Seit dem 7. Oktober stehen Muslime vor neuen Herausforderungen. Der Gaza-Krieg wirkt sich zunehmend auf das gesellschaftliche Klima aus, Spannungen und Diskriminierung nehmen zu. Ein Gespräch.
Der Gaza-Krieg hat weitreichende Auswirkungen, auch auf die muslimischen Gemeinden in Deutschland. Die Gewalt im Nahen Osten erschüttert nicht nur die betroffenen Regionen, sondern lässt auch die sozialen Spannungen in Europa und besonders in Deutschland wachsen. Antisemitische und islamfeindliche Übergriffe haben zugenommen, und religiöse Gemeinschaften sehen sich mit neuen Herausforderungen konfrontiert.
Für viele muslimische Vertreter war der 7. Oktober ein Tag des Schocks und der Unsicherheit. „Wir waren fassungslos. Die Brutalität der Gewalt hat uns schockiert. Wir waren aber auch verunsichert, welche Folgen dieser Terroranschlag auf die Menschen in der Region haben würde“, erklärt Ali Mete, Generalsekretär der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG), auf Anfrage von IslamiQ. Auch Eyüp Kalyon, Generalsekretär der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB), teilt diese Gefühle. „Es war für uns alle ein schrecklicher Tag. Die Nachrichten über Tote und Geiseln haben uns alle erschüttert.“
Seit den eskalierenden Ereignissen haben islamfeindliche und antisemitische Straftaten in Deutschland deutlich zugenommen. Diese Entwicklung bereitet den Moscheegemeinden große Sorge, da sie nicht nur das Miteinander in Deutschland gefährdet, sondern auch das Vertrauen in den gesellschaftlichen Zusammenhalt erschüttert. „Da wird viel kaputtgemacht, was in vielen Jahren mühsam aufgebaut wurde“, betont Mete. Für ihn stehen islamfeindliche und antisemitische Straftaten in Deutschland auf derselben Stufe. „Trifft es heute die anderen, trifft es morgen uns. Das war schon immer so“, mahnt er.
Kalyon sieht die Spirale der Gewalt als eine ernste Bedrohung für das soziale Gefüge. „Jede Art von Diskriminierung und Gewalt gilt, ist ein Angriff auf unser gesellschaftliches Miteinander.“ Er betont die Bedeutung des Dialogs und fordert, dass Gesellschaft, Politik und Religionsgemeinschaften gemeinsam gegen die zunehmenden Feindseligkeiten vorgehen.
Nach dem 7. Oktober wurden islamische Religionsgemeinschaften häufig dafür kritisiert, sich nicht deutlich genug von den Angriffen distanziert zu haben. Dies führte zu einer breiten medialen Debatte, die sowohl Mete als auch Kalyon als ungerecht empfunden haben. „Wir haben unsere Position früh genug kundgetan und jegliche Gewalt an unschuldigen Zivilisten angeprangert“, erklärt Kalyon.
Beide sind sich der Rolle der Religionsgemeinschaften in Krisenzeiten bewusst. In diesen unsicheren Zeiten sehen sich islamische Religionsgemeinschaften mit der Aufgabe konfrontiert, den Menschen Trost zu spenden und als moralischer Kompass zu fungieren. Für Mete bedeutet dies, dass religiöse Gemeinschaften „den Menschen beistehen, ihnen Halt und Kraft spenden“, aber auch aktiv dazu beitragen, „dass Vorurteile abgebaut und der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt werden.“ Kalyon sieht die spirituelle Kraft der Religion als eine Quelle, die den Menschen helfen kann, Ängste und Unsicherheiten zu überwinden: „Die spirituelle Kraft der Religionsgemeinschaften hat das Potenzial, Zukunftsängste und eine gesellschaftliche Verrohung abzumildern.“ Besonders in Krisenzeiten sei es wichtig, Hoffnung und Trost zu spenden.
Die Lage im Nahen Osten hat auch innerhalb der muslimischen Gemeinden in Deutschland Spuren hinterlassen. Viele Gemeindemitglieder sind verunsichert und fühlen sich hilflos angesichts der Gewalt, die sie aus der Ferne mitverfolgen. „Man merkt natürlich, dass die Lage in Nahost viele Menschen aufwühlt“, sagt Mete, „die deutlich einseitige Betrachtung des Krieges und die selektive Solidarität mit den Opfern in Politik und Medien macht den Austausch darüber nicht immer einfach.“ Trotz dieser Herausforderungen berichtet er, dass es in den Moscheen kaum zu Spannungen gekommen sei. Kalyon betont die Bedeutung der Moscheen als Zufluchtsort in diesen schwierigen Zeiten. „Natürlich ist es auch legitim, dass Menschen über ihre Sorgen, Ängste und ihren Frust reden können“, sagt er. Gleichzeitig sei es jedoch wichtig, dass diese Gefühle nicht für Hetze gegen andere instrumentalisiert werden.
Ein weiteres sensibles Thema ist die Frage des Antisemitismus innerhalb muslimischer Gemeinden. Der Nahostkonflikt hat diese Diskussion erneut befeuert, und beide Generalsekretäre betonen, dass antisemitische Haltungen in ihren Gemeinschaften nicht toleriert werden. „Keine Art von Menschenhass, darunter auch der Antisemitismus, werden in unseren Moscheen geduldet“, stellt Kalyon klar. Allerdings könne man nicht verhindern, dass Menschen durch soziale Medien oder ihr Umfeld beeinflusst werden. Daher sei es umso wichtiger, an das Verantwortungsbewusstsein der Muslime zu appellieren und diese dazu zu ermutigen, sich für ein friedliches Miteinander einzusetzen. Mete sieht die Bekämpfung von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit als eine gemeinsame Aufgabe: „Antisemitismus oder Islamfeindlichkeit und andere Formen von Rassismus im Grunde alle dasselbe Ziel haben: Unterdrückung und Vernichtung des Anderen, des vermeintlich Fremden.“ Für ihn gibt es keine Abstufungen: „Alle Formen des Rassismus sind die Kehrseiten derselben Medaille.“
Die muslimischen Gemeinden in Deutschland stehen nach dem 7. Oktober vor einer doppelten Herausforderung. Zum einen müssen sie auf die sozialen Spannungen reagieren, die durch den Nahostkonflikt auch in Deutschland zunehmen. Zum anderen sehen sie sich in der Verantwortung, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken und die Menschen in dieser schwierigen Zeit zu unterstützen. Der Weg dahin führt für Mete und Kalyon über Dialog, Empathie und den unermüdlichen Einsatz für den Frieden.