sein kann.
Dennoch haben Hadithe immer eine theologische Bedeutsamkeit – schließlich handelt es sich um Zeugnisse der prophetischen Verkündigung, welche von Generationen und vielfältigen Kulturen von Muslimen für bedeutsam und vertrauenswürdig gehalten worden sind. Der Fehler des sog. Revisionismus, wie er in verschiedenen zeitgenössischen Ansätzen populär geworden ist, liegt darin, die normative Geltung von Hadithen gegen ihre theologische Bedeutsamkeit auszuspielen. Denn auch wenn Hadithe nicht normativ relevant oder gültig sein sollten, haben sie uns trotzdem immer noch etwas zu sagen, was uns in unserem Glauben angeht – sie haben uns etwas vom Propheten Muhammad (s) zu sagen.
Hiermit kommen wir zur Frage, was Hadithe eigentlich sind? In Hadithen wird die Verkündigung des Propheten Muhammad (s) bezeugt und überliefert. Entgegen einer heute diffusen Vorstellung handelt es sich bei Hadithen zunächst nicht um einen rechtlichen Text, auch wenn sein Gehalt rechtlich relevant sein kann. Auch ist der Hadith keine Historiographie, der es um eine rein historische Darstellung von Ereignissen geht, auch wenn dem im Hadith bezeugten Geschehen natürlich eine geschichtliche Wirklichkeit zugrunde liegt. Ganz unmittelbar beansprucht der Hadith, das glaubensbedeutsame Zeugnis eines Geschehens zu sein, und zwar so wie dieses Geschehen von der islamischen Frühgemeinde erfahren wurde und von der Glaubensgemeinde jede Generation aufs Neue als vertrauenswürdig verbürgt wird.
Es geht also im Hadith nicht bloß darum, eine abstrakte Information zu übermitteln – historische Fakten, Glaubenssätze, Normen oder Verhaltensregeln – sondern es geht ganz unmittelbar darum, das lebendige Geschehen der Verkündigung der Offenbarung Gottes an Muhammad (s) zu bezeugen und zu bekennen.
Es sind daher zunächst reale Menschen, Persönlichkeiten mit ihren jeweiligen Lebenswegen und Lebenserfahrungen, die an diesem Geschehen teilnehmen und den Inhalt des Hadithes bilden. Sowohl die Akteure des im Hadith bezeugten Geschehens als auch die Zeugen selbst, und nicht zuletzt die Überlieferer, sind sowohl Männer als auch Frauen. Dies ist zunächst einmal nicht verwunderlich, jedenfalls wenn man es theologisch betrachtet. Schließlich muss die prophetische Verkündigung, gemäß ihrem universalen Anspruch, in ihren vielfältigen Dimensionen und Facetten bezeugt und überliefert werden.
Die Politisierung des Geschlechts, der sexuellen Orientierung und der Intimität wie sie für die Spät-Moderne bezeichnend sind, sind dem Hadith also fremd. In den Hadithen geht es weder darum, bestimmte Geschlechterrollen darzustellen, noch darum, solche Rollenbilder von Männern und Frauen gesellschaftlich oder religiös festzulegen. Das eigentliche Anliegen des Hadith besteht vielmehr darin, Zeugnis darüber zu geben, wie Menschen den Propheten Muhammad (s) als Verkünder von Gottes Offenbarung erlebt und erfahren haben, ganz gleich ob sie Männer oder Frauen waren.
Man darf also feststellen – und zwar entgegen beider Parteien des oben erwähnten Kulturkampfes -, dass es im Hadith zunächst nicht darum geht, Geschlechterrollen zu definieren. Bei der Schematisierung und Normativierung von islamischen Geschlechterrollen handelt es sich in Wirklichkeit um ein dezidiert modernes Phänomen. Die Forschung zeigt , dass das Bedürfnis danach, „den muslimischen Mann“ und „die muslimische Frau“ idealtypisch zu normieren eher sozial-politischen und post-kolonialen Anliegen entspricht: es gilt ein islamisches Gesellschaftsmodell gegen „den Westen“ zu verteidigen bzw. mit „dem Westen“ ein Einklang zu bringen – es geht also weniger darum, den Hadith als Zeugnis der prophetischen Verkündigung zu verstehen, als darum, ihn für eine islamische Legitimierung von identitätspolitischen Anliegen zu benutzen. Die soziale Normierung von Geschlechterrollen mit Rückgriff auf Hadithe hat also mehr mit der modernen Säkularisierung religiöser Identität zu tun als mit dem Hadith selbst!
