Akademiker widmen sich den wichtigen Fragen unserer Zeit. IslamiQ möchte zeigen, womit sich muslimische Akademiker aktuell beschäftigen. Heute mit Halil Emre Uçar über die Transformationsprozesse von Moscheegemeinden.
IslamiQ: Können Sie uns kurz etwas zu Ihrer Person und ihrem akademischen Werdegang sagen?
Halil Emre Uçar: Mein Name ist Halil Emre Uçar, ich bin 30 Jahre alt und Vater von zwei Kindern. Für mein Studium zog ich 2013 aus der Grafschaft Bentheim in Niedersachsen nach Bielefeld, wo ich nun seit über 11 Jahren lebe. An der Universität Bielefeld habe ich Sozialwissenschaften und Germanistik auf Lehramt für Gymnasien und Gesamtschulen studiert. In diesem Rahmen studierte ich ein Semester lang Germanistik in Istanbul an der gleichnamigen Istanbul Universität. Nach meinem Master of Education absolvierte ich das Referendariat für Gymnasien und Gesamtschulen am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Bielefeld.
Anschließend begann ich im Rahmen eines Stipendiums beim Avicenna Studienwerk meine Promotion in Soziologie an der Ruhr-Universität Bochum, die aktuell andauert. Die Dissertation entsteht im Rahmen des Graduiertenkollegs „Jüdische und muslimische Lebenswelten aus sozialwissenschaftlicher Perspektive“, wo ich von Prof. Dr. Karim Fereidooni und Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani betreut werde.
IslamiQ: Können Sie uns Ihre Dissertation kurz vorstellen?
Uçar: Der Arbeitstitel meiner Dissertation lautet „Transformationsprozesse von Moscheegemeinden anhand intragemeinschaftlicher Konfliktlinien“. Ich untersuche demnach, anhand welcher Spannungsfelder innerhalb von Moscheegemeinden sich etwaige Wandlungs- und Entwicklungsprozesse rekonstruieren lassen. Die Arbeit verliert sich nicht in kleinschrittigen oder sogar persönlichen Konflikten auf persönlicher Ebene (Mikroebene), sondern rekonstruiert dahinterstehende, kollektive und handlungsleitende Orientierungen, die Spannungen innerhalb von Gemeinden zugrunde liegen. An solchen kollektiv geteilten Erfahrungen und Wissensbeständen, die miteinander harmonieren oder konfligieren, lassen sich (potenzielle) Entwicklungsrichtungen nachzeichnen. Im Zusammenhang damit spielt eine Rolle, inwiefern sich die Art und Weise der Bearbeitung etwaiger Spannungsfelder ähnelt bzw. voneinander abweicht.
Hierfür vergleiche ich exemplarisch zwei Moscheegemeinden, die zum größten Teil voneinander abweichen. Somit kann ich analysieren, inwiefern es gemeindebezogene Schwerpunkte gibt, jedoch genau so gemeindeübergreifende Orientierungen. Dazu führe ich problemzentrierte Interviews mit verschiedenen Personengruppen aus Moscheegemeinden, wie bspw. die Vorstands-, Frauen- und Jugendvorsitzenden, Imame, Lehrkräfte usw. Durch ihr Erfahrungswissen möchte ich auf potenzielle Spannungsfelder und Konfliktlinien stoßen und diese soziologisch einordnen. Vor allem das nicht immer bewusste, in das Handeln eingravierte Wissen ist für mich von Bedeutung.
Der Soziologie Karl Mannheim verglich das mit dem Binden der Schnürsenkel: Wenn man sich die Schuhe bindet, weiß man intuitiv, welche Schritte zu absolvieren sind. Man könnte es auch erklären, wenn man danach gefragt wird, aber man denkt nicht bei jedem einzelnen Mal darüber bewusst nach, sondern bindet sich einfach die Schuhe.
IslamiQ: Warum haben Sie dieses Thema ausgewählt? Gibt es ein bestimmtes Schlüsselerlebnis?
Uçar: Ich würde nicht von einem einmaligen Erlebnis sprechen, vielmehr sind es die Ansammlungen und Prägungen mehrerer Erfahrungen, die in die Entwicklung meines Themas mündeten. Zum einen ist meine Biografie und Sozialisation als türkeistämmiger Muslim zu nennen, wodurch ich von Kindesalter an die Moschee besuchte. Dort machte ich Erfahrungen mit verschiedenen Personengruppen und konnte die Abläufe und Strukturen aus nächster Nähe erleben. Man hatte das Gefühl, dass viele aneinander vorbeireden und Bedürfnisse nicht transparent kommuniziert werden, sodass sich viele Dinge unterschwellig entwickelten.
