Amnesty International

„Deutschland hat ein ernstes Rassismus-Problem“

Wieder wurde eine Moschee mit rassistischen Symbolen beschmiert. Islam- und Fremdenfeindliche Übergriffe erleben in diesem Jahr eine Hochkonjunktur. Wie problematisch die Lage ist, verdeutlicht die Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland (AI), Selmin Çalışkan.

21
09
2015
Die Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland (AI), Selmin Çalışkan. © AI

IslamiQ: Hakenkreuze auf Moscheen und brennende Flüchtlingsheime sind leider keine Seltenheit mehr. Wie bewerten Sie den Rassismus in Deutschland?

Selmin Çalışkan: Deutschland hat ein ernstes Rassismus-Problem. Das zeigen die Versäumnisse der Sicherheitsbehörden bei der Untersuchung der Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NS), die zunehmende Zahl der Aufmärsche vor Flüchtlingsunterkünften und  gewalttätiger rassistisch motivierter Übergriffe.

Sie machen zudem deutlich, dass das Problem weit über den Rechtsextremismus hinausgeht und in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Auch ein höheres Bildungsniveau schützt nicht vor rassistischen Vorurteilen. Das zeigt, dass unsere Regierung und PolitikerInnen Menschen in einer verantwortungsvollen Weise ansprechen müssen, statt weiterhin Angst vor Überfremdung und terroristischen Anschlägen zu schüren und damit auf Stimmenfang zu gehen. PolitikerInnen müssen ein Vorbild darin sein, verbriefte Menschenrechte wie z.B. das Diskriminierungsverbot und die Religionsfreiheit als Werte in Deutschland zu verteidigen und selber auch danach zu handeln.

Gleichzeitig organisieren sich Menschen in Initiativen, die die Flüchtlinge willkommen heißen und beim Ankommen unterstützen. Sie zeigen sich solidarisch mit den Flüchtlingen oder stellen sich sogar schützend vor sie und der rassistischen Gewalt entgegen.

Ein grundsätzliches Problem ist es, dass rassistische Übergriffe in Deutschland meist nicht ernst genommen oder als solche verfolgt werden. Dies kritisieren insbesondere Betroffenenorganisationen und lokale Initiativen. In vielen Bundesländern gibt es keine zuverlässigen Statistiken über die Zahl dieser Übergriffe, auf deren Grundlage der Staat umfassende Maßnahmen zur Bekämpfung des Problems aufsetzen könnte. Die Zahl der Anti-Diskriminierungsstellen in Deutschland, an die Betroffene und zivilgesellschaftliche Organisationen sich wenden können, ist bei weitem nicht flächendeckend.

Gleichzeitig legitimieren Praktiken wie diskriminierende Polizeikontrollen durch die Bundespolizei rassistische Vorurteile. Sie vermitteln den Eindruck, schwarze Menschen oder Menschen, die ein Kopftuch tragen oder als „südländisch aussehend“ empfunden werden, würden sich illegal hier aufhalten und gar nicht zu Deutschland gehören (können). Dazu zählen auch Muslime. Ein solches Vorgehen prägt die Sicht auf die sogenannten „Anderen“ und fördert Stigmatisierung.

IslamiQ: Vor allem die Islamfeindlichkeit scheint, dank PEGIDA, immer salonfähiger zu werden. Ist das ein Zeichen dafür, dass Rassismus nicht nur ein rechtsextremes Phänomen ist?

Çalışkan: Das Phänomen Pegida zeigt auf jeden Fall, dass anti-muslimischer Rassismus und Ressentiments bereits salonfähig sind – und das ganz unabhängig davon, wie viele Muslime und Flüchtlinge in einer Stadt wirklich leben. Dass sich Rassismus nicht auf Rechtsextremismus beschränken lässt, wird aber nicht nur am anti-muslimischen Rassismus deutlich. Rassistische Ressentiments und Stereotype sind in der Gesellschaft weit verbreitet.  Der starke Anstieg rassistisch motivierter Gewalt muss ein Weckruf für die Politik sein, sich diesen Ressentiments klar entgegenzustellen und zu handeln.

IslamiQ: Wie würden Sie das bisherige Handeln seitens der Politik im Hinblick auf die Entstehung von weiteren Ressentiments in Deutschland bewerten?

Çalışkan: Es gibt Politikerinnen und Politiker, die selbst Stimmung gegen Flüchtlinge machen und deren Menschenrecht auf Asyl in Frage stellen. Dabei ist das Völkerrecht eindeutig: Es erkennt Flüchtlinge und Migranten als besonders schutzbedürftige Gruppe an und verpflichtet die Politik, sie vor rassistischer Hetze und gewalttätigen Übergriffen schützen. Es ist beschämend, wenn sich Politikerinnen und Politiker in einem Land wie Deutschland auf eine angebliche Überforderung berufen, statt ihrer Pflicht nachzukommen und Flüchtlinge zu schützen. Angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen weltweit muss die Politik die vorhandene Aufnahmebereitschaft stärken – und nicht selbst untergraben.

