Der Tag der offenen Moschee (TOM) steht vor der Tür. Dieses Jahr unter dem Zeichen der muslimischen Jugend in Deutschland. Aus dem Anlass hat IslamiQ eine Reihe von Beiträgen vorbereitet, in denen die muslimische Jugend aus verschieden Perspektiven vorgestellt wird. Elif Zehra Kandemir schreibt über die unbemerkte Jugendarbeit.
Es ist das Jahr 1998: Eine Ein-Zimmer- Studentenwohnung in Köln. Anwesend sind sechs Jugendliche im Alter von 16 Jahren. Es werden Bücher zum Islam gelesen. Anschließend wird bei Gebäck und Tee über die Inhalte diskutiert. Diese bescheidene Bewirtung ist die wöchentliche Aufmerksamkeit eines Promotionsstudenten, der aus der Türkei nach Deutschland kam, um hier zu studieren. Wo auch immer die Jugendlichen Jahre später Tee und Gebäck vorfinden, werden sie an diese Gesprächsrunden erinnern.
Einmal habe er zum Verantwortlichen der Jungendarbeit gesagt: „Wenn es diese Gespräche nicht gäbe, wäre ich auch nicht hier!“ Dieser habe geantwortet: „Das mag dir heute so erscheinen. Aber man darf die soziale Bedeutung von Sport und anderen Aktivitäten nicht unterschätzen. Sie vermitteln den Jugendlichen wichtige Kompetenzen.“ Und schon bald erkannte Ali, dass nur die Verknüpfung von spaßigen Freizeitaktivitäten und intellektuellem Austausch zwischen den Jugendlichen eine vielversprechendes Resultat für jede Seite hervorbringen kann. Nur eine mehrdimensionale Jugendarbeit kann die geeignete Antwort auf das Reichtum der gesellschaftlichen Realität zwischen den Jugendlichen sein. Deshalb betätigte sich Ali neben den häuslichen Gesprächsrunden bei Tee und Gebäck auch an verschiedenen Projekten, die dazu beitragen sollten, dass muslimische Jugendliche sich als selbstbewusste und gleichwertige Bürger wahrnehmen.
Heute ist Ali 32 Jahre alt und immer noch in der Jugendarbeit aktiv. Doch die Stimmung im Land hat sich geändert. Heute wird in Deutschland unter anderem über die blutigen Aktionen einer Gruppe namens „Islamischer Staat“ (ISIS) heftig diskutiert. Jeden Tag wird in Kolumnen oder Kommentaren behauptet, „dass die im Namen des Islams verübten Gewalttaten eigentlich zum Islam passen“ oder dass „islamische Gemeinden nicht in der Lage sind, Jugendliche vor Hasspredigern zu schützen.“
Auch wenn er für die Jugendarbeit, die mit Beharrlichkeit geleistet wird, keine Würdigung erwartet, ist er sich doch im Klaren darüber, dass solche Projekte, die seit langem ohne öffentliche Unterstützung existieren, niemals Schlagzeilen machen werden. Soziales Engagement von Muslimen wird – im Gegensatz zu anderen religiösen Gemeinschaften – offenbar nur dann gewürdigt, wenn es dazu beiträgt Radikalisierung und Extremismus zu verhindern. Beispielsweise finden Imame in Gefängnissen eine positive mediale Erwähnung, wenn sie Radikalisierungsansätze verhindern. Die Vorfindung der Nachricht, dass Sie als Antwort auf das spirituelle Bedürfnis der Insassen eingesetzt werden sollten, ist zumindest aus medialer Sicht eher ungewöhnlich. Auch für die Jugendarbeit ist es anscheinend unerheblich, dass sie muslimischen Jugendlichen Perspektiven bietet. Bewertungsmaßstab ist ausschließlich die Effizienz, mit der sie Jugendliche vor extremistischen Gruppen schützen kann, also die aktuelle politische Zielvorgabe erreicht.
