Nach einem Jahr Gaza-Krieg liegen große Teile des Nahen Ostens in Trümmern. Und mit ihnen die Glaubwürdigkeit des deutschen Nahost-Journalismus. Eine Analyse von Fabian Goldmann.
Dieser Bias zugunsten israelischer und zu Lasten aller anderen Opfer, wird besonders an jenen Tagen deutlich sichtbar, an denen neben Palästinensern, Libanesen, Syrern oder Jemeniten auch Israelis sterben. Der 1. September 2024 war so ein Tag. Palästinensische und israelische Behörden meldeten an dem Tag insgesamt 53 Tote: 47 Palästinenser kamen bei israelischen Angriffen im Gazastreifen ums Leben. Aus einem Tunnel in Rafah barg die israelische Armee zudem sechs tote israelische Geiseln. Letztere waren an jenem Tag das Top-Nachrichtenthema in deutschen Medien. In unzähligen Zeitungsbeiträgen gab es Geschichten über jeden einzelnen der Getöteten. Online-Medien zeigten Kinderbilder, im Radio und TV liefen Interviews mit den Angehörigen.
Allein auf der Website der Tagesschau erschienen zu den sechs getöteten israelischen Geiseln an diesem Tag 21 Beiträge. Von den 47 Palästinensern, die am selben Tag getötet wurden, erfuhr das Tagesschau-Publikum hingegen so gut wie nichts. Ein zehnzeiliger Eintrag im Live-Blog über „11 Tote bei Angriff im Gazastreifen“ war der einzige Hinweis, dass an jenem Tag auch Palästinenser ums Leben gekommen waren. Und selbst diese knappe Meldung bestand zur Hälfte aus der Darstellung der israelischen Armee, wonach der Angriff einer „Hamas-Kommandozentrale“ gegolten habe.
Dieser Schieflage zugunsten israelischer und zu Lasten alle anderen Opfer findet sich in allen großen deutschen Medien. Aber in keinem Medium ist sie so extrem wie in der BILD. Schon vor dem 7. Oktober 2023 waren Palästinenser in Deutschlands auflagenstärkster Zeitung fast dann nur ein Thema, wenn sich Aggressionen gegen Israel richteten und nie, wenn Aggressionen von Israel ausgingen (oder wenn Bild es so darstellen konnte).
Menschen, die sich nur über BILD informieren, leben in einer Parallelwelt, die das von Israel in der Region verursachte Leid völlig ausblendet. Von Menschen, die unter Israels Politik leiden, erfährt man in BILD allenfalls dann, wenn sich diese als Terroristen darstellen lassen oder auf anderem Weg für ihr Leid selbst verantwortlich machen lassen können.
Der 13. Juli 2024 war einer der seltenen Tage, an dem es ein israelischer Angriff in eine Schlagzeile von Bild.de schaffte. Sie lautete: „Israels Schlag gegen Terror-Führer: Ist die Hamas-Bestie HIER etwa lebend rausgekommen?“ Dazu ein Foto von Mohammed Deif, des Chefs der Qassam-Brigaden, dem militanten Arm der Hamas. Über die mindestens 90 weiteren Todesopfer und über 300 Verwundeten, die Israels Bombardierung des Flüchtlingslagers al-Mawasi zur Folge hatte, erfuhren BILD-Leser nichts.
Auch über Opfer der israelischen Angriffe auf den Libanon erfahren BILD-Leser nur dann etwas, wenn es sich nach Darstellung von BILD dabei um „Hisbollah-Terroristen“ handelt. Nur ein einziges Mal schafften es ein Toter des Krieges im Libanon mit Foto und Namen auf Bild.de – ohne von der Redaktion als Terrorist bezeichnet zu werden. „Von Hisbollah-Terroristen erschossen: Israel-Soldat († 22) verschickte vor seinem Tod ein Video“, lautete die Schlagzeile vom 2. Oktober 2024. Über die 2.000 Menschen, die „Israel-Soldaten“ in den letzten Monaten im Libanon töteten, erfuhren BILD-Leser nichts.
In vielerlei Hinsicht haben auch andere deutsche Medien ihre Art der Nahost-Berichterstattung in den letzten Monaten von BILD übernommen. Die unkritische Übernahme israelischer Armeepropaganda, der Ausschluss palästinensischer Stimmen, der einseitige und wirklichkeitsverzerrende Fokus auf israelische Opfer, der oftmals mitschwingende Rassismus und die Ausblendung aller Fakten und Perspektiven, die sich nicht in die Erzählung von der islamischen Barbarei und der westlichen Zivilisation fügen: Für alle das steht die Berichterstattung der BILD schon seit Jahren. Während die Zeitung bis zum 7. Oktober 2023 aus den meisten anderen Redaktionen für diese Art der Berichterstattung entweder belächelt oder verachtet wurde, tun es ihr die meisten großen Medien in Deutschland mittlerweile gleich.