Ressentiments zu ächten ist ein wichtiger Faktor. Aber auch wichtig ist der Umgang mit der Angst von Menschen, dass ihnen etwas weggenommen würde. Seien es finanzielle Mittel, die für Flüchtlinge und nicht für sie ausgegeben werden oder ihre Werteordnung, die sie durch die „Anderen“ bedroht sehen.  Dass die Gesellschaft sich in einem ständigen Veränderungsprozess befindet, muss als Tatsache akzeptiert werden. Und dass Menschen auch weiterhin nach Deutschland kommen, sei es auf der Flucht oder auf der Suche nach Perspektiven und Arbeit schafft vielleicht Unsicherheiten und Engpässe, birgt aber große Chancen. Letztendlich geht es immer um die Frage welches Deutschland wir leben wollen. Dies zu vermitteln und eine menschenrechtsbasierte Vision für unser Zusammenleben in Vielfalt zu entwickeln ist die Führungsaufgabe unserer Regierung.

IslamiQ: Welche Änderungen müssen eintreten, damit unterschätzter Rassismus nicht den Weg für weitere Angriffe auf Gotteshäuser oder Flüchtlingsheime ebnet?

Çalışkan: Flüchtlinge müssen endlich als die besonders schutzbedürftige Gruppe behandelt werden, die sie sind. Kriegstraumatisierte Männer, Frauen und Kinder in Flüchtlingsheimen, die mit martialischen Aufmärschen und Hassreden konfrontiert sind und mit Brandanschlägen und  brutalen Übergriffen bedroht oder gar von Sicherheitspersonal misshandelt werden, müssen vom Staat ausreichend geschützt werden. Es kann nicht sein, dass er diese Aufgabe zivilen Gruppen überlässt, die sich mit ihrer Courage zudem selbst zur Zielscheibe machen.

Politik und Strafverfolgungsbehörden müssen das Problem endlich ernst nehmen und Rassismus als ein gesellschaftliches Problem erkennen, das nicht auf Rechtsextremismus verengt werden kann. Politikerinnen und Politiker müssen ihre eigene Sprache überdenken und Polemik in den eigenen Reihen deutlich schärfer kritisieren. Mit der Debatte um „massenhaften Asylmissbrauch“ und den bestehenden Entscheidungen zu „sicheren Herkunftsländern“ liefert die Politik denjenigen Argumente, die gegen die Aufnahme von Flüchtlingen gewalttätig vorgehen. Gleichzeitig werden damit das Recht des Einzelnen auf ein faires Asylverfahren in Frage gestellt und anerkannte Asylgründe wie die bestehende Diskriminierung von Roma in Ländern wie Serbien oder Bosnien-Herzegowina ignoriert.

Die Politik muss außerdem eine umfassende Menschenrechtsbildung sicherstellen, vor allem bei der Polizei – zum Beispiel durch Anti-Rassismustrainings – aber auch in der LehrerInnenausbildung, an Schulen und darüber hinaus. Ebenso notwendig sind die Förderung von entsprechenden zivilgesellschaftlichen Initiativen, von Anti-Diskriminierungsstellen und die interkulturelle Öffnung staatlicher Institutionen.

 

Leserkommentare

Tobias sagt:
Es ist erstaunlich, dass eine Türkin beim Umgang mit Flüchtlingen mit dem Finger auf Deutschland zeigt. Immerhin kommen die Flüchtlinge bei uns nicht dauerhaft in Lagern unter, sondern sind lediglich übergangsweise in Flüchtlingsunterkünften, in denen es sich allemal besser leben läßt, als in den Lagern in der Türkei. Die Situation der Flüchtlinge im Herkunftsland von Frau Çalışkan ist bei weitem erbärmlicher als in Deutschland. In der Türkei leben die Flüchtlinge nämlich in Zeltlagern unter übelsten Bedingungen. Natürlich unter dem Deckmantel, dass man sie auf die Rückkehr in ihre Herkunftsländer vorbereiten müsse. Es sind aber im Grunde genau diese schlechten Bedingungen in Ländern wie der Türkei, die die Flüchtlinge nach Deutschland treiben. Vor dem Krieg und der Verfolgung sind sie zunächst einmal in die Türkei geflüchtet, wo sie eigentlich bleiben müßten, weil die Gründe für eine weitere Flucht damit eigentlich beseitigt sein sollten. Krieg und Verfolgung erfahren diese Flüchtlinge in der Türkei nicht mehr. Wieso ziehen sie also weiter nach Deutschland, wo sie sich dann am Ende noch über die angeblich schlechten Bedingungen beklagen?
22.09.15
16:03
Yusuf sagt:
Frage des Kommentators Tobias: "Wieso ziehen sie also weiter nach Deutschland, wo sie sich dann am Ende noch über die angeblich schlechten Bedingungen beklagen?" => Es ziehen ja nicht alle Flüchtlinge weiter nach Deutschland. In der Türkei leben immer noch zwischen 1,5 und 2,0 Mio. syrische Flüchtlinge (auch aus anderen Ländern einige). Es beklagen sich auch nicht die Flüchtlinge selbst, sondern Personen, denen die Situationen der Flüchtlinge klar sind. Wären die Bedingungen in der Türkei schlimm, wären die Straßen Istanbuls nicht übersät mit Flüchtlingen aus Syrien bis Südasien. Warum die Flüchtlinge nach Deutschland weiterziehen, weiß ich nicht? Vielleicht wegen Ramstein? Oder wegen der zahlreichen Waffenexporte an Mördern aus der Region? Z.B. Saudi-Arabien, das derzeit Jemen bombardiert. Vermutlich kommen also noch 1 Mio weitere Flüchtlinge aus Jemen nach Deutschland, weil wir hier so gerne Waffen und Kriege in anderen Ländern fördern und exportieren.
28.09.15
13:50