Ein Gutachten von Dr. Abdel-Hakim Ourghi beschreibt den islamischen Religionsunterricht in Hessen als „rückständig“. Murat Kayman schreibt über die Debatte und die Rolle der islamischen Religionsgemeinschaften.
Am 09.08.2015 ist eigentlich nichts Ungewöhnliches passiert. Der in der “WELT“ veröffentlichte Artikel über zwei Gutachten zu dem islamischen Religionsunterricht (IRU) in Hessen war nicht besonders originell oder inhaltlich neu. Wieder einmal ging es um den Vorwurf gegenüber den islamischen Religionsgemeinschaften, sie seien rückständig, fremdgesteuert, illoyal, in ihrem Islamverständnis anachronistisch, verheimlichten ihre wahren Absichten, seien nicht vertrauenswürdig. Und – es ist schließlich „DIE WELT“ – die islamischen Religionsgemeinschaften seien der deutschen Gesellschaft gegenüber ablehnend, wenn nicht gar feindselig eingestellt, womit erneut auf mittlerweile gar nicht mehr so subtile Weise die Grenze gezogen wurde zwischen „deutsch“ und „muslimisch“.
Und auch nicht neu: Ziel dieses Verrisses war natürlich die DITIB, auch wenn im Grunde alle etablierten islamischen Religionsgemeinschaften gemeint sind. Denn wenn man eine Schlägerei vom Zaun bricht, sucht man sich als erstes Ziel den Größten in den gegnerischen Reihen aus, um mit einem Wirkungstreffer gleichzeitig alle kleineren Mitstreiter zu beeindrucken und einzuschüchtern.
Natürlich ist wieder ein muslimischer Kritiker – der diesmal kein Buch sondern ein Gutachten geschrieben hat – Kronzeuge der Anklage. Dieser Kronzeuge muss es schließlich wissen, denn er hat ja die Rückständigkeit seines Betrachtungsgegenstandes am eigenen Leib erfahren und berichtet in unwiderlegbarer Weise, welche Skandale die Religionsgemeinschaften verbrechen, ohne dass sie von den naiven Kultusministerien aufgehalten werden. Diesmal ist der Kronzeuge jedoch kein inzwischen geläuterter und in die Reihen der humanistisch-liberalen Muslime konvertierter Ex-Islamist – die kommen erst im Oktober mit ihren Büchern auf den Markt.
Nein, diesmal ist es ein Religionspädagoge, der flankiert von einem katholischen Theologen und einem Historiker, beauftragt vom Arbeitskreis christlich-demokratischer Lehrer, nachforscht und begutachtet, was denn so im Islamunterricht passiert. Auf die Idee, ihre den Islamunterricht erteilenden muslimischen Kolleginnen und Kollegen einfach mal zu fragen, sind die kritischen Lehrer offenbar nicht gekommen, was wiederum die Frage aufwirft, ob jemand weiß, was eigentlich in gemischtkonfessionellen Lehrerzimmern passiert?
Vielleicht wäre es ein ergiebiges Forschungsfeld für Religionspädagogen, sich den Erfahrungen der Lehrkräfte zu widmen, die womöglich auch noch mit Kopftuch islamischen Religionsunterricht erteilen. Der sicher sehr moderne, aufgeklärte, humanistische und liberale Umgang mit muslimischen Kolleginnen und Kollegen wäre zweifelsohne ein vorbildliches Exempel für den dialogischen und interreligiösen Umgang innerhalb des Schulbetriebes.
Die Stellungnahmen aus Sicht der DITIB sind bereits an anderer Stelle veröffentlicht worden. Dabei wurde dargelegt, wie weit sich mittlerweile selbst Kritiker, die sich einen wissenschaftlichen Anspruch auf die Fahne schreiben, vom Fundament unserer Verfassungsordnung entfernt haben und in ihren als aufklärerisch-kritisch etikettierten Ausfällen ein Zwei-Klassen-Recht für islamische Religionsgemeinschaften fordern. Wer sich mit diesen Stellungnahmen intensiver befassen will, mag hier und hier nachschlagen.