Auf wissenschaftlicher Ebene wiederum ist das Thema stark unterbeleuchtet bzw. die Schwerpunkte sind deutlich anders. Oftmals war und ist der Diskurs geprägt von der Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört, inwiefern Muslime integrierbar sind und welchen Beitrag muslimische Organisationen dazu leisten können. Sowohl auf Mikro- als auch auf Makroebene gibt es zahlreiche Untersuchungen zu beispielsweise rechtlichen Fragen der Anerkennung muslimischer Gemeinden, Salafismus, Sicherheitsdiskursen und Moscheebau-Konflikten, Netzwerken von Migrantenorganisationen, Konstitution und Entwicklung von Dach- und Landesverbänden, sowie quantitative Erhebungen zur muslimischen Religiosität.
Was in den Gemeinden an der Basis passiert und welche Orientierungen dort das Leben anleiten, wird selten breit angegangen. Das Thema verkörpert die optimale Schnittstelle meiner Interessen von Soziologie und muslimischem Leben in Deutschland.
IslamiQ: Haben Sie positive/negative Erfahrungen während Ihrer Doktorarbeit gemacht? Was treibt Sie voran?
Uçar: Mein größter Antreiber ist meine Familie, insbesondere meine Ehefrau. Ohne ihre Unterstützung und Hingabe wäre es nicht möglich, dieses Projekt zu realisieren. In dieser Zeit habe ich immer wieder erleben dürfen, wie wichtig und segensreich es ist, eine unterstützende Familie zu haben. Weiterhin ist die Beziehung zu meinem Doktorvater eine unglaubliche Bereicherung, sowohl persönlich als auch fachlich. Seine Geduld, Anleitung, Verlässlichkeit und Professionalität sind die Grundpfeiler, die das Vorankommen der Dissertation tragen.
Weiterhin ist es eine sehr positive Erfahrung, vom Avicenna Studienwerk mit einem Stipendium unterstützt zu werden. Die Förderung deckt sehr viele Bedürfnisse ab und schafft erst den Freiraum, den ich für einen vollen Fokus brauche. Zudem habe ich einen Kreis aus Promovierenden derselben Fachrichtung und mit ähnlichem kulturellem Background, was mir in meiner fachlichen Arbeit ebenso neue Perspektiven aufzeigt.
Herausfordernd sind der Stress und Zeitdruck, mit dem man durchweg umgehen muss. Der Segen der freien Selbstgestaltung kann schnell zum Fluch werden, wenn man nicht die nötige Ausdauer und Beharrlichkeit an den Tag legt. Dies täglich aufs Neue zu schaffen ist ein Kraftakt. Zudem sind nicht alle Schritte genau planbar bzw. man muss sich eine gewisse Flexibilität offenhalten. Trotz der anstrengenden Seiten ist die Promotion jedoch durch die oben genannten Unterstützungsfaktoren eine sehr lehrreiche und einmalige Erfahrung im Leben, für die ich Gott unendlich dankbar bin.
IslamiQ: Inwieweit wird Ihre Doktorarbeit der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland nützlich sein?
Uçar: Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Dies gilt vor allem für Personen, die selbst in ihren Organisationen und Strukturen so alltäglich und selbstverständlich drin sind, dass kaum Zeit bleibt, diese systematisch zu reflektieren. Viele Akteur:innen sind sich der Konfliktlinien und Spannungsfelder bewusst, jedoch gibt es keine Arbeit, die versucht, dies zu systematisieren und rekonstruktiv zu bearbeiten. Diese Arbeit soll in diesem Sinne einen Mehrwert leisten. Es geht auch nicht normativ um die Frage von richtig oder falsch, sondern um das analytische Aufzeigen von Entwicklungen und Orientierungen, die in Moscheegemeinden Relevanz besitzen.
Auch wenn es nur ein Mosaikstein im großen Bilde ist, wird die Arbeit Moscheegemeinden nützen, ihre eigene Gemeindearbeit zu reflektieren und Bereiche zu fokussieren, die sie vorher nicht als relevant erachtet hätten. Die Arbeit nützt also allen, die ein Interesse daran haben, die Gemeindeentwicklung voranzutreiben. Darüber hinaus kann sie übergeordneten Verbänden dienlich sein, die nicht immer vertieften und regelmäßigen Einblick in die Gemeinden haben, sondern eher auf der Makroebene arbeiten. Für sie kann es wichtige Anhaltspunkte geben, entsprechende Strukturen und Prozesse neu zu denken und andere Perspektiven einzunehmen.
Nicht zuletzt kann sie für politische Akteur:innen nützlich sein, für die das Gemeindeleben ansonsten wie eine Black Box erscheint, oder die Gemeinden als homogen und gleichgeschaltet denken. Die Arbeit zeigt eine große Pluralität und Diversität von Orientierungen in Moscheegemeinden auf, selbst in ein und derselben Gemeinde. Allein diese Einsicht ist in einem Land, in dem antimuslimischer Rassismus und stereotype Pauschalisierungen sehr verbreitet sind, eine Bereicherung.
Das Interview führte Kübra Zorlu.