Noch heute wird im Islam über Geschlechterrollen und die Stellung der Frau debattiert. Für die Soziologin Nazife Şişman ist es notwendig, aufgrund tiefgreifender sozialer Veränderungen und Dynamiken, die bestehenden Begriffe und Methoden zu überdenken.
Es wäre nicht falsch zu behaupten, dass eines der kontroversesten Themen für Muslime ein Thema ist, das vor hundert Jahren als „Frauenangelegenheit“ definiert wurde und heute unter dem Begriff „Gender“ zusammengefasst wird. Interessanterweise dreht sich die Diskussion in fast allen Ländern eher um das Thema „Frauen“, obwohl sich das „soziale Geschlecht“ nicht nur auf Frauen bezieht. Das ist auch verständlich – obwohl es in den letzten zwei Jahrhunderten tiefgreifende Veränderungen in der Beziehung zwischen den Geschlechtern und in der Organisation der Familie gegeben hat, wurden diese im Leben der Frauen sichtbar.
Vielleicht ist es deswegen, dass im 19. und 20. Jahrhundert überall auf der Welt über die „neue Frau“ diskutiert wurde. Denn sie war es, die sowohl die treibende Kraft des raschen Wandels gewesen ist als auch gleichzeitig die am stärksten durch diesen Wandel selbst betroffene Gruppe.
Zu ihrer Identität, gesellschaftlichen Stellung und Rolle in der Familie gab es nicht nur positive gesellschaftliche und politische Forderungen wie Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit, sondern es wurden genauso negative Themenbereiche wie Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt angesprochen.
Heute sind wir an einem Punkt angelangt, an dem die Diskussion über das Geschlecht hinauszugehen scheint. Wir sind mit dem Problem eines „neuen Menschen“ konfrontiert, der seinen Geist mit Chips stärkt, seinen Körper mit künstlichen Organen und mithilfe der Bionik kräftigt und Unsterblichkeit anstrebt, indem er seinen Geist in Maschinen hochlädt (Upload). In den vergangenen Jahren hat es eine Reihe wichtiger Ereignisse gegeben, die dieses Problem deutlich gemacht haben. So wurde im Oktober 2017 zum ersten Mal in der Geschichte einem Roboter die saudische Staatsbürgerschaft verliehen. In den türkischen Medien wurde das wie eine Boulevardnachricht behandelt. „Was wird wohl Sophias Schicksal sein, in einem Land, in dem Frauen nicht einmal das Recht haben, ein Auto zu fahren?“, fragte man sich da. Oder man überlegte, ob sie denn nun „… der Scharia gemäß ihr Haupt verhüllen müsse?“
Als man einige Monate später Sophia bei einer Technologiekonferenz das Mikrofon reichte, sagte sie: „In Zukunft möchte ich eine Familie gründen, die Familie ist ein sehr wichtiges Phänomen.“ Anschließend gab dieser erste humanoide Roboter, der in Hinblick auf soziale Dienstleistungen produziert wurde und bei der Altenpflege helfen soll, “intellektuelle“ Kommentare von sich, die sich mit der Beziehung zwischen Technologie und Mensch befassten, ein Bild aus der Populärkultur.
Zu der Zeit, als Sophia, der humanoide Roboter, verkündete, eine Familie gründen zu wollen, lief gerade die Fortsetzung von Blade Runner 2049 in den Kinos an, die auf einem Roman von Philip Dick basiert. Dabei handelte es sich um einen in der Zukunft spielenden Science-Fiction-Film, in dem Roboter nur dann das Recht zu leben haben, wenn sie Kinder bekommen – ein Film vielleicht, der uns auf eine solche Zukunft vorbereiten soll. Wir können ihn nicht ganz als Fiktion bezeichnen, denn wir leben mittlerweile in einer Welt, in der Wissenschaft und Fiktion, Fantasie und Realität ineinandergreifen.
In den letzten Jahren gab es in den Medien immer wieder Berichte über junge Männer in Japan, die Anime-Figuren heiraten. Dabei handelt es sich um einsame Männer, die weibliche Figuren heiraten, die mit traditionell weiblichen Eigenschaften wie Wärme, Sanftheit und Gehorsam ausgestattet sind. Diese Figuren können keine Verantwortung übernehmen, keine Probleme verursachen oder eine wirtschaftliche Belastung darstellen. Interessanterweise ist es gerade auch in Japan Staatspolitik, für viele soziale Probleme Lösungen in der Robotik zu suchen. Japan war immer schon ein Vorreiter bei der Entwicklung von Robotern als Babysitter und in der Altenpflege.
