Die Solidarität mit Gaza und die Kritik am Völkermord wird in vielen Ländern zunehmend sanktioniert. Eine Analyse der Dynamik hinter der ‚Cancel Culture‘ zeigt, wie Meinungsfreiheit eingeschränkt wird.
Solidarität mit den zehntausenden unschuldigen Zivilisten, die in Gaza getötet wurden, wird in vielen Ländern immer schwieriger. Es lohnt sich, die „Cancel Culture“ zu analysieren, mit denen Menschen konfrontiert werden, die Solidarität mit Palästina zeigen oder zumindest die Massaker in Gaza kritisieren.
Während des Bosniengenozids war ich 11 oder 12 Jahre alt. Ich erinnere mich vage daran, wie meine Eltern die schrecklichen Ereignisse im Genozid auf den Titelseiten der Zeitungen mit Entsetzen verfolgten. Jahre später, als ich als Erwachsener zum ersten Mal Bilder von den Gräueltaten und Vertreibungen sah, fragte ich mich: „Wie konnte das alles vor laufenden Kameras passieren? Wie konnte die Welt tatenlos zusehen, während unschuldige Menschen abgeschlachtet wurden? Warum hat die UN-Friedenstruppe diese Menschen ihren Mördern überlassen?“ Und ich war überzeugt: „So etwas könnte heute nicht mehr geschehen.“ Was für ein Irrtum!
Heute, in einer Welt, in der wir technologisch weit fortgeschritten sind und 24/7 Zugang zu Informationen über unsere Mobiltelefone haben, erleben wir Tag für Tag ein wachsendes menschliches Drama und Grauen. Doch trotz all dieser Möglichkeiten, Zeugnis abzulegen, wird es in vielen Teilen der Welt problematisch, das Massaker an Zivilisten im Gazastreifen anzusprechen. Jede Solidaritätsbekundung wird schnell mit Antisemitismus oder der Ablehnung des Existenzrechts Israels gleichgesetzt.
Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags und Mitglied der SPD, Aydan Özoğuz, geriet wegen eines Social-Media-Beitrags, in dem sie die Massaker Israels im Gazastreifen kritisierte, ins Visier einer politischen Hetzkampagne. Özoğuz wurde des Antisemitismus beschuldigt, musste ihren Beitrag auf Druck ihrer Partei löschen und sich entschuldigen. Danach sah sie sich Forderungen nach ihrem Rücktritt vonseiten der CDU, AfD, FDP sowie von jüdischen Organisationen und den Mainstream-Medien ausgesetzt.
Was hatte Özoğuz gepostet? Israelische Luftangriffe auf Zelte von vertriebenen Palästinensern im Hof des Al-Schifa-Krankenhauses in Deir al-Balah hatten zahlreiche Zivilisten lebendig verbrennen lassen. Ein Video zeigte den 19-jährigen Schaban al-Dalu, der mit einem Infusionsschlauch am Arm in Flammen stand und um Hilfe rief. Bei dem Angriff kamen auch al-Dalus Mutter und drei weitere Personen ums Leben, über 70 Palästinenser wurden verletzt. Eine jüdische Friedensgruppe namens „Jewish Voice for Peace“ hatte ein Bild der brennenden Zelte auf Instagram mit dem Titel „Das ist Zionismus!“ geteilt und dabei Israels Militär und US-Unterstützung kritisiert.
Özoğuz teilte diesen Post in ihrer Instagram-Story, was im deutschen Kontext, in dem Kritik an Israel oft mit Antisemitismus gleichgesetzt wird, heftige Vorwürfe gegen sie auslöste. Dies ist kein Einzelfall: Menschen, die gegen den Krieg in Gaza protestieren, Solidarität mit Palästinensern zeigen oder Israels Politik kritisieren – selbst wenn sie Juden sind – werden des Antisemitismus bezichtigt. Dies untergräbt die Bedeutung des Begriffs „Antisemitismus“ und schadet dem Kampf gegen echten Judenhass.
Der Fall Özoğuz zeigt, wie prekär die Lage für Politiker in Deutschland ist, wenn es um Israel geht. In einer demokratischen politischen Kultur, in der jede Form von Extremismus kritisiert werden kann, werden Kritiken an Israels rechter Regierung, deren Spitzenpolitiker vom Internationalen Strafgerichtshof mit Haftbefehlen belegt wurden, als antisemitisch gebrandmarkt. In einem solchen Klima kann selbst Solidarität mit getöteten palästinensischen Zivilisten als Unterstützung für Terrorismus interpretiert werden, und öffentliche Trauer um Palästinenser wird kriminalisiert.
Die schwedische Umweltaktivistin Greta Thunberg, die 2019 von Time zur Person des Jahres gewählt wurde, wird aufgrund ihrer Solidarität mit Gaza in deutschen Medien als „Terrorunterstützerin“ bezeichnet. Thunberg hatte am 20. Oktober 2023 ein Foto geteilt, auf dem sie und drei andere Aktivisten mit propalästinensischen Plakaten zu sehen waren. Sie schrieb: „Heute streiken wir in Solidarität mit Palästina und Gaza. Die Welt muss aufstehen und sofort einen Waffenstillstand fordern sowie Gerechtigkeit und Freiheit für alle Zivilisten, die von Angriffen betroffen sind.“
Diese Solidaritätsbekundung brachte Thunberg massive Kritik ein. Der israelische Bildungsminister kündigte an, sie aus den Lehrplänen zu streichen, und deutsche Politiker forderten ein Einreiseverbot. Trotzdem betont Thunberg, dass „Klimagerechtigkeit ohne Menschenrechte nicht möglich ist“. In einem Meinungsartikel erklärte sie: „Der Genozid in Gaza kann weder als Selbstverteidigung gerechtfertigt noch als verhältnismäßige Reaktion bezeichnet werden.“
Der amerikanische Rapper Macklemore wurde ebenfalls wegen seiner Solidarität mit Palästina ins Visier genommen. Er wurde aus einem Musikfestival in Las Vegas ausgeladen, nachdem er bei einer Veranstaltung ein Lied zugunsten palästinensischer Flüchtlinge aufgeführt hatte.
Das Lied „Hind’s Hall“ erinnert an die sechsjährige Hind Rajab, die bei einem israelischen Angriff in einem Auto starb. Macklemore kritisiert in seinem Lied auch die Zensur palästinensischer Stimmen auf sozialen Medien. Obwohl das Video seines Songs Millionen Aufrufe auf Plattformen wie Instagram erhielt, wurde es auf YouTube eingeschränkt.
In einer Instagram-Erklärung schrieb Macklemore, dass er Sponsoren und Auftritte verloren habe, sich jedoch nicht einschüchtern lasse: „Ich werde meine Unterstützung für ein freies Palästina nicht aufgeben. Meine Absicht ist immer dieselbe: Frieden, Liebe, Gleichheit und Freiheit. Das ist keine radikale, sondern eine menschliche Haltung.“