Dennoch ist es richtig, dass die Männer und Frauen in Hadithen natürlich von Anfang an als Orientierungsfiguren wahrgenommen worden sind. Durch ihre Teilhabe am Offenbarungs- und Verkündigungsgeschehen erhalten alle Personen, die in Hadithen auftreten, eine exemplarische Bedeutung: Sie repräsentieren etwas, dessen Bedeutsamkeit über ihre Individualität hinausgeht. So wie sich die Gefährten und Gefährtinnen zum Propheten verhalten haben, wie sie die Offenbarung Gottes erlebt und gelebt haben, ist für alle Musliminnen und Muslime von herausragender Bedeutung, eröffnet es doch damit vielfältige Zugänge und Erfahrungsweisen der Sunna. In diesem Sinne hat der Prophet bekannterweise über seine Gefährten und Gefährtinnen gesagt: „Meine Gefährten sind wie die Sterne; wer sich ihrer Leitung anvertraut, der ist rechtgeleitet!“.
Doch ergeben sich jedoch daraus bestimmte geschlechterspezifische Rollenbilder, die zudem für Muslime verbindlich sind bzw. als verbindlich wahrgenommen werden?
Ein Blick in die Hadithe zeigt ein vielfältiges und diverses Bild. Nimmt man die Hadithe ernst, so waren Frauen an allen Ereignissen, die das Verkündigungsgeschehen bestimmt haben, auf aktive und vielfältige Weise beteiligt und ihre Rolle wurde sowohl vom Propheten als auch von seinen männlichen Gefährten anerkannt und wertgeschätzt. Die muhammadanische Aufforderung an Männer, Frauen gut zu behandeln und die muhammadanische Lehre, dass die Qualität des Glaubens von der wertschätzenden Umgangsweise mit Frauen abhängig ist, war für spät-antike Gesellschaften durchaus nicht selbstverständlich.
Die vergleichsweise prominente Stellung der Frauen in der islamischen Geistesgeschichte gilt auch für die Zeit nach dem Propheten und zwar insbesondere für den Bereich der Hadithüberlieferung. Mehr als 1500 Frauen sollen Hadithe in der formativen Periode des Islams überliefert haben und Akram Nadwi rezensiert um die 9000 weibliche Hadith-Überlieferinnen und Gelehrte. Eine Hadith-Koryphäe wie Ibn Ḥajar gibt ganz selbstverständlich an, von 50 Frauen unterrichtet worden zu sein. Und der für seine strenge Überlieferungskritik bekannte al-Dhahabī bemerkt, dass sich in den Kategorien von Hadith-Überlieferern, die der Lüge bezichtig wurden (XI) oder deren Lüge als erwiesen (XII) gilt, keine einzige Frau befindet: „Von den Frauen, die Hadithe überliefern, ist mir niemand bekannt, die der Lüge bezichtigt worden ist, oder deren Überlieferung aus diesem Grund abgelehnt worden ist“.
Ein aufmerksamer Blick in die Hadithliteratur zeigt, dass es zu keiner Zeit das eine starre Männer- und Frauenbild gab. In Wirklichkeit ist die Ambiguität der Geschlechterrollen in den Hadithen theologisch betrachtet ein Ausdruck der Universalität der prophetischen Tradition. Diese fußt auf der islamischen Glaubensüberzeugung, dass der Prophet Muhammad für alle Menschen gleichermaßen gesandt wurde, für Männer wie für Frauen, und zwar zu allen Zeiten: „Wahrlich, gesandt haben Wir dich als Gnade für alle Welten“ (Koran 21:107) und „gesandt haben Wir dich den Menschen allesamt, als Verkünder froher Kunde und als Warner nur“ (Koran 34:28).