Diese und ähnliche Beispiele zeigen, dass wir vielmehr über „Menschen“ sprechen müssen und nicht über “Frauen“. Diese Notwendigkeit bedeutet jedoch nicht, dass die Probleme, mit denen die Frauen aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität konfrontiert sind und die sich aus der Instabilität des sich verändernden Gleichgewichts zwischen den Geschlechtern ergeben, ein Ende gefunden hätten. „Frauen und Gerechtigkeit“, „Frauen und Gleichheit“, „Frauen und Freiheit“ sind Themenbereiche, die sowohl in der Wissenschaft als auch in der Sozialpolitik nach wie vor bedeutsam sind. Das Problem besteht darin, dass die Muslime in den letzten zwei Jahrhunderten alle Veränderungen nur in Bezug auf die Frauen diskutieren, wobei die Themenbereiche “Frauen im Islam“ und “die Rolle der muslimischen Frau“ im Vordergrund stehen – und das noch dazu unter Verwendung von Begrifflichkeiten des 19. Jahrhunderts.
Dabei vollzieht sich der soziale, politische und wirtschaftliche Wandel so schnell, dass es unmöglich erscheint, das Geschehen auch nur mit den Konzepten zu definieren, die wir noch vor zwanzig Jahren verwendet haben. So wirken sich etwa Veränderungen wie der Übergang von der Hausarbeit zur lebenslangen Erwerbstätigkeit oder der Anstieg des Gebäralters nicht nur in erheblichem Maße auf die Familienstruktur und die Art der Beziehung zwischen den Geschlechtern in der Familie aus, sie verändern diese auch.
Wenn wir dann noch die Entwicklungen in der Medizintechnik und die Versprechungen der Biotechnologie berücksichtigen, wird noch deutlicher, dass die „Frauenfrage“ und die Probleme im Kontext der Familie nicht mit altmodischen Konzepten behandelt werden können. Samenbanken, Leihmütter und die dadurch mögliche In-vitro-Fertilisation haben die Definition von Fortpflanzung, Sexualität, Mutterschaft und Vaterschaft verändert. Die sexuelle Vereinigung von Mann und Frau ist jetzt keine Bedingung mehr für den Fortbestand der menschlichen Rasse, genetische, biologische und soziale Elternschaft sind nunmehr voneinander getrennt.
Ein Baby, das durch Leihmutterschaft geboren wird, kann jetzt mehrere Elternteile haben; so etwa eine genetische Mutter, einen genetischen Vater, eine Leihmutter usw. Auch gleichgeschlechtliche Paare können jetzt Kinder haben. Seit 2002 sind Taiwan und Indien zu Zentren der kommerziellen Leihmutterschaft geworden. Wir leben in einer Welt, in der befruchtete Eizellen von Amerikanern und Europäern von Frauen/Müttern gegen ein bestimmtes Entgelt ausgetragen werden.
Zudem gibt es eine intensive Migration von Frauen/Müttern aus Asien, insbesondere den Philippinen, in westliche Länder, die dann auf die Kinder anderer aufpassen – um für den Unterhalt ihrer eigenen Kinder sorgen zu können. Die Frauen aus dem Süden sind die Kindermädchen für die Kinder bzw. das Pflegepersonal für die älteren Menschen im Norden. Frauen aus Turkmenistan und Usbekistan kommen jetzt in die Türkei, um in der traditionellen Frauenrolle von Kinder- und Altenpflegerinnen zu arbeiten. Die Familienstruktur, die Eltern-Kind-Beziehung und die Stellung der Frau sowohl in der Familie als auch in der Gesellschaft verändern sich radikal.
Allein diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass wir sowohl unsere Herangehensweise an das Thema als auch die Begrifflichkeiten, die wir dabei verwenden, aktualisieren müssen. Häufig scheitert das aber an den Auswirkungen historischer Altlasten. Für muslimische Gesellschaften war die Modernisierung eine Begleiterscheinung der europäischen Expansion und des Kolonialismus. Deshalb wurde die Debatte in dem Rahmen geführt, der von den Beziehungen zwischen dem Westen und dem Osten geprägt wurde.
Die stereotypen Aussagen der Orientalisten, die sich unter der Überschrift “der Islam unterdrückt die Frauen“ zusammenfassen lassen, haben auch das Selbstverständnis der Muslime beeinflusst, die sich mit ihrer militärischen Niederlage gegen den Westen abfinden mussten. Deshalb bestand die Geschichte unserer Modernisierung hauptsächlich darin, auf diese orientalistischen Vorurteile eine Antwort zu geben – und bis heute kann man nicht wirklich sagen, dass wir dieser Position des Reagierens entkommen wären.
Wir beschäftigen uns immer noch mit der Frauenfrage im Spannungsfeld von Moderne/Tradition und Fortschritt/Rückständigkeit. In jüngerer Zeit ist noch die Islamophobie dazugekommen, die sich vor allem am Thema der Verschleierung der Frauen entlädt. In einem solchen sozio-psychologischen Umfeld ist es nicht verwunderlich, dass die Ansichten zu Geschlechterrollen eklektisch und defensiv sind.