Nach diesen inhaltlichen Stellungnahmen soll hier ein anderer Aspekt näher beleuchtet werden. Denn wie oben bereits einleitend ausgeführt, sind solche Ausfälle nicht neu, sie nehmen nur an Intensität zu. Sie sind im Grunde beispielhaft für eine Entwicklung in der öffentlichen Debatte über den Islam in Deutschland, die man am ehesten mit einer Frontenbildung beschreiben kann. Die Motive mögen vielfältig sein, von politischen Einhegungs- und Gestaltungsabsichten, über die allgemeine Tendenz zur Säkularisierung im Sinne einer Verdrängung religiöser Wahrheitsansprüche aus dem öffentlichen Raum, bis hin zu ganz banaler Profitgier, welche ein Milieu geschaffen hat, in dem sich Wanderarbeiter der öffentlichen Empörung weg vom faulen weil inzuchtgeschädigten Ausländer, hin zum gefährlichen, von fremden Kräften gelenkten Muslim orientiert haben.
So unterschiedlich die Triebkräfte auch sein mögen, ist jedenfalls zu konstatieren, dass zunehmend eine Front gegen die etablierten islamischen Religionsgemeinschaften gezogen wird. Das ist bei genauerer Betrachtung auch kein Novum. Es ist vielmehr ein wiederkehrendes Muster der innerdeutschen Entwicklung im Verhältnis zum Fremden.
Die kulturell fremden Gastarbeiter, mit eigenartigen Namen, sonderbarer Kleidung und irritierenden Essgewohnheiten sind in dem Maße – gerade in den 90er Jahren – als im nationalen Sinne fremde Trojanern markiert worden, je mehr sie sich den kulturellen Bedingungen angeglichen haben. Je mehr wiederum die nationale Orientierung dem originären Anspruch eines Deutsch-Seins gewichen ist, umso mehr nahm dann die Entfremdung mittels der Religion zu. Dieses Auf-Distanz-Halten manifestiert sich in den wiederholt auftauchenden Narrativen der antimuslimischen Szene und den auch in den vorbenannten „Gutachten“ prägnanten antagonistischen Markierungen, wo es ganz selbstverständlich nicht möglich sein soll, gleichzeitig deutsch und muslimisch zu sein.
Anders ausgedrückt, haben sich die Spielregeln für das Heimisch-Werden in dem Maße immer wieder aufs Neue gewandelt, je mehr sich die Fremden einer etwaigen Anpassung genähert haben. Besonders deutlich wird dieser Ausgrenzungsmechanismus bei den deutschen Konvertiten, die keine kulturelle oder nationale Andersartigkeit aufweisen, aber gerade aufgrund ihres islamischen Bekenntnisses immer häufiger ausländischen Gruppierungen oder Strömungen zugerechnet werden.
Jetzt, wo immer mehr insbesondere junge Muslime in die Mitte der Gesellschaft drängen und wie selbstverständlich auf ihre Teilhabe bestehen, immer selbstbewusster gerade auch mit ihrer religiösen Identität sichtbar werden und authentisch davon ausgehen, dass natürlich auch ihre Religion einen wertvollen Beitrag für das Gelingen und das zukünftige Wohl dieser Gesellschaft bedeutet, gerade jetzt ist es kein Zufall, dass islamische Religionsgemeinschaften als fremd, als ausländisch, markiert werden.
Es ist das altbekannte Muster der immer neuen Veränderung der Spielregeln und Bedingungen gesellschaftlicher Teilhabe, wenn aufgrund des beschriebenen soziologischen Selbstbewusstseins junger Muslime nicht mehr ihre Religion per se als fremd etikettiert werden kann, sondern ein neues, scheinbar tauglicheres Ziel gefunden werden muss.
In einer solchen Konstellation muss zwangsläufig der Blick auf die kollektive Selbstorganisation der Muslime fallen.
Ein Gesellschaftsverständnis, in der die völlige Überhöhung des Individuellen mittlerweile zu einer sozialen Kälte gefriert, die ihre eigenen Errungenschaften negiert, zunehmend den Gedanken der Solidargemeinschaft und des gemeinwohlförderlichen Ausgleichs aufgibt, das für den Gedanken des Schutzes wirtschaftlich Schwächerer nur noch Unverständnis, Hohn und immer häufiger auch Hass übrig hat, in dem die eigenen kirchlichen Institutionen eine nie dagewesene Flucht ihrer Mitglieder erleben, ein solches in seinen Fundamenten erschüttertes Selbstverständnis kann in seiner Verunsicherung auf den Anspruch des Islam nach einem kollektiven Verantwortungsbewusstsein, auf den Anspruch einer über Individualinteressen hinausgehenden Gerechtigkeit zum Wohle auch der Schwachen, nur mit dem Reflex der Ablehnung reagieren.