Muhammed Şener, Verantwortlicher des Projektes Großer Bruder-Kleiner Bruder[1] in Köln und Umgebung, berichtet, dass unter seinen Jugendlichen keine Radikalisierungstendenzen zu beobachten seien. Seiner Ansicht nach hängt dies damit zusammen, dass die Jugendlichen bereits von klein auf in ein Netzwerk aus verschiedenen Angeboten eingebunden sind, und sie deshalb nicht zu radikalen Ansichten neigen. Er fügt hinzu: „Zeigt die Tatsache, dass wir bisher keinerlei Erfahrung in dieser Richtung gemacht haben, nicht den eigentlichen Erfolg unserer Arbeit?“
Für Jugendliche im Alter zwischen 12 und 30 gibt es in Köln 44 Gruppen. Şener spricht von einem Motto in Form von „Manndeckung“. „Wir helfen Jugendlichen bei familiären Problemen. Zum Beispiel gab es ein Problem zwischen einem Vater und seinem Sohn. Der Jugendliche wandte sich an mich, und wir trafen uns zu dritt und lösten das Problem.“
Das persönliche Interesse an den Jugendlichen umfasst auch Probleme im Freundeskreis. „Was das Projekt Großer Bruder-Kleiner Bruder von anderen Projekten unterscheidet, ist die Tatsache, dass wir auch die jungen Jugendlichen auf der Straße erreichen. Wenn ein Jugendlicher zuhause, am Arbeitsplatz oder in der Schule Probleme hat, also sich schon in einem Problemgefüge befindet, ist es wahrscheinlicher, dass er unter den Einfluss extremer Gruppierungen gerät. Wir nehmen die Jugendlichen vor den Kaffeehäusern, den Shisha-Bars und Wettbüros bei der Hand. Wir lassen sie an geselligen Wochenendseminaren teilnehmen. Wir laden Menschen aus verschiedenen Berufsgruppen ein und bringen Polizisten, Lehrer und Ärzte mit Jugendlichen zusammen. Wir bieten ihnen Handlungsmodelle an, wie sie produktive Individuen werden können. Unser Ziel ist es, dass die Jugendlichen in der Gesellschaft ihren Platz finden.“
Şeners Stimme verändert sich, als er über Jugendliche spricht, die er vor einigen Jahren betreut hat. Alle werden in diesem Jahr ein Studium beginnen. Dies hebt er als die eigentliche Belohnung der freiwilligen Arbeit hervor: „Jugendliche zu erziehen, die in Zukunft in dieser Gesellschaft Akademiker werden, ist als Frucht unserer Arbeit ausreichend.“
Die großen Brüder, die zum Teil auch Streetworker sind, arbeiten durchweg ehrenamtlich. Einzige Motivation sei es, wie Muhammed Şener betont „den Menschen zu helfen.“ Viele Projektmitarbeiter studieren, haben einen festen Arbeitsplatz, sind verheiratet. Ihre knappe Freizeit nutzen sie, um sich um ihre Brüder zu kümmern. Ein anderer großer Bruder sagt: „Wir wissen, wie leicht man vom Weg abkommen kann. Wir müssen diesen Jugendlichen die Hilfe anbieten, die ihre Familien nicht leisten.“ Er selbst habe mit etwa 15 Jahren auch einen großen Bruder gehabt, der ihn zur Fortsetzung seiner Ausbildung motiviert habe. Dass er sich nun seinerseits um jüngere Brüder kümmert, zeigt, wie sich das Projekt immer wieder selbst erneuert.
Alkan Öztürk, der in Köln-Kalk das Projekt verantwortet, erzählt von einem Jugendlichen, der die Schule abbrechen wollte. Sein großer Bruder überzeugte ihn, seine Ausbildung fortzusetzen. Grundlegendster Aspekt, so Öztürk, ist es, den Jugendlichen keine Vorwürfe zu machen. Dies bedürfe aber einer besonderen Reife. „Vor uns ist ein sehr junger Mensch, der natürlich Fehler machen und aggressive Haltungen einnehmen kann. Wenn wir ihn behandeln, wie er uns behandelt, würden sowohl wir als auch der Jugendliche verlieren. Wir begegnen solch einer Situation mit Geduld und Reife.“ Öztürk ist sich allerdings auch der Grenzen bewusst: „Wir haben keinen Zauberstab mit dem wir den Jugendlichen sofort verändern können.“
Ali sagt, dass er nicht derjenige von heute wäre der er ist, wenn er nicht von seinem fünf Jahre älteren großen Bruder unterstützt worden wäre. Das Projekt war für ihn „der Wegbereiter in eine neue Welt.“ Eine Würdigung des Projekts Großer Bruder-Kleiner Bruder ist ihm nicht wichtig. Stattdessen wünscht er sich, dass die Arbeit mit Jugendlichen nicht mehr nur auf „Extremismusbekämpfung“ reduziert wird.
[1] Das Projekt „Großer Bruder-Kleiner Bruder“ wurde durch die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş seit 1994 systematisch durchgeführt. Es erreicht mit 100 Gruppen in sechs Ländern jährlich tausende Jugendliche in ganz Europa.