Kurzgeschichte

Im Gedenken an Marwa El-Sherbini – eine Kurzgeschichte

Heute vor 15 Jahren ist Marwa El-Sherbini in einem Gerichtssaal von einem Menschen mit rechtsradikaler Gesinnung bestialisch ermordet worden. Ahmet Aydın arbeitet den Vorfall literarisch auf und bewegt sich künstlerisch zwischen Dichtung und Wahrheit.

01
07
2024
Marwa El-Sherbini

Heute vor 15 Jahren ist Marwa El-Sherbini in einem Gerichtssaal von einem Menschen mit rechtsradikaler Gesinnung bestialisch ermordet worden. Die Polizei, deren Aufgabe es ist, Zivilisten zu beschützen, fügte während des Angriffs auf Marwa El-Sherbini, dem Ehemann von Marwa eine Schussverletzung zu. Sie dachte, dass von ihm die Gefahr ausgehe. Von diesen wahren Begebenheiten ist die folgende Kurzgeschichte inspiriert.

„Die Hitzestrahlen versorgten die Erde nach einem kühlen Sommerregen mit Wärme und der Wind schlug die Feuchtigkeit der Luft in die Gesichter der vorüberziehenden Passanten und kühlte die Gemüter.“ So wollte Marwa ihren Roman beginnen. „Ich möchte ein Buch darüber schreiben, welche Möglichkeiten ich in meiner neuen Heimat bekommen habe, ich möchte etwas zurückgeben.“ Ihre Nichte schlief im Kinderwagen. Sie war die Babysitterin, während ihre Schwester mit ihrem Mann zu Abend essen war. Ein Kind ist ein unschätzbares Geschenk und die Liebe des Ehepaares zueinander nahm durch das Kind sogar zu, doch gleichzeitig ist es alles andere als leicht, sich mit einem Kind, Zeit zu nehmen für sich als Paar. Marwa war sehr glücklich darüber, dass sie dazu beitragen konnte, dass zwei Menschen ihre Liebe füreinander frisch halten konnten.

Während sie im Park saß und daran dachte allmählich aufzustehen, näherte sich ein Mann der Sitzbank. Plötzlich riss er Marwa das Kopftuch vom Kopf. Noch ehe sie wusste, was ihr geschah, begann er zu schreien: „So siehst du Schlampe also aus. Diese Hässlichkeit hättest du auch nicht verbergen müssen.“ Ein Mann, der mit seiner Frau vorüberging, begann zu lachen. Seine Frau lächelte ebenfalls und sagte: „Hmm… So schön sind ihre Haare nun auch nicht. Auch wir Deutschen haben schöne Haare.“

Schockiert stand Marwa da. Sie wollte ihr Kopftuch aus der Hand des radikalen Deutschen reißen, doch der ging einen Schritt zurück. In dem Moment schritt Giovanni ein. Er schlug dem Mann, der das Kopftuch in der Hand hielt, ins Gesicht, streckte ihn nieder und zeigte Marwa an, dass sie ihr Kopftuch nehmen solle. Sie nahm es augenblicklich und machte es sich zurecht. Giovanni sprach in sehr lautem Tonfall das vorübergehende Ehepaar an: „Glaubt ihr an das Schicksal? An Nemesis? An Gott? Karma? Irgendetwas? Möge das, woran ihr glaubt, dasselbe euren Kindern widerfahren lassen.“ – Die Frau, die eben noch ihre Haare mit denen Marwas verglich, blickte schockiert und schrie: „Wie kannst du es wagen, mir so etwas zu wünschen? Wie kannst du es wagen… Mein Kind… Mein Kind!“ Der Mann suchte seine Frau zu beruhigen. „Das sind nur die Worte eines Arabers. Schau ihn dir an, er hat zwar unsere Sprache gelernt, aber immer noch geht er in die Opferrolle und ruft den Himmel an. Sie machen sich zu Opfern und werden ewig Opfer bleiben.“

Marwa hatte ihr Kopftuch zurechtgemacht. Sie atmete erleichtert auf. Während ihr Herz den Frohsinn darüber verspürte, einen Mann mit Courage zu sehen, hielt Giovanni den Hassverbrecher im Griff und sagte zum Ehepaar: „Araber. So nennt ihr mich. Es soll mich nicht stören. Ich bin jedoch Italiener und meine Vorfahren brachten euch einst barbarischen Deutschen den Sinn für Kunst und Kultur bei. Oder tragt ihr etwa die Anzeichen der Barbarei noch immer an euch? Wollte das Weimarer Viergestirn euch nicht davon erlösen?“ Jetzt wusste das Ehepaar nicht wie ihm geschieht und ging, ohne auch nur ein weiteres Wort zu verlieren, weiter.

Während Giovanni seine Aufmerksamkeit dem Ehepaar widmete, befreite sich der Hassverbrecher und lief davon. Die Gefahr war gebannt und Giovanni erkundigte sich bei Marwa über ihr Befinden. Sie bedankte sich aus tiefstem Herzen und begann Bittgebete für ihn zu sprechen. „Möge Allah dir das beste geben. Mögest du gesegnet sein. Möge Gott deine Familie immer beschützen und dir immer Helfer zueilen lassen, wie du mir zur Hilfe geeilt bist. Du bist ein Held!“ Giovanni grinste und freute sich über die Bittgebete. Er war Christ und in Italien spielte der Glaube an Gott eine größere Rolle als im unchristlichen Deutschland, wo der Glaube nur dann eine Rolle spielte, wenn gegen Muslime wieder kreuzzugartig in den Krieg gezogen werden wollte. Johann G. Herder bemängelte eben das an seinen Landsleuten. So schien es auch Giovanni. Deutsche können sich nur im Hass einen, von der Liebe zum Schönen und dem Dolce Vita verstehen sie nicht sonderlich viel.

