Noch nie waren wir so miteinander vernetzt wie heute. Doch warum leiden heutzutage so viele junge Menschen an Einsamkeit und welche Rolle spielt dabei die Digitalisierung? Ein Interview mit der klinischen Psychologin Rabia Yavuz.
IslamiQ: Was bedeutet Einsamkeit?
Rabia Yavuz: Es heißt, dass Einsamkeit ein Privileg von Allah sei. Für uns Menschen ist das Alleinsein ein unerträglicher Zustand. Deshalb wird der Schmerz des Alleinseins genauso empfunden wie ein körperlicher Schmerz. Es gibt verschiedene Arten von Einsamkeit. Die Art und Weise, wie wir Einsamkeit erfahren, hat einen Einfluss auf unsere Situation. Zum Beispiel können wir uns auch einsam fühlen, wenn wir in einer Menschenmenge stehen. Oder wir können Einsamkeit auch als eine Form der Verlassenheit erleben.
Des Weiteren ist es möglich, Einsamkeit bewusst zu erleben, um unser eigenes Wesen zu erkennen und zu uns selbst zurückzukehren. Durch diese selbstgewählte Einsamkeit können wir die Tiefen unserer eigenen Existenz erfahren. Dies ist der Grund, warum die Einsamkeit eines der wichtigsten Themen für viele Denker ist. Während einige sagen, dass Einsamkeit schmerzhaft ist, haben andere in ihrer Einsamkeit viel entdeckt. Die Einsamkeit, die wir bewusst wählen, kann unsere Seele heilen. In der islamischen Kultur existieren unterschiedliche Formen der Einsamkeit: Rabıta oder Itikaf sind einige davon.
Denken wir an den Propheten Muhammad (s). Ich frage mich oft, wie es für ihn war, in einer Höhle in Abgeschiedenheit zu weilen, erleuchtet von den Worten, die der Erzengel Gabriel brachte, in tiefen Gedanken zu versinken und mit wachem Verstand nachzudenken, anstatt nachts in einem bequemen Bett zu schlafen. Wir müssen uns überlegen, welche Lehren wir aus dem Leben des Propheten (s) für uns persönlich ziehen können.
Heutzutage fällt es uns schwer isoliert zu leben oder auf unsere Bequemlichkeiten zu verzichten. Wir können nicht auf den Fernseher, das Internet oder unser Telefon verzichten. Wir werden unruhig, wann immer wir allein sind. In unserem Zeitalter ist es wesentlich einfacher, etwas zu finden, das unsere Aufmerksamkeit von uns selbst ablenkt. Natürlich ist diese Situation nicht ausschließlich für den modernen Menschen typisch. Bereits im 17. Jahrhundert sagte Blaise Pascal: „Die Quelle des Unglücks der ganzen Menschheit liegt in einer einzigen Sache, und das ist die Unfähigkeit des Menschen, ruhig in einem Zimmer allein zu sitzen“.
IslamiQ: Fördert die Digitalisierung aller Lebensbereiche die Einsamkeit oder warum ist die Einsamkeit heute hochaktuell?
Yavuz: Einsamkeit ist ein uraltes Thema. Doch es scheint, als würden wir in Zeiten von schnellerer und einfacherer Kommunikation, mehr denn je davon betroffen sein. Wir leben in großen und überfüllten Städten. Unsere Nachbarschaft ist umringt von unzähligen Menschen, aber wir fühlen uns immer mehr allein. Wir haben uns von allem entfremdet, auch von uns selbst. Seit der industriellen Revolution scheint die Entfremdung im Zentrum unseres Lebens zu stehen. Wir haben uns von der Natur entfremdet, wir haben keinen Bezug mehr zu den Dingen, die wir früher mit bloßen Händen hergestellt haben. Wir haben uns von der Großfamilie gelöst, wir haben uns von der Spiritualität abgewandt. Es scheint, als seien wir durch die Säkularisierung einsamer geworden. Die Individualisierung scheint das Gegenteil bewirkt zu haben. Wir leben in einer Welt, die von uns abgekoppelt ist. Das Leben der Erwachsenen wird weiterhin von Süchten dominiert, ähnlich wie Spielzeuge in den Händen von Kindern. Mehr noch: Sie scheinen erfunden worden zu sein, um uns mit uns selbst zu beschäftigen.
