









Die Wählerschaft in Deutschland verändert sich – und mit ihr die politische Landschaft. Doch wer profitiert davon? Im Interview sprechen wir mit Dr. Özgür Özvatan über Wählergruppen und Fehler der etablierten Parteien.
Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland wurden in den letzten sechzig Jahren oft in verschiedenen Kontexten (meistens in negativen Zusammenhängen) diskutiert. Sind sie nun ein „Gamechanger“ bei den Bundestagswahlen? Was sagen die Daten über diese Wählergruppe?
Dr. Özgür Özvatan: Spätestens seit 2009 findet eine dynamische Migrantisierung Deutschlands statt. Das zeigen die Migrationszahlen. Wir sind global zu einem zentralen Player von globaler Wanderung geworden. Es wandern viele Menschen aus Deutschland aus und noch mehr Menschen wandern nach Deutschland ein. Um unseren Wohlstand nachhaltig sichern zu können, benötigen wir mehr Ein- als Abwanderung.
Durch die Gastarbeiter:innen-Wanderung und die neue Zuwanderung steigt naturgemäß der Anteil von migrantischen Wahlberechtigten. Dabei bilden die Kohorten nach 2000, also nach der Staatsbürgerschaftsreform, einen weiteren Faktor für die Migrantisierung der Wählerschaft. Sie treten in den 2020er Jahren ins Alter der Wahlberechtigung ein. Deswegen, ja, migrantische Deutsche können mit aktuell mehr als 15 Prozent Gamechanger sein und sie werden unvermeidlich ausschlaggebend für den Ausgang der kommenden Bundestagswahlen in den Jahren 2029 und 2033 sein.
IslamiQ: Was fällt Ihnen in Bezug auf migrantische Wähler in Deutschland auf, das die Daten nicht direkt sagen? Zum Beispiel, wie verändern sich die politischen Präferenzen zwischen Migrant*innen der ersten Generation und nachfolgenden Generationen? Und wie beeinflussen religiöse Sensibilitäten Ihrer Meinung nach das Wahlverhalten?
Özvatan: Was wir aktuell aus den Daten noch nicht explizit herauslesen können ist, welche Rolle der Nahost-Konflikt am Wahltag spielen wird. In den Umfragen wird der Effekt zum einen nicht direkt gemessen und zum anderen kann der repressive Umgang in Deutschland mit der Kritik an der rechtsextremen israelischen Regierung zu Verzerrungen in den Daten führen. Menschen Antworten in diesen Situationen tendenziell sozial erwünscht, um negative Konsequenzen zu vermeiden. Es haben sich neue Parteien formiert, die sich für das palästinensische Leid, gegen die unverhältnismäßige militärische Antwort der Netanyahu-Regierung und gegen die Waffenlieferungen Deutschlands an jene positionieren. Mehr als 60 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung ist gegen die Waffenlieferungen an Israel.
In dieser Frage besteht offensichtlich eine Nachfrage, die von der SPD, den Grünen, der FDP und der Union nicht gedeckt wird. Ob die neu formierten Parteien es in den Bundestag schaffen, bleibt fraglich. Wähler:innen für die diese Fragen ausschlaggebend für ihre Wahlentscheidung sind, können dazu tendieren eine in dieser Frage wählbare Partei unter den aktuell in den Parlamenten vertretenen zu suchen. In der öffentlichkeitswirksamen Kommunikation profiliert sich das BSW am stärksten mit dieser Position, vefolgt von die LINKE, die sich in dieser Frage nach internen Konflikten neu und klarer aufgestellt hat. Interessanterweise erhalten das BSW und die LINKE bei Menschen mit Migrationshintergrund eine höhere Zustimmung als bei Menschen ohne Migrationshintergrund. Das könnte ein Fingerzeig sein.
