Ob Terrorbande am Hindukusch oder Imam von neben: Der Begriff „Islamist“ ist zum Sammelbegriff für unliebsame Muslime aller Art geworden. Das hat Folgen für alle Muslime – auch jene, die mit Extremismus nichts zu tun haben.
“Islamismus”. Das allgegenwärtige Schreckgespenst deutscher Migrationsdebatten. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass auf irgendeinem AfD-Account oder Grünen-Parteitag nicht ein neuer Vorschlag zur Bekämpfung der „islamistischen Bedrohung“ laut wird: Abschiebungen nach Afghanistan, Zurückweisungen von Schutzsuchenden, Abschaltung von Tik-Tok, Waffenexporte nach Nahost, Demo-Verbote, Moscheeschließungen…
Noch vielfältiger als die politischen Maßnahmen zur Bekämpfung des „Islamismus“ sind nur die „Islamisten“ selbst – oder jene, die dazu gemacht werden: Messerstecher in der Fußgängerzone, muslimischen Verbandsfunktionär, Terrorbande aus Nahost, türkeistämmiger Gemeinderat, Diktator vom Golf, Imam von nebenan… Nur, was dieser „Islamismus“ eigentlich sein soll, das wird trotz (oder wegen) täglich neuer Islamismusdebatten selten so richtig klar. Gefährlich soll er sein. Und muslimisch natürlich. Da enden die Gemeinsamkeiten der „Islamisten“, die uns in Medien und Politik tagtäglich begegnen aber auch schon.
Diese Unschärfe des Islamismusbegriffs kommt nicht von ungefähr. Sie ist ihm quasi in die Wiege gelegt. Das Licht der Welt erblickte der „Islamismus“ an europäischen und amerikanischen Unis Mitte der 1970er: Als Sammelbezeichnung für politische Bewegungen und Akteure, die im 20. Jahrhundert überall in der islamischen Welt als Antwort auf die Krisen jener Zeit entstanden waren. Schon Ende der 80er hatte der Begriff seine zahlreichen Vorgänger wie „Radikalismus“, „Fundamentalismus“ oder „Islamisches Erwachen“ weitgehend ersetzt.
Was dem Islamismusbegriff bis heute fehlt, ist eine allgemein akzeptierte Definition: Ein Islamist ist jemand, der den Islam als Grundlage für soziale und politische Veränderungen gebraucht. So lautet ein Minimalkonsens unter den Islamismus-Definitionen. Anders als „islamisch“ beschreibt „islamistisch“ also ein politisches und kein religiöses oder kulturelles Phänomen. Welche Merkmale den „Islamismus“ sonst noch ausmachen? Darüber herrscht in der Wissenschaft keine Einigkeit.
Zur Auswahl stehen unter anderem: (Rück)besinnung auf islamische Werte, Streben nach Errichtung einer als islamisch verstanden Gesellschafts- und Werteordnung, Absolutheitsanspruch, Anti-Modernismus, Demokratie-Feindlichkeit und ein patriarchalisches Rollenverständnis und Gewaltbereitschaft. Aber auch Bewegungen und Gruppierungen werden dem „Islamismus“ zugeordnet, die explizit gewaltfrei sind, sich zur Demokratie bekennen oder progressive Gesellschaftsentwürfe anstreben. Vorstellungen, was einen „Islamisten“ ausmachen, variieren außerdem je nach Zeit, wissenschaftlicher Fachrichtung und Denkschule.
Kurzgefasst: Es ist kompliziert mit dem „Islamismus“. So kompliziert, dass viele Wissenschaftler den Begriff gänzlich ablehnen: Wegen seiner fehlenden analytischen Schärfe. Weil er die Grenzen zwischen Religion und Politik verschwimmen lässt. Weil er Phänomen und Akteure, die nichts miteinander zu tun haben, in einen Topf wirft. Aufgrund seiner Unschärfe und des damit einhergehenden Missbrauchspotenzials.
