Cancel Culture

Wenn Mitgefühl zur Straftat wird – die schwierige Solidarität mit Palästina

Die Solidarität mit Gaza und die Kritik am Völkermord wird in vielen Ländern zunehmend sanktioniert. Eine Analyse der Dynamik hinter der ‚Cancel Culture‘ zeigt, wie Meinungsfreiheit eingeschränkt wird.

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2024
Solidarität mit Palästina © shutterstock, bearbeitet by iQ
Solidarität mit Palästina © shutterstock, bearbeitet by iQ

Solidarität mit den zehntausenden unschuldigen Zivilisten, die in Gaza getötet wurden, wird in vielen Ländern immer schwieriger. Es lohnt sich, die „Cancel Culture“ zu analysieren, mit denen Menschen konfrontiert werden, die Solidarität mit Palästina zeigen oder zumindest die Massaker in Gaza kritisieren.

Während des Bosniengenozids war ich 11 oder 12 Jahre alt. Ich erinnere mich vage daran, wie meine Eltern die schrecklichen Ereignisse im Genozid auf den Titelseiten der Zeitungen mit Entsetzen verfolgten. Jahre später, als ich als Erwachsener zum ersten Mal Bilder von den Gräueltaten und Vertreibungen sah, fragte ich mich: „Wie konnte das alles vor laufenden Kameras passieren? Wie konnte die Welt tatenlos zusehen, während unschuldige Menschen abgeschlachtet wurden? Warum hat die UN-Friedenstruppe diese Menschen ihren Mördern überlassen?“ Und ich war überzeugt: „So etwas könnte heute nicht mehr geschehen.“ Was für ein Irrtum!

Heute, in einer Welt, in der wir technologisch weit fortgeschritten sind und 24/7 Zugang zu Informationen über unsere Mobiltelefone haben, erleben wir Tag für Tag ein wachsendes menschliches Drama und Grauen. Doch trotz all dieser Möglichkeiten, Zeugnis abzulegen, wird es in vielen Teilen der Welt problematisch, das Massaker an Zivilisten im Gazastreifen anzusprechen. Jede Solidaritätsbekundung wird schnell mit Antisemitismus oder der Ablehnung des Existenzrechts Israels gleichgesetzt.

Deutschlands wunde Stelle: Kritik an Israel

Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags und Mitglied der SPD, Aydan Özoğuz, geriet wegen eines Social-Media-Beitrags, in dem sie die Massaker Israels im Gazastreifen kritisierte, ins Visier einer politischen Hetzkampagne. Özoğuz wurde des Antisemitismus beschuldigt, musste ihren Beitrag auf Druck ihrer Partei löschen und sich entschuldigen. Danach sah sie sich Forderungen nach ihrem Rücktritt vonseiten der CDU, AfD, FDP sowie von jüdischen Organisationen und den Mainstream-Medien ausgesetzt.

Was hatte Özoğuz gepostet? Israelische Luftangriffe auf Zelte von vertriebenen Palästinensern im Hof des Al-Schifa-Krankenhauses in Deir al-Balah hatten zahlreiche Zivilisten lebendig verbrennen lassen. Ein Video zeigte den 19-jährigen Schaban al-Dalu, der mit einem Infusionsschlauch am Arm in Flammen stand und um Hilfe rief. Bei dem Angriff kamen auch al-Dalus Mutter und drei weitere Personen ums Leben, über 70 Palästinenser wurden verletzt. Eine jüdische Friedensgruppe namens „Jewish Voice for Peace“ hatte ein Bild der brennenden Zelte auf Instagram mit dem Titel „Das ist Zionismus!“ geteilt und dabei Israels Militär und US-Unterstützung kritisiert.

Özoğuz teilte diesen Post in ihrer Instagram-Story, was im deutschen Kontext, in dem Kritik an Israel oft mit Antisemitismus gleichgesetzt wird, heftige Vorwürfe gegen sie auslöste. Dies ist kein Einzelfall: Menschen, die gegen den Krieg in Gaza protestieren, Solidarität mit Palästinensern zeigen oder Israels Politik kritisieren – selbst wenn sie Juden sind – werden des Antisemitismus bezichtigt. Dies untergräbt die Bedeutung des Begriffs „Antisemitismus“ und schadet dem Kampf gegen echten Judenhass.