Während Marwa ihren Dank weiter in Bittgebete goß und Giovanni nachdachte über das deutsche Kunst und Kulturverständnis, sah er aus dem Augenwinkel wie jemand auf ihn und Marwa zurannte. Es war fast zu spät. Ein Mann versuchte mit einem Messer einzustechen, doch Giovanni, der ein Meister im Krav Maga war, wehrte den Angriff ab. Mit solchen Reflexen hatte der Angreifer nicht gerechnet. Giovanni sah rot vor Wut. Er nahm ihm sofort das Messer ab, warf es weg und hielt ihn so, dass er mit einer kleinen Bewegung, dem Mann das Leben hätte nehmen können. Marwa schrie: „Nein! Nein! Wir sind nicht so… Wir dürfen nicht so sein wie sie… Mevlüde Genc hat nicht gehasst und auch wir dürfen nicht hassen… Das ist nicht das Vorbild unseres Propheten…“

Giovanni war schockiert. Das Wort „Prophet“ kämpfte mit seinem kochenden Blut. Er dachte an Jesus. Er dachte an seine Familie, seine Kinder, er dachte an Boccaccio, seinen Namensvetter, nach dem ihn sein Vater benannt hatte. „Er wollte dich töten. Er ist ein Tyrann. Ein Barbar. Er verdient es nicht…“ – „Er ist unschädlich gemacht. Wir rufen die Polizei. Wir leben in einem Rechtsstaat. Wir müssen Vertrauen haben.“ Giovanni fragte sich, wie jemand so naiv sein kann, blindlings der angeblichen Rechtsordnung zu vertrauen. Er wusste wie langsam das Recht funktionierte. Jetzt gerade wäre es Notwehr. Das war die Gelegenheit. „‚Erwidere der schlechten Tat eine bessere. Dann kann der Feind zu einem Freund werden.’, das sagt Allah im Koran. Er weiß es nicht besser. Er ist wie die Leute in Tâif. Als sie Muhammad (s) mit Steinen beworfen haben, sagte er: „O Allah, mein Herr, verzeihe ihnen, denn sie sind unwissend.

Giovanni beruhigte sich mehr und mehr… „Das Gebot der Liebe. Auch sie, die Muslimin, kannte es. Wie einst in Sizilien unter den Staufern, bevor die dunklen Jahre begonnen haben… ‚Die Liebe ist mächtiger als das Schicksal.‘, schrieb Boccaccio. Ja, sie ist mächtiger. Es gibt die Liebenden auf der Welt und die Hassenden. Das ist der Unterschied… Die Liebenden sind Wissende und die Hassenden sind Ignorante. Das ist der Unterschied zwischen den Menschen. Nicht das Buch an das sie glauben.“ Sie riefen die Polizei und der Hassverbrecher wurde abgeführt. Marwas Vertrauen in das Gesetz inspirierte Giovanni. Sie wussten, es werde etwas dauern, aber der Tag wird kommen, an dem der Verbrecher belangt wird.

Nun war der Tag. Der Tag des Gerichtes. Marwa war im Saal. Giovanni war im Saal. Der Verbrecher war im Saal. Marwa lächelte Giovanni zu. Sie hatte ihm versichert, dass nichts mehr passieren kann. Überall seien Polizisten. Das Recht werde obsiegen. Dann geschah es: Während des Verfahrens stand Christian auf. Er rannte zu Marwa. Nur Giovanni reagierte. Alle anderen im Raum konnten der sich abspielenden Realität nicht trauen und waren wie paralysiert. Christian zog ein Messer und stach auf Marwa mehrmals ein. Ihr Blut floß. Während Giovanni rannte, schrie er: „Jesus. Verzeih uns, denn wir haben gesündigt.“, und versetzte Christian einen tödlichen Hieb. Ein Polizist im Raum besann sich und schoß auf Giovanni. Das war die Besinnung eines Polizisten. „Der Araber ist unschädlich gemacht, der Araber…“ – Giovanni schaute ihn an. Er war getroffen. Am Bein. Er sagte Marwa, dass sie überleben müsse, er wollte ihr und ihrer Familie Sizilien zeigen. Doch sie lag regungslos da und er holte seine Kreuzkette hervor und wiederholte immer wieder die Worte: „Jesus, verzeih uns, wir haben gesündigt. Wir konnten die Notleidenden nicht beschützen… Jesus, verzeih uns, wir haben dich verraten…“

Leserkommentare

Timotheus sagt:
Was könnte man nicht genauso für Kurzgeschichten schreiben über Menschen, die aufgrund einer islamradikalen Gesinnung bestialisch ermordet wurden. Solche Vorfälle könnte man ebenso literarisch aufarbeiten und sich dabei künstlerisch zwischen Dichtung und Wahrgeit bewegen. Im Gedenken an die vielen Opfer von schrecklichen Taten.
02.07.24
2:52