Nach einem Jahr Gaza-Krieg liegen große Teile des Nahen Ostens in Trümmern. Und mit ihnen die Glaubwürdigkeit des deutschen Nahost-Journalismus. Eine Analyse von Fabian Goldmann.
Wer wissen will, in welchem Zustand sich deutsche Berichterstattung zum Gaza-Krieg nach dem 7. Oktober 2023 befindet, musste nur am 7. Oktober 2024 die Abendnachrichten einschalten. In einem langen Beitrag widmete sich die Tagesschau den Opfern des Hamas-Angriffs vor einem Jahr. Es ist ein empathischer, schmerzhafter Beitrag. Zuschauer sehen die Gesichter der mehr als 1.200 Toten und 251 Verschleppten, erfahren die Namen und Geschichten hinter dem – so die Sprecherin – „schlimmsten Massaker an Juden seit dem Holocaust“.
Auch der Krieg, mit dem Israel seitdem die Region überzieht, ist Thema der Sendung. Israel werde „von mehreren Seiten angegriffen und wehrt sich mit militärischer Härte gegen seine Feinde“, lautet diesmal die Zusammenfassung. In einer Chronik erfahren Zuschauer vom Kampf Israels gegen Hamas und Hisbollah, der auch Zivilisten das Leben gekostet habe. Bilder der Toten, ihrer Hinterbliebenen oder der Millionen Vertriebenen gibt es nicht zu sehen. Die einzigen Palästinenser, die das Publikum in dem neunminütigen Beitrag zu Gesicht bekommt: wütende Männer mit Kalaschnikow.
Einseitigkeit, Entmenschlichung, Ignoranz. Das sind einige der Merkmale deutscher Nahost-Berichterstattung nach dem 7. Oktober. Wer in Deutschland heute die Zeitungen aufschlägt oder den Fernseher einschaltet, um sich über den Krieg in Nahost zu informieren, der stößt mit großer Wahrscheinlichkeit auf Statements der israelischen Armee. Auf Verbrechen, deren Täter sich hinter Passivkonstruktionen verbergen. Auf Euphemismen über „gezielte Gegenschläge“ und „begrenzte Bodeneinsätze“. Auf Floskeln über „Gewaltspiralen“ und „Flächenbrände“. Auf Auslassungen, Rassismus und Fake News. Nur auf guten Journalismus stößt man immer seltener.
Der Abgrund deutscher Nahost-Berichterstattung öffnet sich in nahezu jeder Nachrichtensendung, auf den Seiten der meisten Tageszeitungen: ob öffentlich-rechtlich oder privat, Boulevard oder seriös, links oder bürgerlich. Betroffen sind auch alle Aspekte journalistischen Handwerks. Von der Wahl von Themen und Perspektiven, über den Umgang mit Quellen, Fakten und Meinungen bis zur Entscheidung über die richtigen Worte, Bilder und Kontexte.
Die Ursachen des Niedergangs: Weit verbreitete rassistische Klischees über islamische Barbarei und westliche Zivilisation. Ein Journalismus, die sich traditionell eher darin versteht, die Politik der Mächtigen darzustellen als zu hinterfragen. Die auch von vielen Journalisten empfundene besondere deutsche Verantwortung für Israel, die sich absurderweise nun in der bedingungslosen Unterstützung eines rechtsextremen, mörderischen Regimes manifestiert, unter dessen Politik auch die eigene Bevölkerung leidet.
Toxisch wirkte dieser Mix in deutschen Redaktionen auch schon vor dem 7. Oktober. Aber so wie Chemikalien erst beim richtigen Verhältnis aus Druck und Temperatur zur Explosion führen, brauchte es auch in deutschen Redaktionen einen Auslöser, um die Katastrophe herbeizuführen.
In einer Art kollektiven Wettbewerb aus Entmenschlichung und Dramatisierung übertrafen sich Medienschaffende nach dem 7. Oktober gegenseitig. Zeitenwende. Zäsur. Zivilisation gegen Barbarei. Darunter ging es oftmals nicht mehr. „Es gibt keine unschuldigen Zivilisten in Gaza“ und „Allahu Akbar ist das neue Sieg Heil“, titelte Die Welt. Holocaust-Vergleiche – jahrzehntelang ein tabuisiertes rhetorisches Mittel im deutschen öffentlichen Diskurs und immer wieder Gegenstand von Skandalen – wurden selbst in den bewusst seriösen Abendnachrichten von ZDF Heute und Tagesschau zum Normalfall. In Regionalzeitungen meldeten Journalisten Funde von palästinensischen Fahnen und Kufiyas an Schulen, als hätten sie eigenhändig einen Hamas-Unterstand ausgespäht. Dem bedingungslosen Bekenntnis zu Israel, das der Bundestag am 10. Oktober 2023 einstimmig von Linke bis AfD ausgegeben hatte, schienen sich nun auch viele Journalisten anzuschließen.
