Die Protestaktion „Die Toten kommen“ hat eine Debatte um die aktuelle Flüchtlingspolitik ausgelöst. Ein Kommentar von Erdoğan Karakaya über die Aktion und Verantwortung.
Wirtschaftliche Not, Leid und Krieg zwingen aktuell 60 Millionen Menschen weltweit dazu, ihre Heimat, ihre geliebten Familien und die gewohnte Umgebung zu verlassen. Es soll alles besser werden, für ihre Familien, die sie vielleicht zurückgelassen haben oder auf diesem beschwerlichen Weg zu einem besseren Leben mitnehmen. Besseres Leben – dabei bedeutet ein besseres Leben allzu oft nur die gefühlte Sicherheit ausnahmsweise heute satt zu werden. Vielleicht ist es der Wunsch nicht seine Kinder zu Grabe zu tragen, die auf dem mühsamen Weg zur Schule getötet worden sind. Oder vielleicht ist es das Gefühl, nicht jeden Tag denken zu müssen: Werden wir diesen Tag überleben?
Dieses Martyrium der gezwungenen Migration führt schlussendlich dazu, dass tausende Väter, Mütter, Töchter und Söhne zu Opfern dieses beschwerlichen Wegs zu einem besseren Leben werden. Tag um Tag verlieren hunderttausende Familien ihre Liebsten, die für die Flüchtlingspolitik unserer Europäischen Union nichts weiter sind als eine weitere Ziffer in ihrem Jahresbericht zur Migration. Genauso anonym wie diese Menschen für Statistiken instrumentalisiert werden, werden ihre Leichname in Massengräbern anonym verscharrt, denn begraben, kann man das schon lange nicht mehr nennen.
Das Zentrum für politische Schönheit hat sich diesem Verbrechen an der letzten Würde des Menschen angenommen und zeigt in demonstrativen Grablegungen, dass jeder Flüchtlinge das Recht hat, auf eine pietätvolle Art bestattet zu werden. Der sogenannte „Marsch der Entschlossenen“ ging indes soweit, dass sie die Zäune der Bundestagswiese niederrissen und zahlreiche, nach eigenen Angaben hunderte, Gräber aushoben (1). Jene Gräber wurden symbolisch mit dem Holzkreuz markiert, um sie tatsächlich als Gräber kenntlich zu machen. Andere hingegen trugen die gezimmerten Särge in einem symbolischen Trauerzug (2).
Wiederrum andere machen die Teilnehmer_innen solch eines Protestaktes darauf aufmerksam, dass die meisten Flüchtlinge muslimischer Konfession seien, sodass man die Gestaltung der symbolischen Grabsteine daraufhin berücksichtigen sollte (3).
Doch allesamt sind diese Aktionen des Protests erneut ein Ausdruck dafür, wie über Millionen von Menschen gesprochen und geurteilt wird. Die eigentliche Problematik, dass die Würde des Menschen mit Füßen getreten wird, wird kaum thematisiert. Flüchtlinge, also Menschen, die aus ihrer Verzweiflung heraus die wertvollsten Menschen ihres bisherigen Lebens verlassen mussten, werden zur Projektionsfläche von Politik und Institutionen.
Die zahlreichen Debatten und Zeitungsartikel drehen sich indes darüber, wie Menschen pietätvoll begraben werden sollen, ohne dass vorher in unmenschlichen Widrigkeiten gelebte Leben zu thematisieren. Zu allem Übel konfessionalisiert man dieses Verbrechen an der Menschheit und vollzieht ein muslimisches Schaubegräbnis einer jungen syrischen, vierfachen Mutter und ihrer zweijährigen Tochter, deren Leichnam man bis heute nicht auffinden konnte.
Doch gerade die muslimischen Bestattungsrituale, angefangen vom Sterben bis hin zur Zeit der Kondolenzbesuche sind alle ein Ausdruck für das Motiv der Verantwortung für die Mitmenschen. Idealerweise stirbt der Mensch in der Anwesenheit von Familie und Freunden und der Vergewisserung des Sterbenden daran, das ein Fortleben weiterhin bestehen wird. Demgegenüber steht das Sterben der flüchtenden Menschen in der Fremde, die wiederrum umgeben sind von Fremden und ihrer spürbaren Angst der Ungewissheit.
Das Waschen und das Einhüllen des Leichnams sind Pflicht des Kollektivs gegenüber dem toten Menschen, der nicht Objekt, sondern immer noch Mensch bleibt und als solcher vorsichtig behandelt wird. Auf der anderen Seite erscheinen die schrecklichen Bilder von 17 Menschen, die in Müllsäcken eingepackt in einer Kühlkammer übereinander gestapelt wurden (5).
Das Tragen des Leichnams auf einer Bahre oder in einem Sarg eröffnet den Tragenden die Möglichkeit einen Moment in sich zu gehen und in unmittelbarer Nähe des Toten, Bittgebete für den Verstorbenen und die Anwesenden zu sprechen. In den Protestmärschen wird in symbolischen Trauerzügen das Tragen des Sargs vollzogen, das zwar nicht religiös eingebettet ist, doch gleichsam zu einem Ventil für die gefühlte Ungerechtigkeit der Welt wird.
Die Bestattung und das Sprechen der Bittgebete auf dem Grabfeld werden in muslimischen Bestattungen zu etwas ganz Intimem. Trotz der versammelten Trauergemeinde auf dem Grabfeld sind die einzigen Geräusche, die man wahrnimmt, die Koranrezitation und das Weinen der Hinterbliebenen. Dem wiederrum steht die Inszenierung einer Bestattung entgegen, die in medial aufgerüsteter Manier, diesen innovativen Ansatz des Protests in alle Welt verlauten möchte. Doch dort wird das Rezitieren des Korans durch das Blitzen der Kameras übertönt.
Die Kondolenzbesuche werden zur Brücke zwischen den Verstorbenen und den Hinterbliebenen, die vom gesamten Leidenskollektiv materiell und emotional aufgefangen werden. Die Inszenierung von Bestattungen, der Wunsch ein Mahnmal für auf der Flucht verstorbene Menschen zu errichten, oder die Protestmärsche im Kleide von Trauerzügen, demonstrieren die Wut über die existierende, menschlich unwürdige Situation und den Frust über die eigene Ohnmacht der Bürger_innen.
Die Aktion der Künstler ist sicherlich für den Moment wirkungsvoll und medial interessant. Doch bleibt abzuwarten, ob es bei dem künstlerischen Happening humanistischer Prägung bleibt oder nachhaltig und zukunftsweisend sich zivilgesellschaftliche Projekte, gefördert durch die Politik, sich etablieren können.
Die Bestattung ist, wie der Imam der Begegnungsstätte Haus der Weisheit in Moabit formuliert, das Mindeste was wir tun können. Ein Leben in Würde, konnten wir diesen Menschen nicht anbieten (6).
(1) http://www.politicalbeauty.de/
(2) http://www.tagesspiegel.de/berlin/protestaktion-die-toten-kommen-vor-bundestag-50-demonstranten-beim-marsch-der-entschlossenen-festgenommen/11946694.html
(3) http://www.mariusmeyer.de/post/122121527898/muslimische-graeber-fuer-unbekannte-einwanderer
(4) http://www.stern.de/panorama/die-toten-kommen—beerdigung-als-protestaktion-gegen-europaeische-fluechtlingspolitik-6304000.html
(5) http://taz.de/!5205181/
(6) http://www.stern.de/panorama/die-toten-kommen—beerdigung-als-protestaktion-gegen-europaeische-fluechtlingspolitik-6304000.html