IslamiQ: Es wird behauptet, dass türkeistämmige Wähler in letzter Zeit eine gewisse Sympathie für die AfD zeigen. Hält die AfD Ihrer Meinung nach eine „Alternative“ für türkeistämmige Wähler in Deutschland bereit?
Özvatan: Ja, das stimmt und äußert sich insbesondere in den öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten Türkeistämmiger in der analogen und digitalen Welt. Sie beteiligen sich an lokalen AfD-Aktivitäten und erzeugen mit der schieren Tatsache, dass sie türkeistämmig und pro-AfD sind, eine besondere Aufmerksamkeit. Eine ähnliche Aufmerksamkeit erzeugen sie als content creator in der digitalen Welt. Das Unerwartete verbreitet sich wie Lauffeuer.
Unter den Menschen mit Migrationshintergrund ist das Wähler:innen-Potenzial für die AfD in der Gruppe aus der MENA-Region tatsächlich am geringsten. Im Durschnitt liegt es bei etwa 23 Prozent, in der Gruppe aus der MENA-Region bei 19 Prozent und unter der Gruppe aus der ehemaligen Sowjetunion bei 29 Prozent. Das zeigt eine neue Studie des Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung. Dabei haben Herausforderer-Parteien mit einer Anti-Eliten-Rhetorik stets den Vorteil, dass die Verbundenheit mit der Partei besonders intensiv ist, wenn sie wählbar erscheint. Das führt dazu, dass Sympathisant:innen besonders laut und meinungsstark auftreten. Diesen Effekt können wir bei den Türkeistämmigen beobachten. Es ist eine Minderheit, aber eine besonders laute und präsente, die dadurch eben eine breite Verbreitung erfährt.
IslamiQ: Wenn wir die Frage weiter fassen: Gibt es eine „wählbare“ Partei für migrantische Wähler in Deutschland? Ist die politische Landschaft in Deutschland Ihrer Meinung nach bereits post-migrantisch? Oder gibt es Ihrer Meinung nach eine politische Repräsentationslücke bzw. ein Responsivitätsproblem für migrantische Wähler in der politischen Arena?
Özvatan: Das Wähler:innen-Potenzial hat stets einen Bias für die demokratische Mitte. Kaum jemand würde kategorische ausschließen, eine demokratische Partei der Mitte wählen. So ist es auch bei Menschen mit MIgrationshintergrund. Das größte Potenzial haben die SPD und CDU, wie auch bei den Menschen ohne Migrationshintergrund. Das beantwortet aber nur die Frage, wen sie nicht ausschließen. Ob sie diesen Parteien wirklich ihre Stimme geben, hängt immer stärker von tagespolitischen Ereignissen ab. Da kann es eben sein, dass ihre Unzufriedenheit und der Vertrauensverlust mit der Politik der demokratischen Mitte in die Arme von Herausforderer-Parteien schiebt.
IslamiQ: Nach den Wahlergebnissen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg scheint die rechtsextreme Partei in den Köpfen vieler Wähler weitgehend normalisiert worden zu sein. Wenn man dann noch die Positionen der etablierten Parteien hinzuzieht, die sich nicht groß von denen der AfD unterscheiden, sowie die Strategien der AfD, um in den Mainstream einzutreten, ist die AfD für viele Wähler nun zu einer „normalen“ Partei geworden. Welche Art von Wendepunkt würde Deutschland erleben, wenn die AfD als zweitstärkste Partei hervorgeht?
Özvatan: Noch liegt tatsächlich die Antwort in den Händen der demokratischen Mitte. Jene verliert aber zunehmend an Vertrauen und zugeschriebener Lösungskompetenz für die drängenden Fragen innerhalb der Bevölkerung. Auch eine Misinterpretation der drängenden Fragen ist ein Problem. Die Menschen geben in Umfragen wirtschaftliche Sorgen um Inflation und den Wohnungsmarkt als zentrale Sorgen an, während der Wahlkampf von einer hysterischen Migrationspolitik getrieben ist. Die AfD freut sich als single-issue Partei darüber. Sie hat nur ein einziges Profil, nämlich Anti-Immigration. Die demokratische Mitte macht im Wahlkampf Anti-Immigration-Politik. Am stärksten profitiert die rechtsextreme AfD davon. Es ist ein strategisches Versagen demokratischer Parteien.