Daraus ergibt sich notwendigerweise das Prinzip der Geschlechtergerechtigkeit der prophetischen Verkündigung und Praxis: das islamische Verständnis von Prophetie schließt es aus, dass ein Prophet in irgendeiner Weise frauenverachtend handeln oder sprechen kann, schließlich ist er gesandt worden, um alle Menschen zur Erfüllung ihrer spirituellen und eschatologischen Bestimmung zu führen. Diese besteht nach koranischen Verständnis in der Dienerschaft (ʿubūdiyya) und der Statthalterschaft (khilāfa). Hingabe gegenüber Gott und Verantwortung in Seiner Schöpfung – Männer und Frauen verwirklichen diese nicht auf eine identische, sondern auf eine komplementäre Art und Weise, denn laut dem Koran sind Mann und Frau als Paar (zawj) erschaffen worden, wie übrigens der gesamte Kosmos. Die komplementäre Polarität der Schöpfung von Männlichkeit und Weiblichkeit ist ein Zeichen (ayāt), das auf Gottes Schöpfungskraft und Heilswillen hinweist und damit Ausdruck der göttlichen Handelsweisen (afʿāl) und Attribute (ṣifāt) ist: Gottes Namen sind Ausdruck Seines Jalāl, Seiner Strenge und Majestät, und Seines Jamāl, Seiner Schönheit und Sanftheit.
Polarität und Komplementarität der Schöpfung sind aber keineswegs statisch zu verstehen, sondern in ihren Erscheinungsformen vielfältig und dynamisch. Gottes Schöpfungshandeln und Gnade lassen sich nicht in menschliche Kategorien, nicht in menschliche Vorstellungen von gut und schlecht, pressen. Es ist unzweifelhaft, dass das islamische Leben und Denken der Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse Rechnung tragen müssen. Die soziale Ordnung, wie sie für die Zeit prägend war, als die Hadithüberlieferung entstanden ist, kann heute nur noch als fundamentalistische Utopie oder als liberale Dystopie konstruiert werden, hat aber weder etwas mit dem Anliegen des Hadith noch mit den Lebenswirklichkeiten von Musliminnen und Muslimen zu tun: Die Individualisierung von Religiosität, der rechtsstaatliche Schutz von Gleichberechtigung, die Flexibilität der Arbeitswelt, aber auch die Sensibilisierung für toxische Männlichkeit und Weiblichkeit bzw. ihre jeweilige Krise stellen an das Verhältnis zwischen Mann und Frau andere und komplexe Anforderungen.
Die Herausforderung für heutige Musliminnen und Muslime liegt darin, sich nicht in einen billigen Kulturkampf hineinziehen zu lassen, der in Hadithen nur ein starres gesellschaftliches Programm zu sehen vermag, dass man entweder zu verteidigen oder abzureißen hat. Hadithe können nur dann als Ressource für muslimisches Leben und Denken erschließbar sein, wenn sie nicht wie säkulare Texte gelesen werden – als Manifeste weltanschaulich-politischer Gesinnungen -, sondern als lebendiges Zeugnisse der Begegnung mit dem Propheten Muhammad (s) als Verkünder von Gottes Offenbarung.
Hadithe laden uns immerfort dazu ein, danach zu fragen, was der Prophet uns heute über die transzendente spirituelle Bestimmung des Menschen und seine Verwirklichung zu sagen hat, gerade inmitten sich immerzu verändernder gesellschaftlicher Verhältnisse. Es kommt dabei vor allem auf uns selbst an, ob wir die nötige spirituelle Sensibilität walten lassen, die uns in die Lage versetzt, uns auf eine transformative und sinnstiftende Begegnung mit dem Propheten im Hadith einzulassen – auf eine Begegnung, die jegliche gesinnungsmäßige Vereinnahmung des Hadith als armseliges Konstrukt eines Kulturkampfes entlarvt.