Dabei nahmen und nehmen es viele Redaktionen auch mit der Faktentreue schnell nicht mehr so genau. „Babys mit abgeschnittenen Köpfen“, titelte die BILD am 11. Oktober 2023. „Haben Terroristen ein Baby im Ofen verbrannt?“, lautete die Schlagzeile zwei Wochen später. Diese und andere Fake News fanden den Weg in die Medien vieler westlicher Länder. Aber nur in Deutschland verbreiteten sie sich über das ganze mediale Spektrum: von der linken taz bis zur rechten Welt, vom Politik-Krawall-Magazin Focus bis zum seriösen ZDF. Richtiggestellt wurden solche Falschmeldungen nie, teilweise werden sie bis heute verbreitet. Die Wirkung, die sie hinterließen, ist ohnehin nicht zurückzunehmen: die totale Entmenschlichung des Gegners.
Angesichts des Schreckens des 7. Oktobers – und dem, was viele Medien daraus machten, schien nun alles möglich, alles erlaubt. Für Israels Armee, die die Region bis heute mit einem für unvorstellbar gehaltenen Maß an Gewalt überzieht. Aber auch für jene, die darüber berichteten. Wer nach dem 7. Oktober die kontinuierlichen Tabubrüche und Regelverletzungen hinterfragte, galt schnell selbst als Terrorsympathisant. In aufgeregten Feuilleton-Beiträgen und Boulevard-Schlagzeilen wurden öffentlich-rechtliche Nachrichtensprecher dafür angeprangert, wenn sie die Angreifer des 7. Oktober einmal nicht als „Barbaren“ oder „Terroristen“, sondern nur als „Kämpfer“ oder „Militante“ bezeichneten. Journalisten, die es wagten darauf hinzuweisen, dass der Nahost-Konflikt nicht am 7. Oktober 2023 begann, auch Massaker eine Vorgeschichte haben, wurden in mehreren Fällen gleich ganz gecancelt.
Problemlos weiterarbeiten konnte, wer mitmachte bei der Stimmungsmache: gegen Palästinenser, gegen Muslime und ihre „linke Unterstützer“. Und wer seine journalistischen Standards hintenanstellte und seine Berichterstattung stattdessen an den Narrativen orientierte, die die Presseabteilung der israelischen Armee ausgab.
Die Schieflage deutscher Nahost-Berichterstattung zeigt sich unter anderem bei der Frage, wen Medienschaffende zu Wort kommen lassen. Eigentlich sind Journalisten gehalten, allen relevanten Seiten Gehör zu verschaffen. Doch in der Praxis bekommen deutsche Medienkonsumenten seit einem Jahr meist die Stimmen der israelischen Seite zu hören.
Vertreter von israelischer Armee, israelischer Regierung und israelischen Geheimdiensten gehören heute zur Standardbesetzung deutscher Nachrichtensendung. In der Tagesschau zum Beispiel waren im ersten Monat nach dem 7. Oktober in 31 Sendungen insgesamt 28-mal Vertreter aus israelischer Regierung und Armee zu hören. Einen offiziellen palästinensischen Vertreter, sei es von Hamas oder PLO, aus Gaza, der Westbank oder aus dem Ausland bekam das Tagesschau-Publikum in dieser Zeit kein einziges Mal zu Gesicht. Hinterfragt oder kritisch eingeordnet wurden die israelischen Aussagen fast nie.
In Print-Medien ist das Bild ähnlich. Allein der aus Berlin stammende Sprecher der israelischen Armee Arye Sharuz Shalicar kam zwischen dem 7. Oktober und 6. November 45-mal in den zehn auflagenstärksten deutschen Zeitungen zu Wort. Dutzende weitere Male in Talkshows, Fernsehbeiträgen und Online-Medien. Weit mehr als alle palästinensischen offiziellen Vertreter zusammen.
