Psychologische Beratung

Warum Suizid kein Tabu sein darf: Ein Psychiater klärt auf

In Deutschland sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle. Dr. Rüschoff spricht über die psychologischen und religiösen Ursachen von Suizidgedanken und warum offenes Reden entscheidend sein kann.

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11
2024
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Symbolbild: Suizid © shutterstock, bearbeitet by iQ.
Symbolbild: Suizid © shutterstock, bearbeitet by iQ.

Bevor Sie mit dem Lesen beginnen, möchte ich Ihnen auf Folgendes hinweisen: In diesem Interview wird das Thema Suizid und damit verbundene Herausforderungen behandelt. Bitte seien Sie vorsichtig, wenn Sie zu sensibel auf diese Themen reagieren. Es ist wichtig, auf sich selbst zu achten, und wir empfehlen, sich Unterstützung zu suchen, falls dies erforderlich ist.

IslamiQ: Wie kommen Menschen dazu, Suizid zu begehen? Welche psychologischen Faktoren spielen dabei eine wichtige Rolle? 

Dr. Ibrahim Rüschoff: Suizidalität, das heißt die Gefahr bzw. der Wunsch, sein Leben aktiv zu beenden, ist ein vielschichtiges Phänomen. Grundlegend ist ein Gefühl der Ausweglosigkeit in einer unerträglichen Situation und die Überzeugung, diese nicht anders lösen zu können. Das können schwere körperliche und seelischeErkrankungen oderunerträgliche Schmerzen ohne Aussicht auf Besserung sein. Auch Gefangenschaft, Folter oder auch das Gefühl, privaten, familiären Strukturen mit permanenter schwerer Gewalt oder sexuellem Missbrauch ohne Aussicht auf Änderung ausgeliefert zu sein, können weitere Gründe sein. 

Da Menschen unterschiedlich resilient sind, d. h. Belastungen unterschiedlich bewältigen können, gibt es keine eindeutige Grenze, ab der jemand suizidal wird. Ein weiterer psychologischer Faktor ist ein familiäres und soziales Umfeld, in dem die Betroffenen isoliert sind und auch in großer persönlicher Not keine Hilfe finden. Die Suche nach Hilfe ist beim Thema Suizidalität besonders schwierig, da sich nicht nur die Betroffenen für ihre Gefühle schämen und ihr Umfeld nicht belasten möchten. Zudem glauben Familie und Freunde fälschlicherweise, dass das Ansprechen das Risiko erhöht oder Menschen, die darüber sprechen, es letztlich doch nicht tun würden. Oft sind die Betroffenen allerdings erleichtert, wenn sie darüber sprechen können.

IslamiQ: Der Mythos, religiöse Menschen bleiben von psychischen Krankheiten verschont, ist leider oft noch präsent. Wie gehen Sie in Bezug auf das Thema Suizid mit muslimischen Patienten/Angehörigen um? 

Rüschoff: Da Selbstmord im Islam verboten und eine Sünde ist, vermeiden es die meisten Betroffenen, darüber zu sprechen, auch in der falschen Annahme, dass Suizidalität ein Ausdruck eines schwachen Glaubens ist. Dabei tritt z. B. bei schweren depressiven Erkrankungen dieses Thema nahezu regelmäßig auf, sei der Kranke Muslim, Christ oder Atheist, und es ist für Ärzte und Therapeuten ein schwerer Kunstfehler, diese Frage nicht abzuklären. Andererseits kann man fast regelmäßig erleben, dass im Rahmen der Therapie und dem Nachlassen der depressiven Symptome auch die Selbstmordgedanken aufhören. In der Psychotherapie, in der Medikamente praktisch keine Rolle spielen, geht es darum, mit den Patienten die Hintergründe ihrer Suizidgedanken zu ergründen und mit ihnen alternative Wege aus den Konflikten zu suchen. Dazu schließen Therapeuten mit Betroffenen häufig einen sog. Suizidpakt, also eine Abmachung, bis zum nächsten Termin keine suizidalen Handlungen zu begehen und sich notfalls sofort an den Therapeuten zu wenden oder andere abgesprochene Strategien (Notaufnahme, Notarzt etc.) zu ergreifen.

