Unsicherheit, Migration und Vielfalt prägen das Klima vor der Bundestagswahl. Im IslamiQ-Interview sprechen wir mit Prof. Dr. Achim Goerres über das Wählerverhalten von Minderheiten und die Chancen einer superdiversen Gesellschaft.
IslamiQ: Die bevorstehende Bundestagswahl, die finden ja im Hintergrund einiger globaler Konflikte und eines erstarkenden Rechtsrucks statt. Welche Herausforderungen und Chancen ergeben sich aus dieser politischen Gemengelage?
Achim Goerres: Der Ukrainekrieg und der Konflikt in Israel und Palästina haben bei vielen Wählerinnen und Wählern ein starkes Gefühl der Unsicherheit ausgelöst. Diese emotionale Belastung wird voraussichtlich Einfluss auf die Wahlentscheidungen haben. Parteien werden versuchen, diese Ängste gezielt anzusprechen und Angebote zu machen, die Sicherheit und Stabilität suggerieren. Neben diesen Emotionen wird die wirtschaftliche Lage eine zentrale Rolle spielen. Die Wirtschaft in Deutschland steht derzeit nicht optimal da, und das könnte insbesondere der regierenden SPD schaden. Historisch gesehen wirkt sich wirtschaftliche Unsicherheit oft negativ auf die Amtsinhaber aus.
IslamiQ: Wie beeinflussen aktuelle politische Debatten – etwa über Migration, Islam oder den Nahostkonflikt – die Wahlbeteiligung sowie das Vertrauen von Minderheiten in die demokratischen Institutionen?
Goerres: Zunächst einmal ist es wichtig zu betonen, dass Wählerinnen und Wähler mit familiären Migrationsgeschichten in Deutschland in vielen Aspekten nicht grundlegend anders agieren als jene ohne internationale Wurzeln. Allerdings ist die Gruppe der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund äußerst heterogen. Zwei der größten Gruppen – die türkeistämmigen Wählerinnen und Wähler sowie die Russlanddeutschen – machen zusammen nicht einmal die Hälfte dieser Wählerschaft aus.
Ein bemerkenswertes Muster zeigt, dass Menschen mit internationalen Wurzeln, die vollständig integriert sind, in ihrem politischen Verhalten denjenigen ohne Migrationsgeschichte ähneln. Das führt dazu, dass auch rechte Parteien wie die AfD von ihnen gewählt werden, insbesondere wenn diese eine restriktivere Einwanderungspolitik vertreten. Das mag zunächst paradox erscheinen, zeigt aber, wie stark Integration auch politische Haltungen beeinflusst.
Die Bundestagswahl 2025 wird stark durch migrationspolitische Debatten geprägt. Parteien wie die CDU haben konservative Angebote gemacht, die migrationskritische Wählerinnen und Wähler ansprechen. Gleichzeitig versucht die AfD, durch emotional aufgeladene Sprache und zugespitzte Formulierungen, sich von anderen Parteien abzuheben. Dies zeigt, wie migrationskritische Rhetorik mittlerweile in fast allen großen Parteien präsent ist.
IslamiQ: Eine inklusive Demokratie erfordert gezielte Strategien. Welche Maßnahmen sollten prioritär umgesetzt werden, um das politische Interesse und die Wahlbeteiligung von Minderheiten langfristig zu erhöhen?
Goerres: Wahlberechtigte mit Migrationsgeschichte, wie die türkeistämmige oder die russlanddeutsche Community, zeigen im Schnitt eine etwas geringere Wahlbeteiligung als der Rest der Bevölkerung. Allerdings erklärt sich ein Großteil dieser Unterschiede durch sogenannte „Kompositionseffekte“ – etwa jüngeres Durchschnittsalter oder niedrigere Bildungsabschlüsse. Bildung ist hier der zentrale Hebel: Politische Bildung, insbesondere in Schulen und Berufsschulen, spielt eine entscheidende Rolle, um Familien mit weniger Politiknähe zu erreichen.
Ein weiterer Punkt betrifft die Meldepflicht. Menschen mit internationalen Wurzeln sind im Schnitt etwas jünger und ziehen deswegen tendenziell häufiger um, was dazu führen kann, dass sie nicht ordnungsgemäß registriert sind und keine Wahlbenachrichtigung erhalten. Hier wäre es wichtig, stärker über die Möglichkeit aufzuklären, das Wählerverzeichnis rechtzeitig zu überprüfen und sich im Zweifelsfall bei der Behörde zu melden.
Kurzfristig helfen auch soziale Mechanismen: Wer öffentlich ankündigt, zur Wahl zu gehen, mobilisiert oft sein Umfeld, ebenfalls wählen zu gehen. Dieser soziale Druck kann eine wichtige Rolle spielen, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen.
In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich mit den Fragen der politischen Partizipation. Welche strukturellen und sozialen Faktoren sind Ihrer Meinung nach entscheidend, um die politische Inklusion von Minderheiten in Deutschland zu fördern?
Goerres: Es gibt zwei Arten der politischen Beteiligung: die institutionalisierte, wie Wahlen und Parteimitgliedschaften, und die nicht-institutionalisierte, wie Demonstrationen oder Petitionen. Bei der deskriptiven Repräsentation – also dem Anteil von Abgeordneten mit internationalen Wurzeln – ist Deutschland gar nicht schlecht aufgestellt. Menschen mit türkeistämmigen Wurzeln sind im Bundestag sogar überrepräsentiert, jedoch fast ausschließlich bei SPD, Grünen und Linken. Parteien wie die FDP sind dagegen nahezu homogen durch Abgeordnete ohne internationale Wurzeln geprägt.