Deshalb fokussiert sich dieser Ablehnungsreflex ganz nachvollziehbar auf die islamischen Religionsgemeinschaften mit ihren Konzepten der kollektiven Selbstorganisation von Muslimen. Deshalb erscheinen gerade die islamischen Religionsgemeinschaften als besonders bedrohlich, die in ausgeprägter Weise ihre Mitglieder in Gemeinden und durch diese geformten Landesverbänden zusammenfassend vertreten. Nicht rein zufällig erscheinen der öffentlichen Meinung, verstärkt und dadurch immer wieder aufs Neue durch die Medien konstruiert, gerade die muslimischen Organisationen am wenigsten bedrohlich und damit idealtypisch als Ansprechpartner, die in ihrer Arbeit und in ihrem Auftreten gerade am wenigsten kollektiv wahrgenommen werden, sondern praktisch nur durch Einzelpersonen präsent sind.
Diese Phänomene sind das bewusste oder unbewusste Fundament, auf welchem die Ideen eines „europäischen Islam“ oder einer „Integration des Islam in das deutsche Staatswesen“ konstruiert werden. Ihre Protagonisten stigmatisieren die islamischen Religionsgemeinschaften aufgrund der oben beschriebenen Ablehnungsreflexe als heteronome Fremde, so dass diese keine Tauglichkeit mehr aufweisen für Diskurse über die Zukunft der Muslime in Deutschland. Sie werden disqualifiziert nicht für das, was sie sagen oder tun, sondern für das, was sie sind.
Ihr Verständnis eines absoluten Wahrheitsanspruchs wird als rückständig und gefährlich beschrieben, so dass eine gesellschaftsverträgliche Identität als Muslim nur noch unter der Bedingung der Dekonstruktion des Islam, nur unter der Bedingung der – wie es nicht ohne Grund in dem Ourghi-Pamphlet heißt – radikalen Relativierung des Wahrheitsbesitzes, möglich sein darf. Und dieses Konzept sollen die Religionsgemeinschaften bitte als selbstlose Helfer des Staates, als Diener der Neukonstruktion eines individuell-beliebigen Islams an theologischen Lehrstühlen und im Religionsunterricht unterstützen.
Für ein solches Ziel müssen sämtliche Quellen des Islam, alle historischen Errungenschaften islamischen Denkens, alle Disziplinen islamischer Lehrmethoden relativiert, historisch kontextualisiert und damit letztlich als überholt negiert werden. Dann erst entsteht Raum für die Neukonstruktion eines Individualislams, für eine Reform des Islam, nachdem dieser sich aber letztlich nicht mehr als gemeindlich – also auch kollektiv – organisierter Glaube, sondern nur noch als absichtsgeschwängerte individuelle Folklore erweisen soll.
Das größte Hindernis auf diesem Weg sind islamische Religionsgemeinschaften, die im Besitz einer verwurzelten – buchstäblich religiös radizierten – Glaubens- und Wissenstradition sind. Allen voran die DITIB, mit einem Rückgriff auf eine solche fast 500-jährige Gelehrtentradition. Sie und mit ihr alle anderen islamischen Religionsgemeinschaften gilt es aus dem gesellschaftlichen Diskurs herauszuhalten und durch Neukonstruktionen muslimischer Artikulations- und Repräsentationsorgane zu ersetzen. Dies wird mit einem solchen Eifer betrieben, dass jede auch noch so randständige Gruppierung oder Einzelperson als gesellschaftlich relevant in den Diskurs gehievt wird, ja dass selbst nichtmuslimischen Akteuren der Anspruch zugebilligt wird, Muslime zu vertreten.
Diese Personen und Organisationen werden dann in der sich aufdrängenden Gegensätzlichkeit zu der ausgrenzenden Markierung der islamischen Religionsgemeinschaften natürlich positiv konnotiert als die modernen, liberalen, humanistischen Muslime. Alles sinnentleerte Worthülsen, deren wahre Natur eben in solchen vermeintlichen Gutachten offenbar wird, in denen jenes Grundgesetz für die islamischen Religionsgemeinschaften außer Kraft gesetzt wird, das zuvor über Jahre hinweg eben genau den gleichen Muslimen wie eine Monstranz der Integration vor die Nase gehalten wurde und auf das sie sich jetzt nicht mehr berufen dürfen sollen. Dies ist eine Haltung, die überall wiederkehrt, wo die Rolle der Religionsgemeinschaften relativiert werden soll und wo die Beliebigkeit der Einzelmeinungen als ein willkommener Hebel für die Gestaltung eines neuen, natürlich zeitgemäßen Islam in Ansatz gebracht wird.