Das zeigt sich vor allem daran, was Medien nicht berichten. Das größte Versagen deutscher Nahost-Berichterstattung besteht nicht in den einseitigen, irreführenden oder falschen Berichten. Es besteht in den Berichten, die nie geschrieben und Beiträgen, die nie gesendet wurden. Ein Großteil des Schreckens, der sich jeden Tag im Nahen Osten versteckt sich bestenfalls in kleinen Agenturmeldungen oder den hinteren Zeitungsseiten. Immer häufiger findet er gar nicht statt.
Am 10.8.24 bombardierte die israelische Armee eine mit Flüchtlingen überfüllte Schule in Gaza und tötete über 100 Menschen. Keiner einzigen größeren deutschen Tageszeitung war das Massaker ein Aufmacher auf ihrer Titelseite wert. pic.twitter.com/2n1EL5YrF6
— Fabian Goldmann (@goldi) August 12, 2024
In der Nacht auf den 10. August 2024 bombardierte die israelische Armee eine mit Flüchtlingen überfüllte Schule im Osten von Gaza-Stadt und tötete nach palästinensischen Angaben über 100 Menschen. Der Angriff auf die Tabin-Schule war eines der größten Massaker dieses Krieges und wäre zu anderen Zeiten und im Fall anderer politischer Konstellationen Gegenstand von Breaking News und Titelseiten gewesen. In fast allen deutschen Medien war das Massaker hingegen bestenfalls ein Ereignis von vielen. Die Aufmacher der großen Online-Nachrichtenwebsites am Morgen nach dem Angriff: die Renovierung des Berliner Pergamon-Museums (Der Spiegel), eine neue Abnehmspritze (Zeit Online), die Talahon-Abteilung einer Edeka-Abteilung (BILD). Auch auf den Covern der großen Tageszeitungen fand das Massaker kaum statt. Eine kleine Meldung auf der Titelseite der Süddeutschen war die einzige Erwähnung. Einzig die Junge Welt widmete dem Angriff auf die Tabin-Schule ihren Aufmacher.
Nicht nur das Ausmaß des Leides in Nahost hat immer seltener in deutschen Medien Platz. Große Leerstellen finden sich in deutschen Medien auch immer dann, wenn Nachrichten publik werden, die die gängigen israelischen Narrative infrage stellen. In tausenden Beiträgen wird bis heute die Geschichte erzählt, wonach Israel den Krieg in Gaza führe und führen müsse, um die Geisel aus der Gefangenschaft der Hamas zu befreien. Berichte darüber, dass die Hamas schon am 9. Oktober 2023 die Freilassung aller Geiseln im Gegenzug für ein Ende der israelischen Angriffe angeboten haben soll, finden sich in großen deutschen Medien nicht. Am 8. November 2023 bot die Hamas erneut die Freilassung aller Geiseln an, diesmal im Gegenzug zur Freilassung palästinensischer Gefangener. Wieder lehnte die israelische Regierung ab. Auch als die Hamas einem im Mai 2024 von den USA nach israelischen Vorgaben modellierten und vom UN-Sicherheitsrat unterstützten Abkommen zustimmte, erfuhr man davon in deutschen Medien wenig. Erst als die Hamas neue Forderungen Israels, u.a. nach einer dauerhaften Besetzung von den Teilen des Gazastreifens, zurückwies, berichteten auch viele deutsche Medien: „Hamas schlägt Waffenruhe-Deal aus.“
Auffällig sprachlos werden deutsche Journalisten auch immer dann, wenn sich Ereignisse nicht ins westliche Klischee eines Nahen Ostens fügen, der sich stets zwischen „Flächenbrand“, „Teufelskreis“ und „Strudel der Gewalt“ bewege und in dem Sicherheit nur durch militärische Stärke hergestellt werden könne. Als Ayman Safadi am 27. September 2024 am Rande einer UN-Versammlung in New York für die Kameras trat, hätte seien Aussage eigentlich das Zeug für Titelseiten und Breaking News gehabt. Was Jordaniens Außenminister vorschlug, war nicht weniger als der Weg zu Frieden und Sicherheit für die gesamte Region. Im Namen sämtlicher 57 arabischen und islamischen Staaten bot Safadi Israel einen sofortigen Frieden und die vollständige Normalisierung der Beziehung an. Außerdem würden sein Land und alle anderen Staaten für die Sicherheit Israels garantieren. Im Gegenzug soll Israel die Besatzung beenden und die Errichtung eines palästinensischen Staates zulassen. Kurz: Für Frieden mit der gesamten arabisch-islamischen Welt muss sich Israel nur an internationales Recht halten. Es ist genau das, was auch der Internationale Gerichtshof wenige Monate zuvor von Israel forderte. Dieses Friedensangebot der Arabischen Liga liegt seit 2002 auf dem Tisch und wurde seitdem immer wieder erneuert. Größere mediale Beachtung erregte es in westlichen Medien in den letzten Jahren genauso wenig wie aktuell.