Es stellt sich die Frage, ob jede Gruppe separat repräsentiert werden muss. Viele Politikerinnen und Politiker mit Migrationsgeschichte sehen ihren Hintergrund nicht als zentrales Element ihrer Arbeit. Einige distanzieren sich sogar bewusst davon, um nicht nur als Vertreter einer bestimmten Community wahrgenommen zu werden. Entscheidend bleibt, dass das politische System für alle zugänglich ist und allen die gleichen Chancen bietet, sich zu beteiligen.
Welche Unterschiede und Muster beobachten Sie in der Wahlbeteiligung von Migrantinnen, insbesondere von Musliminnen im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen?
Goerres: Es gibt keinen signifikanten „Muslimen-Effekt“ bei der Wahlbeteiligung. Entscheidend sind vielmehr Faktoren wie Bildung, Sprachkenntnisse oder Staatsangehörigkeit. Ob sich jemand dem Islam zugehörig fühlt, spielt hingegen kaum eine Rolle.
Vergleichsstudien in Europa zeigen sogar, dass regelmäßiger Moscheebesuch mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zur Wahl zu gehen einhergeht. Dieses Muster ist in allen Religionsgruppen ähnlich: Je religiöser eine Person ist, desto stärker hält sie sich an soziale Normen – und die Teilnahme an Wahlen ist eine solche Norm.
Menschen mit starker Religiosität sind in ihrer politischen Ideologie oft etwas konservativer als nicht-religiöse Personen, aber das beeinflusst eher die Wahlentscheidung als die Wahlbeteiligung. Außerdem ist die muslimische Community in Deutschland extrem heterogen. Die Unterschiede beispielsweise zwischen Musliminnen albanischer und syrischer Herkunft zeigen, dass die Kategorie „Muslim“ keine präzise Trennlinie darstellt. Insgesamt lässt sich sagen: Wenn wir Faktoren wie Bildung und Sprache berücksichtigen, ist die Zugehörigkeit zum Islam für die Wahlbeteiligung kaum relevant.
IslamiQ: Inwiefern können Moscheen zur politischen Teilhabe ihrer Gemeindemitglieder beitragen?
Goerres: Soziale Organisationen – dazu gehören auch Moscheen – können Menschen vor allem durch Information mobilisieren. Es geht darum, grundlegende Fragen zu klären: Wann ist die Wahl? Wie funktioniert Briefwahl? Was steht in der Wahlbenachrichtigung? Die Kommunen organisieren Wahlen in Deutschland, aber ihre Kommunikation ist oft sachlich und formal – ähnlich wie ein Gebührenbescheid. Gerade für Erstwählerinnen und Erstwähler, beispielsweise aus der türkeistämmigen Community, kann dies abschreckend wirken. Hier können Moscheen helfen, indem sie etwa Wahlbenachrichtigungen erklären oder Informationsveranstaltungen anbieten.
Solche Maßnahmen sind nicht nur wertvolle Unterstützung, sondern auch ein wichtiger Beitrag zur Demokratie. Besonders in diesem Jahr haben wir viele Jungwählerinnen und Jungwähler aus migrantischen Communities. Für sie können solche Angebote den Zugang zur Wahl erleichtern.
Welche zentralen Forschungsfragen zur politischen Partizipation von Minderheiten erachten Sie derzeit als besonders relevant?
Goerres: Die aktuelle Wahl ist in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich. Einerseits erleben wir eine Zeit starker internationaler Konflikte, die gefühlt nah sind und Bedrohungen auslösen. Ob und wie das die Wahl beeinflusst, bleibt spannend. Andererseits stehen wirtschaftliche Themen wahrscheinlich wieder im Fokus der Wählerinnen und Wähler.
Hinzu kommt eine Besonderheit der Spitzenkandidaten: Der Amtsinhaber Scholz hat extrem schlechte persönliche Bewertungen, ebenso wie sein Herausforderer Merz, der nur minimal besser abschneidet. Das ist in einer parlamentarischen Demokratie, wo Spitzenkandidaten oft eine zentrale Rolle spielen, ungewöhnlich. Es könnte dazu führen, dass sich manche Wählergruppen von den großen Parteien abwenden oder gar nicht zur Wahl gehen.
Eine letzte Frage: Welche Rolle könnten Migranten bzw. Muslime in der zukünftigen politischen Landschaft übernehmen?
Goerres: Menschen mit internationalen Wurzeln sind die am stärksten wachsende Wählergruppe in Deutschland. 2021 hatten bereits 13 % der Wahlberechtigten internationale Wurzeln, und dieser Anteil wird weiter steigen – ebenso wie der Anteil muslimischer Wählerinnen und Wähler.
Dabei wird die gesellschaftliche Vielfalt immer größer. Migrationshintergrund und Religionszugehörigkeit entwickeln sich zu unabhängigen Faktoren. Wir sehen bereits, dass die dritte Generation türkeistämmiger Deutscher oft kaum noch Türkisch spricht, auch wenn Namen weiterhin traditionelle Wurzeln erkennen lassen.
Langfristig wird es immer normaler, dass religiöse Hintergründe keine Rolle mehr in der politischen Aktivität spielen. Entscheidend ist, dass wir eine superdiverse Gesellschaft sind, in der Vielfalt zur Norm wird. Diese Entwicklung erfordert neue Diskurse – weg von pauschalen Zuschreibungen, hin zu einem differenzierten Verständnis von Identität und Zugehörigkeit.
Das Interview führte Elif Kılıç.