IslamiQ: Rechtsextreme Parteien zeigen ebenfalls ein wachsendes Interesse an migrantischen Wählern. Was ist Ihrer Meinung nach der Grund dafür?
Özvatan: Die Strategie ist zweierlei. Zum einen möchten sie sich als bürgerlich stilisieren und zum anderen haben sie früh verstanden, dass sie die kritische Marke von 30 Prozent ohne Migrant:innen nicht nehmen können. In einer dermaßen migrantisierten Gesellschaft ist das nicht möglich. Sie fahren eine sehr kluge und professionelle Ansprache für migrantische Communities in der analogen und digitalen Welt. Dabei unterscheiden sie zwischen guten und schlechten Migrant:innen. Eine kluge Strategie, um alle die früher kamen für Migrationsfeindlichkeit gegenüber den Neuen zu gewinnen. Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist dieses böse Spiel ein Desaster. Dass dieses Desaster überhaupt funktioniert liegt an den Parteien der demokratischen Mitte. Sie haben es versäumt, Community-Wissen professionell in die Parteien zu integrieren, um dann eine kluge Community-Ansprache fahren zu könnne.
IslamiQ: Es gibt einige kleine Beispiele, bei denen Menschen mit Migrationsheschichte nicht nur als Wähler, sondern auch als Parteigründer aktiv in der politischen Arena sind. Glauben Sie, dass es in Deutschland möglich ist, dass eine migrantisch geprägte Partei „erfolgreich“ ist (auch wenn Erfolg relativ ist)? Wann könnten wir von einem „großen Erfolg“ einer migrantischen Partei sprechen, oder ist dies eine reine Utopie?
Özvatan: Das Versagen der demokratischen Parteien postmigrantische Communities professionell und klug anzusprechen, deutet darauf hin, dass sich bald eine ernstzunehmende postmigrantische Partei formieren wird. Die ersten Parteien mit einem teilweise postmigrantischen Profil haben sich bereits formiert. Viele betrachten diese ersten Schritte als Scheiten, wenn der Einzug in die Parlamente nicht klappt. Tatsächlich ist die Phase als Professionalisieurng und Verknotung zu verstehen. Wenn sich das Versagen der demokratischen Parteien fortsetzt, werden sich die Knotenpunkte verbinden. Bei einer erwarteten Wählerschaft von fast 30 Prozent zur Bundestagswahl 2029 wäre eine postmigrantische Partei eine potenzielle Koalitionspartnerin, wenn sie nur die Hälfte der migrantischen Deutschen erreicht, plus all jene, die sich als nicht-migrantisch und postmigrantisch definieren.
IslamiQ: Welchen Beitrag würde eine migrantische Partei zur politischen Landschaft Deutschlands leisten?
Özvatan: Sie würde den parteipolitischen Wettbewerb fundamental transformieren. Die öffentlichkeitswirksame Kommunikation wird aktuell von einer Abwehr von Pluralismus dominiert. Das ist dysfunktional für die schrumpfende und alternde Gesellschaft. Ein Mittel gegen diese Dysfunktionalität ist ein relevanter politischer Stakeholder, der eindeutig und bedingungslos mit Offenheit gegenüber Pluralismus assoziiert wird. Eine solche Partei verspricht die politische Öffentlichkeit und den vorpolitischen Raum auszubalancieren. Aktuell erzeugt die antidemokratische AfD magnetische Effekte bei den demokratischen Parteien der Mitte. Unsere Historie lehrt uns wo das hinführen kann.
Das Interview führte Elif Zehra Kandemir.