Der Fall Özoğuz zeigt, wie prekär die Lage für Politiker in Deutschland ist, wenn es um Israel geht. In einer demokratischen politischen Kultur, in der jede Form von Extremismus kritisiert werden kann, werden Kritiken an Israels rechter Regierung, deren Spitzenpolitiker vom Internationalen Strafgerichtshof mit Haftbefehlen belegt wurden, als antisemitisch gebrandmarkt. In einem solchen Klima kann selbst Solidarität mit getöteten palästinensischen Zivilisten als Unterstützung für Terrorismus interpretiert werden, und öffentliche Trauer um Palästinenser wird kriminalisiert.

Persona non grata: Greta Thunberg

Die schwedische Umweltaktivistin Greta Thunberg, die 2019 von Time zur Person des Jahres gewählt wurde, wird aufgrund ihrer Solidarität mit Gaza in deutschen Medien als „Terrorunterstützerin“ bezeichnet. Thunberg hatte am 20. Oktober 2023 ein Foto geteilt, auf dem sie und drei andere Aktivisten mit propalästinensischen Plakaten zu sehen waren. Sie schrieb: „Heute streiken wir in Solidarität mit Palästina und Gaza. Die Welt muss aufstehen und sofort einen Waffenstillstand fordern sowie Gerechtigkeit und Freiheit für alle Zivilisten, die von Angriffen betroffen sind.“

Diese Solidaritätsbekundung brachte Thunberg massive Kritik ein. Der israelische Bildungsminister kündigte an, sie aus den Lehrplänen zu streichen, und deutsche Politiker forderten ein Einreiseverbot. Trotzdem betont Thunberg, dass „Klimagerechtigkeit ohne Menschenrechte nicht möglich ist“. In einem Meinungsartikel erklärte sie: „Der Genozid in Gaza kann weder als Selbstverteidigung gerechtfertigt noch als verhältnismäßige Reaktion bezeichnet werden.“

Macklemore und „Hind’s Hall“

Der amerikanische Rapper Macklemore wurde ebenfalls wegen seiner Solidarität mit Palästina ins Visier genommen. Er wurde aus einem Musikfestival in Las Vegas ausgeladen, nachdem er bei einer Veranstaltung ein Lied zugunsten palästinensischer Flüchtlinge aufgeführt hatte.
Das Lied „Hind’s Hall“ erinnert an die sechsjährige Hind Rajab, die bei einem israelischen Angriff in einem Auto starb. Macklemore kritisiert in seinem Lied auch die Zensur palästinensischer Stimmen auf sozialen Medien. Obwohl das Video seines Songs Millionen Aufrufe auf Plattformen wie Instagram erhielt, wurde es auf YouTube eingeschränkt.

In einer Instagram-Erklärung schrieb Macklemore, dass er Sponsoren und Auftritte verloren habe, sich jedoch nicht einschüchtern lasse: „Ich werde meine Unterstützung für ein freies Palästina nicht aufgeben. Meine Absicht ist immer dieselbe: Frieden, Liebe, Gleichheit und Freiheit. Das ist keine radikale, sondern eine menschliche Haltung.“

