Sind Sie der Meinung, Muslime wären rückständige Barbaren, haben aber Angst sich den Vorwurf des Rassismus einzuhandeln? Dann versuchen Sie es doch mal mit Islamverbandskritik. Ein Gastbeitrag von Fabian Goldmann.
Alle paar Wochen lässt sich in deutschen Social-Media-Accounts, Politiker-Reden und Zeitungsschlagzeilen dasselbe Schauspiel miterleben: Ein oder mehrere Islamverbände – so heißt im anklagenden Ton – hätten sich nicht distanziert. Wovon genau nicht distanziert? Das ist eigentlich egal.
Messerstecherei in der Fußgängerzone, Schulhofgewalt in Düsseldorf, Kalifats-Demo in Hamburg, Entführung in Nigeria, antiisraelische Proteste in Berlin, Gewalt in Nahost oder Randale im Duisburger Freibad – kein Schauplatz ist zu entfernt, kein gesellschaftliches Problem zu komplex, als dass man es nicht einem muslimischen Verbandsvertreter in die Schuhe schieben könnte.
Was genau nun zum Beispiel der Interessenvertreter türkeistämmiger Moscheegänger aus Köln-Mülheim mit dem Taliban-Anschlag im 5000 Kilometer entfernten Kundus zu tun hat, erfährt man meist nicht. Dafür aber, was mit ihm und seiner Organisation passieren soll: Einstellung aller staatlichen Kooperationen, Entzug von Geldern, öffentliche Ächtung, Verbot.
Die neue Inflation der Islamverbandskritiker ist Ausdruck eines schon einige Jahre andauernden Wandels in der Szene antimuslimischer Stimmungsmacher. Trugen „Islamkritiker“ früherer Tage wie Sarrazin, Kelek und Ulfkotte noch ganz offenen ihre Verachtung gegenüber Muslimen zur Schau, versucht der moderne Verbandskritiker allzu pauschale Anschuldigungen zu vermeiden. Wer heute Stimmung gegen Muslime machen, ihnen ihre Grundrechte absprechen will, der spricht nur noch selten von „den Muslimen“, eher schon von „Agenten des politischen Islam“ – oder eben von den damit synonymen „Islamverbandsfunktionären“.
Kein Take ist zu abgedroschen, kein Rassismus zu plump, als dass er sich nicht noch über den Umweg des „Islamverbandkritik“ zu einem vermeintlich seriösen integrationspolitischen Beitrag umlabeln ließe. Nur die Stereotype, die bleiben dann doch dieselben, egal ob dumpfer Muslimhass oder progressive Verbandskritik: Rückständigkeit, Gewalttätigkeit, Antisemitismus, ausländische Einflussnahme, Unterwanderung.
Für den „Islamverbandskritiker“ selbst bringt dieses Vorgehen gleich zwei Vorteile mich sich: Er vermeidet es, sich für seine antimuslimische Stimmungsmache die berechtigte Kritik des Rassismus einzuhandeln. Mit Verschwörungstheorien über eine islamische Unterwanderung der Gesellschaft hat er zudem die Möglichkeit, sich selbst als mutigen Widerstandskämpfer gegen eine vermeintlich mächtige islamische Bedrohung zu inszenieren.
Nehmen wir beispielsweise Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Wenn die in der BILD-Zeitung mittels Distanzierungsforderungen muslimische Funktionäre in die Nähe der Hamas rückt, handelt es sich da eigentlich um eine mit der ganzen Gewalt des Staats ausgestattete Vertreterin der deutschen Bundesregierung, die gepaart mit der publizistischen Macht von Europas reichweitenstärksten Boulevardzeitung auf Vertreter größtenteils ehrenamtlich organisierter und chronisch unterfinanzierter Verbände eindrischt. In der Selbstinszenierung der Verbandskritiker drehen sich die Machtverhältnisse aber völlig um: Die Stigmatisierung einer gesellschaftlich ohnehin schon marginalisierten Minderheit wird nun zum mutigen Aussprechen unbequemer Wahrheiten gegen eine vermeintlich übermächtige islamische Bedrohung.
Nun ist das alles nicht neu. Auf der Idee, dumpfe antimuslimische Stimmungsmache und das Verbreiten von Verschwörungstheorien über „Islamisierung“ und „Politischen Islam“ als progressive, mutige und aufklärerische Kritik zu verkleiden, haben Generationen von „Islamkritikern“ ihre Karrieren aufgebaut. Neu ist hingegen, die breite gesellschaftliche Akzeptanz, auf die solche Pauschalisierungen stoßen.
Vor einem Jahr musste sich der AfD-Redner, der Muslime mit Gewalttätern und Antisemiten gleichsetzt, noch lautstarke Zwischenrufe aus den Reihen der Grünen, SPD und Linken im Bundestag anhören. Mittlerweile werden antimuslimische Pauschalisierungen über Parteigrenzen hinweg akzeptiert.
Die Zeitenwende der „Islamkritik“ läutete konsequenterweise ein Grüner ein: Robert Habeck. In seiner Rede über „Israel und Antisemitismus“ machte der Bundeswirtschaftsminister am 2. November letzten Jahres eigentlich nicht viel mehr als das, was in der rechten Schmuddelecke seit Jahren gang und gäbe ist: die Schuld auf Muslime zu schieben. Der Unterschied war nur: Anders als seine rechtspopulistischen Ideengeber wurde Habeck über das ganze politische Spektrum dafür gefeiert.