Psychologen der Virginia Universität und der Harvard Universität haben eine Reihe von Experimenten durchgeführt, um die Fähigkeit der Menschen zu beobachten, was sie tun, wenn sie auf sich allein gestellt sind. So wurden Freiwillige gebeten, sich in einem Raum aufzuhalten, in dem es keine Ablenkungen gab (außer einem Elektroschockgerät). Keine Bücher, keine Telefone, keine anderen Menschen. Da sie nichts außer sich selbst mitnehmen konnten, hatten die Teilnehmer keine andere Wahl, als sich mit ihren eigenen Gedanken zu beschäftigen. Es gab nur eine einzige Bedingung, um das Projekt vorzeitig zu beenden. Sich selbst einen Stromschlag zu verpassen. Eine beträchtliche Anzahl der Teilnehmer zog es vor, den Raum zu verlassen, indem sie sich Elektroschocks verpassten, anstatt mit sich selbst allein zu sein. Es ist erstaunlich, wie wir mit solcher Gewalt vor uns selbst davonlaufen. In einer Welt, in der wir nicht in der Lage sind alleine mit uns selbst etwas zu agieren, in der wir nicht auf Bequemlichkeit verzichten und uns nicht mit Vergnügen abfinden, ist es uns nicht möglich, echte Beziehungen zu uns selbst aufzubauen.
IslamiQ: Was sind die wesentlichen Merkmale der chronischen Einsamkeit im Vergleich zu einem gelegentlichen Rückzug aus dem hektischen Alltag? Wie können wir erkennen, dass es sich nicht um eine vorübergehende emotionale Situation handelt und wir Hilfe benötigen?
Yavuz: Das ist eine sehr gute Frage. Es hängt von der Antwort auf die Frage ab, wann wir allein sind und wann wir mit uns selbst allein sind. Wenn die Einsamkeit ein gewählter Zustand ist, ist sie sowohl eine Möglichkeit als auch ein Ergebnis der spirituellen Reifung. Wenn wir jedoch aufgrund unserer Ängste, Befürchtungen oder Süchte allein sind, dann kann diese Situation zu einem Problem werden.
Die Beurteilung von Problemen erfolgt in der Psychologie auf der Grundlage der Umstände der betreffenden Person. Daher ist die Antwort auf diese Frage auch sehr individuell. Im Allgemeinen können wir prüfen, ob sich Einsamkeit positiv oder negativ auf unser Leben auswirkt. Wenn die Einsamkeit ein Ort ist, an den wir uns zurückziehen, um einigen unserer Ängste zu entkommen, können wir vielleicht versuchen, uns unseren Ängsten Schritt für Schritt zu stellen. Somit stärken wir auch unser Selbstvertrauen. Wenn die Einsamkeit jedoch unser Leben einschränkt, unsere Funktionsfähigkeit beeinträchtigt oder sogar unser Selbstwertgefühl untergräbt, sollten wir an dieser Stelle die Unterstützung eines Experten suchen.
IslamiQ: Einsamkeit betrifft nicht nur ältere Menschen, sondern auch zunehmend Jugendliche. Warum leiden heutzutage so viele junge Menschen an Einsamkeit?
Yavuz: Es gibt viele Faktoren, die zur Einsamkeit junger Menschen im modernen Leben beitragen, aber ich denke, dass die sozialen Veränderungen eine wichtige Rolle spielen. Es gibt ein schönes arabisches Sprichwort: Die Menschen ähneln eher dem Zeitalter, in dem sie leben, als ihren Eltern. In einem digitalen Zeitalter, in dem sich unsere Beziehung zu Informationen, zur Produktion oder zum Empfang von Dienstleistungen so sehr verändert hat, ist es normal, dass auch unsere sozialen Beziehungen davon betroffen sind.
Die Kommunikation in der virtuellen Welt kostet sehr wenig und erfordert nur wenig Aufwand. Außerdem sind die meisten dieser Anwendungen kostenlos und lassen sich leicht verbreiten und schnell nutzen. Es ist ziemlich ökonomisch. Man denke nur daran, dass sogar Emojis jetzt für uns sprechen. Während die Zeit und die Kosten, die wir für Beziehungen im digitalen Umfeld aufwenden, zurückgegangen sind, hat sich der Umfang unserer Beziehungen unkontrolliert ausgeweitet. Wir haben so viele Verbindungen, aber unsere Bindungen scheinen genauso lose und schwach zu sein. Für Jugendliche, die in die sozialen Medien hineingeboren wurden, sind diese digitalen Anwendungen die gängigste Art der Kommunikation. Sie sind schnell, einfach und unkompliziert. Diese schnellen, aber oberflächlichen Formen der Kommunikation können den persönlichen Kontakt ersetzen und die Einsamkeit erhöhen.
Weiterhin können der schulische Erfolgsdruck und der Wettbewerb in der modernen Gesellschaft dazu führen, dass sich junge Menschen ständig mit anderen vergleichen und das Gefühl haben, nicht gut genug zu sein. Eine solche Unzulänglichkeit kann leicht die sozialen Beziehungen untergraben. Ein erheblicher Teil unserer Jugendlichen leidet zudem unter Prüfungsangst. Aus diesem Grund müssen unsere Schüler zunehmend Medikamente einnehmen. Ängste, Depressionen und andere psychische Probleme erschweren auch soziale Interaktionen. Sie können leicht in sozialen Rückzug oder Isolation umschlagen. Dies kann das Gefühl der Einsamkeit noch verstärken. Solche Probleme können dazu führen, dass junge Menschen soziale Situationen meiden oder sich von ihnen isolieren.