Leserkommentare

Minimalist sagt:
Wenn hier die Einschränkung von Meinungsfreiheit thematisiert und angeprangert wird, dann gehört unbedingt auch das rigorose Einschränkungs-Regiment in islamisch beherrschten Ländern durch die Spitzen der dortigen Polit-Geistlichkeit mit dazu. Oder etwa nicht? Von vielen Islam-Anhängern werden solche Fehlentwicklungen und gravierenden Mißstände liebend gerne ausgeklammert und verheimlicht. Kein Wunder, daß es daraufhin zur harschen Kritik am muslimischen Staatsmanagement kommt. Denn auf diese Weise schafft sich der Islam keine Freunde, sondern nur vehemente Kritiker, Gegner und Feinde. Und das über Generationen hinweg.
15.12.24
13:09
Abdu sagt:
Um die Argumentation von „Minimalist“ wissenschaftlich zu widerlegen, ist es wichtig, den breiten Kontext zu verstehen, sowohl was die Meinungsfreiheit in islamischen Ländern betrifft, als auch die Vielfalt des Islams und seiner geopolitischen Realität. Auch die pauschale Behauptung, dass der Islam weltweit die Meinungsfreiheit einschränkt, muss differenziert betrachtet werden, unter Einbeziehung von sowohl positiven als auch negativen Aspekten, sowie einer differenzierten Sicht auf politische Systeme im Allgemeinen. 1. Islamische Länder und Meinungsfreiheit: Die pauschale Behauptung, dass „islamisch beherrschte Länder“ als Ganzes eine „rigorose Einschränkung der Meinungsfreiheit“ durch ihre religiösen Führer ausüben, vernachlässigt sowohl die Vielfalt innerhalb des Islams als auch die unterschiedlichen politischen Systeme in muslimisch geprägten Ländern. Während einige Länder mit autoritären Regimen wie Saudi-Arabien, Iran oder Pakistan bekannt sind, wo die Meinungsfreiheit eingeschränkt ist, zeigt eine detaillierte Betrachtung, dass viele muslimische Länder unterschiedliche Ansätze zur Meinungsfreiheit und zur Rolle der Religion in der Politik haben. Beispiel 1: Indonesien: Indonesien, mit der größten muslimischen Bevölkerung der Welt, ist ein Beispiel für ein Land, in dem die Meinungsfreiheit weitgehend respektiert wird. Das Land hat eine demokratische Verfassung, in der die Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit garantiert sind, obwohl es auch politische Spannungen gibt. Indonesien zeigt, dass die Einschränkung der Meinungsfreiheit nicht zwangsläufig mit der islamischen Identität des Landes zusammenhängt. Beispiel 2: Tunesien: Auch Tunesien, das nach dem Arabischen Frühling eine demokratische Entwicklung durchlief, hat durch die Verfassung von 2014 die Meinungsfreiheit und die Religionsfreiheit gesichert. Es gibt religiöse Spannungen, aber der politische und gesellschaftliche Wandel zeigt, dass der Islam nicht notwendigerweise eine Einschränkung der Meinungsfreiheit impliziert, selbst in Ländern mit einer überwiegend muslimischen Bevölkerung. Beispiel 3: Türkei: In der Türkei, obwohl der politische Islam in den letzten Jahren an Einfluss gewonnen hat, gibt es immer noch einen bedeutenden öffentlichen Raum für Meinungsfreiheit, insbesondere in großen Städten wie Istanbul. Auch hier sind religiöse und politische Spannungen sichtbar, aber es ist ein differenziertes Bild von Meinungsfreiheit zu finden. 2. Politische Systeme und nicht nur religiöse Faktoren: Die Einschränkung der Meinungsfreiheit in vielen islamischen Ländern ist in erster Linie ein Problem der politischen Systeme und Regierungsführung und nicht direkt eine Funktion des Islams oder seiner geistlichen Führung. Die Regierungssysteme in autoritären Staaten wie Saudi-Arabien oder Iran sind oft von politischen Interessen, machtpolitischen Strukturen und geostrategischen Zielen geprägt und nicht ausschließlich durch die Religion. Das Problem der Einschränkung von Meinungsfreiheit existiert in vielen autoritären Regimen weltweit, unabhängig von der religiösen Ausrichtung der Länder. Es ist daher eine Fehlinterpretation, die Einschränkung der Meinungsfreiheit ausschließlich dem Islam oder den religiösen Führern zuzuschreiben. Vielmehr sind es politische Machtstrukturen, die diese Einschränkungen durchsetzen. Dies gilt auch für viele westliche Länder, in denen Einschränkungen der Meinungsfreiheit unter dem Vorwand der nationalen Sicherheit oder der Bekämpfung des Terrorismus begründet werden. 