Aufgrund des sich wandelnden sozialen und wirtschaftlichen Lebens in der islamischen Welt hat sich das Leben der muslimischen Frauen und Männer in den letzten zwei Jahrhunderten erheblich verändert. Es gab Kriege und mit der Industrialisierung entstand beispielsweise auch die Notwendigkeit für Frauen, in Fabriken zu arbeiten. Diese neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten machten eine neue Rechtsauslegung notwendig. Es wurden zahllose Diskussionen über die Ausbildung, die Arbeit und die Stellung der Frau im gesellschaftlichen Leben geführt. Mit den neuen Auslegungen fanden auch viele neue Vorgehensweisen ihren Platz im islamischen Recht. Doch interessanterweise wurde der Rahmen der Diskussionen während des gesamten Modernisierungsprozesses weniger durch die Veränderungen und Notwendigkeiten des wirklichen Lebens festgelegt, als vielmehr davon, dass wir fortwährend eine Antwort auf die Hinterfragung der Frauenfrage geben wollten. Wenn also Muslime diese Dinge diskutieren, gibt es neben den allgemeinen Merkmalen der noch weitere Dynamiken, die der islamischen Welt eigen sind.
Der Themenbereich der „muslimischen Frau“ ist heute der symbolische und kulturelle Boden, auf dem zahlreiche politische Auseinandersetzungen ausgetragen werden. Gegenwärtig nähern sich die Muslime dem Thema aus zwei Richtungen. Einerseits begnügen sie sich mit der Aussage, dass es im “Islam Frauenrechte gibt“ und frieren unter Berufung auf die Scharia das Recht ein. Obwohl sie für Innovationen in anderen Bereichen durchaus offen sind, erwähnen sie mit keinem Wort die Notwendigkeit einer neuen Rechtsauslegung, die aufgrund der neuen Bedingungen erforderlich ist, wenn es um Frauen geht. Sie sagen einfach: “Im Islam gibt es kein Problem mit Frauenrechten” und schließen die Augen vor den gesellschaftlichen Veränderungen, die die heutige Zeit mit sich bringt. Deshalb bezeichnen und beurteilen sie die Forderungen, die aufgrund der neuen gesellschaftlichen Realität laut werden, als “übertriebene Verwestlichung” und “Verinnerlichung des Feminismus”.
Im Gegensatz dazu steht andererseits, dass Muslime die Geschichte des Islams als eine Geschichte der Fehlinterpretationen ansehen, eine Geschichte der Unterdrückung der Frauen; Für sie ist die heutige Position der Frauen ideal, wobei sie der Aussage der Moderne folgen, dass, was neu ist, auch gut sein muss – sie sind in der sozialen Realität gefangen.
In einem solchen Kontext müssen wir als Muslime zunächst einmal die Ebene klären, auf der wir über das soziale Geschlecht und die Frauen diskutieren. So ist es notwendig, der Frage des Geschlechts auf der metaphysischen und ontologischen Ebene nachzugehen. Über die derzeitige Ebene von “Rolle” und “Identität” hinaus scheint es unabdingbar, die metaphysische und philosophische Perspektive zu aktualisieren, in der das Wesen des “Menschseins” und die Weisheit dargelegt werden, die hinter der Erschaffung unterschiedlicher Geschlechter steht und die den Sinn beleuchten, den die Existenz eines Geschöpfs mit einer Geschlechtszugehörigkeit in der Schöpfung verdeutlicht.
Weiterhin ist es auch unvermeidlich, wenn wir über Geschlecht oder die “Frauenfrage” sprechen, dass wir uns mit den Definitionen, die sich im Laufe der Geschichte verändert haben, den Beziehungen zwischen den Geschlechtern sowie den sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen dieser Beziehungen auseinandersetzen. Wenn wir heute die Gesellschaft beurteilen und unseren Blick auf die Erfahrungen des Alltags richten, dann sollten wir unsere Bewertungen in dem Bewusstsein vornehmen, dass wir uns auf der Ebene einer historisch-gesellschaftlichen Realität befinden.
Wenn wir zum Beispiel über Frauenarbeit sprechen, berücksichtigen wir das dann in Kontext einer bäuerlichen Gesellschaft, einer bürgerlichen Gesellschaft oder der heutigen Konsumgesellschaft? Wenn wir uns zu diesen und ähnlichen Fragen äußern, sollten wir uns bewusst sein, dass wir nicht über eine historische Realität sprechen, sondern über Frauen und Männer und die Beziehungen zwischen ihnen innerhalb der sozialen Wirklichkeit selbst.
Kurz gesagt, Muslime, die sich mit den Herausforderungen der Gender-Diskussion konfrontiert sehen, müssen erkennen, dass sie keine andere Wahl haben, als die Konzepte zu aktualisieren und die Methodik zu klären, wenn sie nicht in einer reaktionären Haltung verurteilt werden wollen.