Auch Habeck behauptete damals: Muslimische Repräsentanten hätten sich infolge antisemitischer Ausschreitungen auf propalästinensischen Demos nicht ausreichend von der Hamas distanziert. Außerdem drohte er ihnen, sie würden „ihren eigenen Anspruch auf Toleranz unterlaufen“. Sein Kabinetts- und Parteikollege Cem Özdemir schlug ein paar Tage später in die gleiche Kerbe. Auch er behauptete, die islamischen Religionsgemeinschaften hätten nicht die Gewalt der Hamas verurteilt und attestierte ihnen einen „höchst problematischen Umgang mit Antisemitismus.“
Damit bedienten sich Habeck und Özdemir eines weiteren typischen Merkmals der Legende vom schweigenden Islamverband: Sie ist genau das – eine Legende. Zum Zeitpunkt von Habecks Rede hatten bereits alle relevanten islamischen Vertretungen von sich aus die gewünschte Distanzierung erbracht: die großen wie DITIB, Islamrat und Zentralrat der Muslime genauso wie die kleineren, die Union der Islamisch-Albanischer Zentren oder der Zentralrat der Marokkaner in Deutschland.
Ein Blick auf die Twitter-Accounts und Homepages der Organisationen zeigt: Getrieben vom gesellschaftlichen Generalverdacht sind muslimische Repräsentanten mittlerweile zu wahren Distanzierungsexperten geworden. Das hindert die wachsende Szene von Verbandskritikern freilich nicht daran, den Mythos vom wortlosen muslimischen Verbandsfunktionär weiterzuverbreiten.
„Das gefährliche Schweigen der Islamverbände“, titelte Der Spiegel beispielsweise Anfang Juni, nach dem Mord an einem Polizisten in Mannheim. Im Text hieß es: „Von den Islamverbänden und Moscheevereinen in Deutschland hört man seither mehrheitlich: nichts“. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Textes hatten allerdings bereits zahlreiche islamische Institutionen die Tat verurteilt: ZMD, IGMG und VIKZ ebenso wie die Mannheimer Sultan-Selim-Moschee. Genützt hat ihre schnelle und eindeutige Reaktion nichts. Die Spiegel-Redaktion nutzte trotzdem ein Bild der Moschee, um den Artikel über vermeintlich zur Gewalt schweigende Muslime zu illustrieren.
Bringen also Distanzierungen überhaupt etwas? Lässt sich der Kampf gegen Rassismus und Spaltung gewinnen, indem man nach den Spielregeln der Rassisten und Spalter spielt? Verfolgt man die wiederkehrenden Rituale aus Distanzierungsforderungen und Distanzierungen, fällt schnell auf: Das Distanzierungsspiel lässt sich für Muslime gar nicht gewinnen. Denn nicht nur, wer sich nicht distanziert, verliert. Auch wer sich distanziert, lädt die Kritiker damit nur zu neuer Kritik ein – dieses Mal an der Distanzierung selbst: zu früh, zu spät, zu laut, zu leise, zu spezifisch, zu pauschal!
Außerdem: Sind das nicht bloße Lippenbekenntnisse, um die Öffentlichkeit ruhigzustellen? Und überhaupt: Bestätigt der, der sich distanziert, nicht auch, dass vorher ein Näheverhältnis bestanden hat? Ob nun also mit oder ohne Distanzierung vom Terror: Hamas-Freund bleibt der muslimische Repräsentant ohnehin.
Bleibt die Frage: Na und? Sind Weltbild und Moralvorstellungen vieler muslimischer Repräsentanten nicht wirklich etwas der Zeit gefallen? Geben DITIB, IGMG, ZMD und Co. nicht auch immer wieder Anlass für berechtigte Kritik? Ist es da wirklich so schlimm, wenn mal der ein oder andere Kritiker übers Ziel hinausschießt? Trifft es am Ende nicht doch auch die Richtigen?
Argumentation wie diese dürften einer der Gründe sein, warum sich Islamverbandskritik auch unter Linken zunehmender Beliebtheit erfreut. Wer sich in dieser Logik wiederfindet, kann einfach mal überlegen, warum er es (hoffentlich) ablehnt, jüdische Gemeinden in Deutschland für die Gewalt der israelischen Armee verantwortlich zu machen.
Aber wichtiger noch: Islamverbandskritik trifft eben nicht nur eine Handvoll antiquierter Verbandsfunktionäre. Sie trifft Muslime und Musliminnen – egal ob sie in eine DITIB-, IGMG, ZMD- oder gar keine Moschee gehen. Untersuchungen zeigen: Angriffe auf Muslime und ihren Einrichtungen nehmen immer dann stark zu, wenn ihre Interessenvertretungen mal wieder in den Schlagzeilen stehen.
Hinzu kommt: Gleichberechtigung und Teilhabe von Muslimen in Deutschland sind ohne die viel gescholtenen islamischen Religionsgemeinschaften nicht möglich. Auch wenn öffentliche Debatten einen anderen Eindruck vermitteln: Der Job muslimischer Repräsentanten in Deutschland erschöpft sich nicht darin, das Weltgeschehen zu kommentieren.
Gemeindeleben, Seelsorge, Islamunterricht, Extremismusprävention, interreligiöser Dialog, Jugendarbeit, Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung u. v. m. Viele muslimische Repräsentanten und die unzähligen Freiwilligen in ihren Gemeinden engagieren sich tagtäglich für gesellschaftliche Teilhabe und Miteinander. Dabei reparieren sie auch in gewisser Hinsicht jene Schäden, die „Islam(verbands)kritiker“ mit ihren ausgrenzenden Debatten jeden Tag anrichten. Von Politik und Öffentlichkeit erhalten sie dafür zumeist nur eines: Schweigen.