3. Der Unterschied zwischen Islam und islamischer Politik: Es ist wichtig zu unterscheiden zwischen dem Islam als Religion und der Politik in islamischen Ländern. Der Islam als Glaube bietet einen Rahmen für das spirituelle Leben, während die politische Realität in vielen islamischen Ländern komplex und vielfach von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umständen beeinflusst wird. Die religiöse Lehre des Islams, wie sie in den heiligen Schriften dargestellt wird, fordert im Allgemeinen Toleranz, Dialog und den respektvollen Umgang mit Andersdenkenden. In Sure 2:256 heißt es: „Es gibt keinen Zwang im Glauben“, was die Grundlage für die Meinungsfreiheit im religiösen Kontext legt. In Sure 5:32 wird das Leben eines Einzelnen als wertvoll angesehen, und der Koran sagt: „Wer einen Menschen tötet, ohne dass dieser einen Mord begangen hat, ist, als ob er die ganze Menschheit getötet hätte“, was auf die Wertschätzung des Lebens und die Ablehnung von Gewalt hinweist. Diese Prinzipien stehen im Gegensatz zu den Praktiken von autoritären Regimen, die sich möglicherweise „Islamisch“ nennen, aber deren Praktiken stark von politischen Zielen beeinflusst sind. Das bedeutet, dass die Praxis von politischer Gewalt und die Einschränkung von Freiheiten eher eine Konsequenz der Politik sind, nicht der religiösen Lehren des Islams. 4. Falsch verstandene "Islamische Staatsführung" als Ursache für Kritik: Die pauschale Behauptung von „Minimalist“, dass der Islam sich keine „Freunde, sondern nur vehemente Kritiker, Gegner und Feinde“ schafft, ist problematisch. Der Islam als Religion hat weltweit Milliarden von Anhängern, die sehr unterschiedliche Auffassungen und Ansätze zur Politik und Gesellschaft haben. Die harte Kritik an bestimmten politischen Systemen in islamischen Ländern sollte nicht auf die gesamte Religion übertragen werden. Viele Muslime in westlichen und nicht-westlichen Ländern kritisieren genauso vehement die Einschränkungen der Meinungsfreiheit und Menschenrechte in bestimmten Ländern, ohne die gesamte Religion oder den Glauben zu verurteilen. Vielmehr gibt es reformistische Bewegungen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft, die den Dialog über politische Reformen und die Förderung der Menschenrechte anstreben. 5. Wissenschaftliche Perspektive zur Meinungsfreiheit in verschiedenen Kontexten: Die Wissenschaft über politische Systeme und Menschenrechte zeigt, dass Einschränkungen der Meinungsfreiheit nicht allein auf religiöse oder kulturelle Unterschiede zurückzuführen sind, sondern oft mit autoritären Regierungen und politischen Interessen verknüpft sind. Laut dem Human Freedom Index der Fraser Institute und der Freiheitshaus-Studie (Freedom House) gibt es weltweit viele Staaten, die Einschränkungen der Meinungsfreiheit und anderer bürgerlicher Freiheiten aufweisen, unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit. Islamische Länder wie Katar, Malaysia und Indonesien haben einen besseren Stand hinsichtlich der politischen Freiheit im Vergleich zu autoritären Staaten, die sich nicht auf den Islam stützen. Fazit: Die pauschale Kritik von „Minimalist“ an islamischen Ländern und dem Islam als Ursache für die Einschränkung von Meinungsfreiheit ignoriert sowohl die politische Komplexität als auch die historische und soziale Diversität innerhalb der islamischen Welt. Eine differenzierte wissenschaftliche Perspektive zeigt, dass die Einschränkung der Meinungsfreiheit weitgehend durch politische Systeme, nicht durch religiöse Überzeugungen, bestimmt wird. Die pauschale Verdammung des Islams als verantwortlich für diese Missstände ist nicht nur wissenschaftlich ungenau, sondern blendet die Tatsache aus, dass viele Muslime in einer Vielzahl von Ländern für mehr Demokratie, Menschenrechte und Meinungsfreiheit eintreten.
16.12.24
17:54