Verfechter argumentierten hingegen: Der Islamismus-Begriff habe deshalb eine Berechtigung, weil „Islamisten“ trotz aller Unterschiede doch einen gemeinsamen historischen Ursprung haben. Das mag stimmen. Aber das gilt auch für Stalin, die kolumbianischen Farc-Rebellen und den Deutschen Gewerkschaftsbund. Kaum jemand ist der Meinung, der Begriff „Kommunismus“ reiche aus, um die unzähligen linken Gruppierungen, Ideologien und Bewegungen weltweit, die irgendwie ihren Ursprung in den Schriften von Marx und Engels haben, adäquat zu beschreiben. Niemand käme auf die Idee, Kim Jong-un, Olaf Scholz und den Sozialarbeiter von nebenan zur gemeinsamen sozialistischen Bedrohung zu erklären. Bei sogenannten „Islamisten“ ist dies hingegen gang und gäbe.
Außerhalb von Universitäten ist das Problem willkürlicher Islamismus-Zuschreibungen sogar noch größer. In Medien, Politik und Öffentlichkeit ist der Begriff „Islamist“ zum Synonym für unliebsame Muslime aller Art geworden, zum Instrument der Markierung, Stigmatisierung und Kriminalisierung. Um bei den Vergleichen zu bleiben: Die populäre Verwendung des Begriffs „Islamismus“ ergibt in etwa so viel Sinn, als fasse man israelische Siedler und jüdische Friedensaktivistinnen unter „Judaismus“ zusammen oder bezeichne Mitglieder von Ku-Klux-Klan, CSU und Caritas als „Agenten des Politischen Christentums“.
Auffällig dabei: Viele „Islamisten“, die uns in Medien und Politik begegnen, sind nicht einmal sonderlich extrem. Häufig trifft die Zuschreibung ausgerechnet Menschen, die sich demokratisch engagieren und eine gewisse öffentliche Sichtbarkeit erlangt haben: Vertreter islamischer Religionsgemeinschaften, Mitglieder religiöser Arbeitskreise, Moscheevorstände, muslimische Medienschaffende und Politiker…
Der Umstand, dass viele der Gescholtenen sich ein leben lang gegen Diskriminierung und Extremismus aller Arten engagiert haben, wird selten zu ihrer Verteidigung angeführt. Im Gegenteil: Gerade ihre Gesetzestreue und ihr demokratisches Engagement – so liest man in CDU-Papieren, Verfassungsschutzberichten und Artikeln der BILD regelmäßig – machen diese „Legalistischen Islamisten“ so gefährlich.
Insbesondere der Verfassungsschutz produziert auf diese Weise seit einigen Jahren „Islamisten“ am Fließband. In dessen Berichten werden tausende Muslime zu Islamisten erklärt, die sich nie etwas haben zuschulden kommen lassen. Oftmals der einzige Grund: die Mitgliedschaft in (in Deutschland legalen) Organisationen und deren wissenschaftlich fragwürdige Zuordnung zu einem historischen islamistischen Ursprung. In vielen anderen Fällen sorgen Kontaktschuldvorwürfe dafür, dass bestens integrierte Bürger zur extremistischen Bedrohung erklärt werden.
Konkurrenz erhält der Begriff „Islamismus“ in den letzten Jahren vom nahezu identischen „Politischen Islam“. Als Alternative zum vorbelasteten „Islamismus“ etablierte sich auch der „Politische Islam“ zuerst an Hochschulen und in Forschungseinrichtungen, bis Politik und Öffentlichkeit den Begriff entdeckten. In Bestsellern, Tageszeitungen und Parteitagsbeschlüssen liest man nun regelmäßig von „Agenten des Politischen Islam“, die dabei wären, westliche Gesellschaften zu infiltrieren und in eine islamische Diktatur zu verwandeln.
Es sind die alten rechten Verschwörungstheorien von „Islamisierung“ und „Unterwanderung“, die als Warnung vor „Islamismus“ und „Politischem Islam“ im modernen bürgerlichen Gewand daherkommen. Es ist nur folgerichtig, dass als „islamistisch“ in Medien und Politik in den letzten Jahren immer häufiger Praktiken bezeichnet, die in Wahrheit nichts anderes sind als „islamisch“: Kopftuchtragen, Halal-Essen, Muezzinruf… Auch das zeigt: Die ausgrenzende Macht des Begriffs „Islamismus“ und der Debatten, die wir mit ihm führen, richten sich nicht nur gegen Gewalttäter und Extremisten, sie richtet sich gegen ganz gewöhnliche Muslime und ihr Recht auf Religionsausübung und Teilhabe in Deutschland.