„Context is everything.” Diesen Satz hat wahrscheinlich jeder Journalist unzählige Male in Studium oder Volontariat gehört. Nimmt man ihn ernst, würde das bedeuten: Der Großteil der deutschen Nahost-Berichterstattung ist nichts. Schon vor dem 7. Oktober 2023 kamen Begriffe wie „Besatzung“, „Belagerung“ oder „Vertreibung“ auffällig selten in Berichten zu aktuellen Ereignissen in Israel und Palästina vor. Dabei sind aktuelle Ereignisse ohne ein Mindestverständnis von Geschichte und Politik der Region nicht zu verstehen.
Schon fast an Geschichtsklitterung grenzt die chronische Weigerung vieler deutscher Redaktionen, sich mit den Ereignissen vor dem 7. Oktober 2023 auseinanderzusetzen. Mehr noch: Viele Journalisten machen die eigene Ignoranz gegenüber der Gewalt, Besatzung und Entrechtung, die die Region bis zum 6. Oktober 2023 prägte, zu einer Art politischem Statement: Die Botschaft in vielen Medien bis heute: Nichts rechtfertigt den 7. Oktober, der 7. Oktober rechtfertigt alles.
„2023 is ‚deadliest year‘ for Palestinian children say human rights groups”. Allein diese in sozialen Medien im letzten Jahr tausendfach geteilte Zeitungsschlagzeile vom 6. Oktober 2023 müsste auch für Journalisten ohne irgendeine Ahnung von der Geschichte der Region Anlass genug sein, um kurz innezuhalten und sich über die Geschichte des Konflikts zu informieren. Doch Einordnungen zur seit 17 Jahren andauernden Belagerung des Gazastreifens, der seit 57 Jahren andauernden israelischen Besatzung, den seit 76 Jahren andauernden Vertreibungen und Entrechtungen finden sich nur in wenigen Beiträgen deutscher Medien. „It didn’t start on Oct 7” ist ein beliebter Slogan in Sozialen Medien und auf palästinensischen Kundgebungen im letzten Jahr. In den meisten deutschen Redaktionen ist diese Binsenweisheit noch nicht angekommen.
Wie sehr ein Journalismus, der nur noch aus der endlosen Wiederholung vermeintlicher „Hamas-Kommandozentren“ und „begrenzter Gegenschläge“ besteht, die Realität verschleiert, zeigte sich unter anderem am 26. Januar 2024. An dem Tag ordnete der Internationale Gerichtshof (IGH) Israel an, alles zu tun, um einen Völkermord an den Palästinensern im Gazastreifen zu verhindern. Die Anordnung wurde weitgehend ignoriert – von Israel und den meisten Medien. In den Print-Ausgaben der großen deutschen Tageszeitungen fand sich die Warnung vor einem Völkermord durch das höchste Gericht der Welt, in einer einzigen Schlagzeile wieder. Das Top-Nachrichtenthema zu dieser Zeit: Anschuldigungen der israelischen Armee, im Palästina-Hilfswerk der Vereinten Nationen (UNRWA) befänden sich „Hamas-Terroristen.“
Eine Zerstörung wie sie die Welt seit 1948 nicht gesehen hat. Mit drastischen Worten beschreibt auch das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen die Folgen des Krieges in Gaza. Selbst im Best Case- Szenario würde der Wiederaufbau bis ins Jahr 2040 dauern. Realistischer sei, dass die Schäden auch im nächsten Jahrhundert noch nicht überwunden seien. Für die Glaubwürdigkeit des deutschen Journalismus dürfte die Prognose ähnlich lauten.