Die Allgegenwärtigkeit israelischer Armeesprecher und Regierungsvertreter bei gleichzeitigem Ausschluss palästinensischer Stimmen ist aber nur die Spitze des Eisberges, der die Glaubwürdigkeit des deutschen Nahostjournalismus im letzten Jahr zum Sinken brachte. „Sagen, was ist.“ Aus dem alten Spiegel-Slogan wurde mit dem 7. Oktober für viele Medien: „Sagen, was die israelische Armee behauptet.“
Statt aus eigener Recherche oder zumindest aus dem Überprüfen der Angaben von Kriegsparteien auf Plausibilität besteht deutsche Nahost-Berichterstattung heute zum großen Teil aus der Wiedergabe von Behauptungen der israelischen Armee. In vielen Fällen sind Meldungen deutscher Medien von den Pressemitteilungen der israelischen Armee nur noch durch Anführungszeichen und Konjunktive zu unterscheiden. Häufig fehlen selbst diese.
Wie tödlich die Folgen solcher unkritischen Berichterstattung sein können, zeigte sich erstmals Ende Oktober 2023. Als Israels Armee die Behauptung aufstellte, in einem Krankenhaus befände sich eine „Hamas-Kommandozentrale“, regten sich in vielen deutschen Redaktionen keine Zweifel. „Israelische Armee greift Stellungen und Infrastruktur der Hamas an“, titelte die Tagesschau am 28. Oktober 2023. Gemeint war die Al-Shifa-Klinik, zu der Zeit noch das größte Krankenhaus im Gazastreifen. „Die Terror-Klinik ist enttarnt“, meldete auch BILD. „Hamas-Zentrale unter Schifa Krankenhaus“ gefunden, titelte die FAZ.
Ähnliche Meldungen fanden sich auch in Medien anderer westlicher Länder. Aber anders als in deutschen Medien fanden sich dort auch Journalisten, die die Angaben der israelischen Armee überprüften. Unter anderem Reporter von BBC, The Guardian und Washington Post sprachen mit Augenzeugen, werteten Fotos, Videos, Dokumente und andere Daten aus und prüften israelische Angaben auf ihre Konsistenz und Plausibilität. Das Ergebnis der Faktenchecks und investigativen Recherchen: Keine der Vorwürfe der israelischen Armee rund um das Al-Schifa-Krankenhaus ließ sich bestätigen.
Ein paar schlechte 3D-Animationen und sehr wahrscheinlich arrangierte Fotos von ein paar Schutzwesten und Kalashnikows hatten ausgereicht, damit Journalisten ein Krankenhaus sturmreif schreiben. Wahrscheinlich hunderte Menschen starben, als die israelische Armee das Krankenhaus ab dem 15. November stürmte. Augenzeugen berichteten, wie Soldaten Patienten und Pfleger exekutierten. Vom einst größten Krankenhaus des Gazastreifens ließ die israelische Armee nur Trümmer übrig.
Über die realen und gut dokumentierten Schrecken, der sich im Al-Schifa-Krankenhaus abspielte, das Massengrab, das ein Team der WHO am Eingang des Krankenhauses fand, las man in deutschen Medien kaum etwas.[13] Als die israelische Armee ihren realen Terror über die angebliche Terror-Klinik brachte, waren die meisten Medien schon zur nächsten „Hamas-Kommandozentrale“ weitergezogen.
Was Medien damals hinterlassen haben, war nicht nur ein zerstörtes Krankenhaus und ungezählte Tote. Mit ihrer Berichterstattung trugen sie auch zu dabei, den Raum des Möglichen zu verschieben. Galten Krankenhäuser in früheren Kriegen, sei es im Nahen Osten oder anderswo, selbstverständlich als absolut schützenswerte Objekte und jeder Angriff auf sie als Kriegsverbrechen, war es nun im öffentlichen Diskurs zunehmend möglich, anderer Meinung zu sein. Die Frage, von Angriffen auf Krankenhäuser wandelte sich von einem absoluten Tabu zu einem „Pro und Contra“, bis schließlich solche Angriffe so selbstverständlich wurden, dass nicht einmal mehr die Frage nach ihnen gestellt wird. „Eine konzertierte Politik zur Zerstörung des Gesundheitssystems im Gazastreifen“, bescheinigten die Vereinten Nationen Israel in einem ausführlichen Bericht am 10. Oktober 2024. Mediale Beachtung fand der Bericht – anders als unzählige Fake News über „Hamas-Kommandozentralen“ in Krankenhäusern – kaum.