Alle muslimischen wie nichtmuslimischen Akteure aus Gesellschaft, Politik, Medien und Wissenschaft, die sich an dieser reformatorischen Selbstentleibung des Islam versuchen, eint ein identischer Habitus. Dieser schwankt hin und her zwischen aufopferungsvollem Furor, pädagogischem Erziehungsdrang und dem Gefühl des Überlegen-Seins, weil ja vom interessierten Publikum mit Applaus und wohlgefälliger Anerkennung geadelt.
Er erinnert an die in einem anderen historischen Zusammenhang beschworene Kiplingsche Bürde, die unverdrossen und tapfer gegen alle Widrigkeiten und in unserem Fall im Widerstand gegen die gefährlichen Religionsgemeinschaften – „halb Teufel und halb Kinder“ – getragen werden muss und deren Träger sich über bitteren Lohn beklagen, nämlich: „den Tadel derer, die ihr bessert,/ den Hass derer, die ihr beschützt,/ den Schrei der vielen, die ihr lockt/ (ah, langsam!) hin zum Licht:/„Warum habt ihr uns aus der Knechtschaft befreit,/ aus unserer geliebten ägyptischen Finsternis?“
Machen wir uns nichts vor. Diese Entwicklung wird sich weiter fortsetzen. Es hängen zu viele Karrieren, zu viele Interessen daran. Manchmal springt sogar ein akademischer Titel heraus. Wie im Fall der oben erwähnten zwei „Gutachten“ aus Freiburg können dann aber auch in der Summe ein Professor- und vier Doktortitel nicht mehr kaschieren, dass diese unheilige Entwicklung der Debatte über den Islam mittlerweile die Grenze zum öffentlich propagierten Verfassungsbruch überschritten hat.
Für die Muslime, gleich ob verbandlich organisiert oder nicht, gilt es jetzt, sich dieser Entwicklung bewusst zu werden, sich nicht frustriert abzuwenden, sondern sich ihr offensiv entgegenzustellen. Die neue Phase des Heimisch-Werdens in dieser Gesellschaft verlangt von den Muslimen, sich ihre Religion, ihren Wahrheitsanspruch nicht im Gegensatz, sondern ausdrücklich unter Bezug auf unsere Gesellschafts- und Rechtsordnung zu bewahren.
Denn es ist eben nicht so, wie man uns weißmachen will, dass die Koexistenz verschiedener Religionen und religiöser Lebensentwürfe nur in der Relativierung und Aufgabe des eigenen Wahrheitsanspruchs möglich sei. Ganz im Gegenteil. Die Grundaussage unserer Verfassungsordnung ist, dass unterschiedliche für sich absolute Wahrheiten und darauf beruhende Lebensentwürfe gleichberechtigt nebeneinander und miteinander zum Wohle der gesamten Gesellschaft wirken können. Gerade der klassische Islam der etablierten Religionsgemeinschaften steht nicht im Widerspruch zu diesem Prinzip, sondern ist vielmehr ein gleichlautender Appell zu einem Wetteifern um das Gute, zum Wohle aller Menschen.
Jedem liberalen oder humanistischen oder modernen Herostraten, der sich über dieses Prinzip unserer Werteordnung hinwegsetzen und ganze Bevölkerungsgruppen und ihre Religionsgemeinschaften marginalisieren will, um sie mittelfristig dem Schutz unserer Rechtsordnung zu entziehen, gilt es selbstbewusst entgegenzutreten und deutlich mit der gesteigerten Ablehnung eines Wolfgang Pauli zu erwidern: „Das ist nicht nur nicht richtig, das ist nicht einmal falsch!“
In Zeiten, in denen auch in anderen Bereichen bürgerliche Freiheiten Schritt für Schritt relativiert und in Frage gestellt werden, sind es die muslimischen Verfassungsbürger gerade auch aus den islamischen Religionsgemeinschaften – welch eine Ironie der Debatte!– die jetzt in die Bresche springen und unsere Verfassungswerte bewahren müssen. Es besteht Anlass zur Zuversicht, dass ihnen das auch gelingen wird. Denn sie sind ja schließlich konservativ.