Der Umgang mit den Angehörigen ist oft schwieriger, da sich Therapeuten an die Schweigepflicht halten müssen, wennPatienten sie davon nicht befreien. Andererseits vermeiden sie oft das Thema oder geraten schon bei der Ansprache in Panik, auch weil sie keinerlei Erfahrung im Umgang damit haben. Wenn Patienten wegen eines Suizidversuchs in die psychiatrische Klinik eingewiesen werden, benötigen auch die Angehörigen eine verständnisvolle Zuwendung durch den Arzt und ausreichende Informationen. So können sie die Situation besser verstehen und für den Betroffenen hilfreich sein. 

Bei Muslimen ist natürlich auch der religiöse Hintergrund zu beachten. Leider beschränken sich viele Imame und Gelehrte auf eine Verurteilung solcher Handlungen, ohne sich zu bemühen, die Hintergründe zu verstehen und differenziert zu beurteilen. In meinen 40 Berufsjahren als Psychiater und Psychotherapeut habe ich aber noch keinen suizidalen Patienten erlebt, der in einer Art „freier Entscheidung“ von der Bühne des Lebens abtritt. Immer spielten dabei psychiatrische Erkrankungen oder schwere seelische Konflikte eine Rolle, die auch in der Geschlechts- und Altersverteilung deutlich werden.

Für Betroffene und Angehörige gibt es inzwischen jedoch eine Reihe professioneller Ratgeber, die auch für Muslime wertvolle Informationen zum Umgang mit dem Thema enthalten.

IslamiQ: Für gläubige Menschen kann manchmal der einzige Grund die Religion und die damit verbundene Strafe (Hölle etc.) sein, um keinen Suizid zu begehen. Wie gesund ist diese „Angst“ vor den religiösen Folgen?

Rüschoff: Der Islam will wie alle Religionen eine Hilfestellung sein, das Leben in gottgewollten Maßstäben zu führen. Es wäre schön, wenn Menschen ohne die Angst vor negativen Folgen gut und vernünftig handeln würden, aber so sind wir leider nicht. Das gilt nicht nur für das Abschreiben beim Nachbarn in der Schule oder beim Steuerbetrug, sondern auch für wichtige lebensbestimmende Themen wie die Suizidalität. Diese „Angst“ vor den religiösen Folgen ist letztlich sehr hilfreich, hält sie doch Betroffene praktisch am Leben und gibt ihnen damit die Chance, andere Auswege aus ihrer Notlage zu finden. Und ich gehe sicher nicht ganz fehl in der Annahme, dass das auch ihr Zweck ist.

IslamiQ: Bei vielen psychischen Erkrankungen werden bei Muslimen oft religiöse Ansätze zur Heilung verwendet – bedauerlicherweise oft nicht von Experten. Auch erklärt man häufig noch psychische Krankheiten mit einem schwachen Glauben. Welche Folgen bringt es für Betroffene mit sich? 

Rüschoff: In der Psychotherapie ist die Therapiebeziehung zwischen Therapeuten und Patienten der wichtigste Faktor für den Behandlungserfolg. Daher können auch religiöse Ansätze sinnvolle Interventionen sein, vorwiegend bei leichteren psychischen Erkrankungen oder seelischen Krisen. Allein die intensive Zuwendung und das Bemühen, die Betroffenenwirklich zu verstehen und sich ihrer Not anzunehmen, sind schon hilfreich. Bei schweren psychiatrischen Erkrankungen dagegen reichen diese Maßnahmen nicht, da braucht es solides Expertenwissen und klinische Erfahrung.

Nicht nur vermeintliche „Experten“, sondern auch die Patienten selbst erklären ihr schlechtes seelisches Befinden oft mit einem schwachen Glauben, insbesondere bei Depressionen. Sie spüren trotz großen Bemühens keine Liebe mehr für Allah, ihre Familie, sie haben im Gegensatz zu früher kaum noch Antrieb zum Gebet, sind lustlos, deprimiert und manchmal auch lebensüberdrüssig. Dabei ist der angeblich „schwache Glauben“, den sie beklagen, nicht Ursache der Depressionen, sondern deren Folge, da bei dieser Erkrankung emotionale Herabgestimmtheit, Lustlosigkeit, Antriebsstörungen, Zukunftsängste und manchmal auch Suizidgedanken Teile des Krankheitsbildes sind und nach der Gesundung wieder verschwinden. Problematisch ist es, wenn sich Patienten aufgrund ihrer Einstellung nicht in Therapie begeben, sondern vergeblich vermehrt Koran lesen, beten oder gar eine Umra unternehmen und sich damit unnötig quälen, wo eine Psychotherapie oder auch Medikamente angesagt wären.