Eine der Veränderungen, die das moderne Leben mit sich bringt, ist die steigende Scheidungsrate und die schrumpfenden oder zerbrochenen Familien. Für junge Menschen mit Eltern, die zwei Berufe ausüben und einen vollen Terminkalender haben, kann ein Mangel an Kommunikation innerhalb der Familie zu einem Mangel an emotionaler Unterstützung führen.
IslamiQ: Staatliche Maßnahmen spielen eine wichtige Rolle bei der Bewältigung gesellschaftlicher Probleme. Welche Schritte können von Regierungen unternommen werden, um der Einsamkeit entgegenzuwirken?
Yavuz: In der heutigen Zeit ist die Einsamkeit nicht nur ein individuelles Problem. Ihre Auswirkungen sind auch auf gesellschaftlicher Ebene zu beobachten. Die Regierungen und Gesundheitsorganisationen betrachten Einsamkeit als ein gesundheitliches Problem, da sie schwerwiegende Auswirkungen auf die geistige Gesundheit hat, wie zum Beispiel Rauchen oder Übergewicht. So wurde beispielsweise im Vereinigten Königreich 2018 ein Ministerium für Einsamkeit eingerichtet.
Laut Berichten, die im Rahmen der Bekämpfung der Einsamkeit erstellt wurden, bezeichnen sich mehr als 9 Millionen britische Bürgerinnen und Bürger als einsam, während mehr als 200.000 ältere Menschen berichteten, dass sie seit mehr als einem Monat mit niemandem mehr kommuniziert haben. Das Ministerium für Einsamkeit bietet Programme zur besseren Integration in die Gemeinschaft an und schickt Patienten zu sozialen Aktivitäten, anstatt ihnen Medikamente zu verschreiben.
In den Vereinigten Staaten gibt es ähnliche Maßnahmen. Es ist bemerkenswert, dass Einsamkeit und soziale Isolation vom Gesundheitsminister als Epidemie bezeichnet werden. Bestehende Maßnahmen wie virtuelle Selbsthilfegruppen und Online-Therapie bieten Menschen, die sich einsam fühlen, eine zugängliche Unterstützung. Angesichts der Bedeutung der öffentlichen Gesundheit erfordert die Bekämpfung der Einsamkeit einen vielschichtigen Ansatz.
IslamiQ: Im Islam bildet die Familie das Fundament der Gesellschaft. Niemand sollte sein Leben lang alleine sein. Wie kann die islamische Tradition dazu beitragen, der Einsamkeit in der hiesigen Gesellschaft entgegenzuwirken?
Yavuz: Bei der Tradition geht es darum, die Kontinuität zu sichern, indem wir dem, was zurückliegt, etwas Neues hinzufügen. Im Islam basieren die gesunde Individualisierung und das Gemeinschaftsbewusstsein auf einem Gleichgewicht. Wie wir anhand der gewählten Einsamkeit des Propheten Muhammad (s) erkennen, stärkt die Beschäftigung mit dem Bewusstsein nicht nur die sozialen Netzwerke, sondern auch die Beziehung zu allen anderen Wesen.
Eine Naturbetrachtung, die nicht auf Utilitarismus basiert, sondern auf Vertrauen, lässt den Einzelnen spüren, dass er nicht allein ist, auch wenn niemand um ihn herum ist. Aufgrund der dynamischen Beziehung, die wir mit dem Schöpfer führen, wird uns stets bewusst, dass wir nicht einsam sind. Pierre Teilhard de Chardin hat einmal gesagt: „Wir sind keine Menschen mit einem spirituellen Aspekt, wir sind spirituelle Wesen in menschlicher Gestalt.“ Eine solch reiche Wahrnehmungswelt ermöglicht es uns, mit dem Bewusstsein zu leben, dass wir mit anderen Wesen verbunden sind.
Wie kann sich jemand, der in einer Welt lebt, die miteinander verbunden ist, ausgeschlossen fühlen? Wir sind eins mit der ganzen Welt. Diese Verbindung, die wir mit dem Einen, der „Hayy“ ist, spüren, trägt uns weit über das hinaus, was wir mit unseren Augen sehen und mit unseren Ohren hören. Wir benötigen unser Herz ebenso sehr wie unsere Augen, um die Freude und die Vitalität des Lebens zu sehen. Wie Rumi sagt, sind wir, die wir durch unzählige Bande miteinander verbunden sind, nicht ein Tropfen im Ozean, sondern ein riesiger Ozean in einem Tropfen.
Ein Interview von Muhammed Suiçmez und Enes Bayram.