IslamiQ: Mit welchen Ursachen von suizidalen Gedanken bei Ihren Patienten sind Sie am meisten konfrontiert? Was sind häufig die Gründe? 

Rüschoff: Als Oberarzt in der Psychiatrie hatte ich immer wieder mit dem Thema Suizidalität zu tun, was sicherlich mit den schwereren Verlaufsformen von Erkrankungen wie Depressionen und Schizophrenien zu tun hat, die ambulant nicht behandelt werden können. Als Psychotherapeut in eigener Praxis war ich dagegen eher selten mit diesem Problem konfrontiert, aber auch hier waren es eher Angsterkrankungen oder Depressionen. In Beratungsstellen für Geflüchtete und Folteropfer, wo sich viele Muslime finden, dürfte dieses Thema allerdings sehr viel häufiger eine Rolle spielen.

IslamiQ: In Deutschland sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle. Warum haben heutzutage immer mehr Menschen suizidale Gedanken?

Rüschoff: 2023 starben in Deutschland 2.839 Menschen im Verkehr, 10.304 nahmen sich das Leben. Die Zahl der Suizide ist jedoch mit ca. 9–10.000 im Jahr seit ca. 10 Jahren recht stabil und gottlob nur noch halb so hoch wie zu Beginn der 80er Jahre. Dazu haben verschiedene Maßnahmen wie eine verbesserte Aufklärung der Bevölkerung über die Hintergründe und eine höhere Sensibilität in der medialen Berichterstattung, aber auch kleinere Packungsgrößen mit geeigneten Medikamenten beigetragen.

Geschlechts- und Altersunterschiede sind jedoch bedeutsam: Männer begehen ca. dreimal häufiger, nach Scheidungen sogar vier- bis sechsmal häufiger Suizid als Frauen. Außerdem steigen die Zahlen ab dem 50.-70. Lebensjahr deutlich an und sind in der Altersgruppe der 85-Jährigen am höchsten. Hier wird die soziale Dimension des Problems deutlich, für die wir alle eine Mitverantwortung tragen, Muslime und Nichtmuslime.

IslamiQ: Oft sind die Leidtragenden die Angehörigen, die den Tod ihrer Liebsten verkraften müssen. Es ist kein natürlicher Tod, es war kein Unfall. Daher kann es unerklärlich für die Hinterbliebenen sein. Wie gehen Sie als Experte mit dieser „unerklärlichen“ und „unnatürlichen“ Situation um? 

Rüschoff: Ein Suizid findet wie alle Dinge im Leben nicht im luftleeren Raum statt, sondern in einem sozialen Umfeld, das nach dem Ereignis zurückbleibt. Die Familie und Freunde machen sich Vorwürfe, die Gefahr nicht bemerkt oder ausreichend ernst genommen zu haben oder in Konflikten ungerecht gewesen zu sein und damit den Suizid verschuldet zu haben. Da ist die Auffassung, dass letztlich der Glauben des Suizidanten nicht stark genug war, durchaus entlastend.Dennoch benötigen die Hinterbliebenen Anteilnahme und fachlichen Rat, vielleicht sogar in einer Lebensberatungsstelle. Ideal wäre es natürlich, wenn unsere Imame dazu ausgebildet und seelsorgerisch in der Lage wären.

IslamiQ: Eine vielleicht kritische und eventuell von vielen eine nicht so gern gehörte Frage: Kann die Religion auch ein Grund für suizidale Gedanken und Handlungen sein?

Rüschoff: Gründe für suizidale Gedanken und Handlungen gibt es so viele, wie es Betroffene gibt. Da die Religion von den einzelnen Gläubigen immer auf dem Boden ihrer persönlichen biografischen und Beziehungserfahrungen in einem sozialen Umfeld gelebt und von diesem auch zur Stabilisierung oft sehr ungerechter Verhältnisse eingesetzt wird, kann sie ein Grund sein. Hier trägt aber nicht die Religion die Verantwortung, sondern die Menschen, die sie entsprechend interpretieren und missbräuchlich einsetzen.

Das Interview führten Kübra Layık und Muhammed Suiçmez.