Radikalisierung

Verantwortung endet nicht vor der Moscheetür

Sind Moscheen Orte der Radikalisierung? Nein, sagt Bekir Altaş, Generalsekretär der IGMG. Er ist der Meinung, dass Moscheen der Radikalisierung vorbeugen. Doch die Verantwortung endet nicht vor der Moscheetür. Ein Kommentar.

23
11
2015
Bittgebet
Junger Muslim betet © by Akif Sahin auf flickr.com (CC BY 2.0), bearbeitet IslamiQ

Erst Ankara, nun Paris. Die Terroranschläge der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) sind auch geographisch in Europa angekommen. Diese zu verurteilen ist ein Gebot der Menschlichkeit. Genauso selbstverständlich ist aber auch das Recht, im Stillen trauern zu dürfen, ohne in Gesinnungsverdacht zu geraten. Geht es jedoch um Muslime, scheinen diese Selbstverständlichkeiten nicht sehr offenkundig zu sein.

Dabei ist die Selbsttaufe dieses Pseudo-Staates nicht das einzige Problem. Die Bezeichnung ihrer Taten als „islamisch“ und die Nutzung bedeutsamer religiöser Symbole (Handzeichen, Prophetensiegel u. Ä.) finden Eingang in die internationale Berichterstattung. Die IS erfreut sich somit einer regen kostenlosen PR-Arbeit. Paradoxerweise sind die Leidtragenden Muslime. Symptomatisch für diesen Zustand ist insbesondere der Distanzierungszwang, der den Muslimen wie eine Bürde auferlegt wird.

Terror zielt auf die Verbreitung von Angst und gesellschaftliche Destabilisierung. Um ihm einen Stein in den Weg zu legen ist eine gemeinsam erhobene Stimme essentiell. Diesem Zweck diente die vom Koordinierungsrat der Muslime (KRM) organisierte Pressekonferenz, bei der die Anschläge aufs Schärfste verurteilt wurden. Dies steht aber nicht im Widerspruch zum vorher Gesagten: Muslime distanzieren sich nicht vom Terror, weil Distanzierung eine ursprünglich bestandene Nähe voraussetzt, die nunmehr aufgegeben wird. Muslime verurteilen Terror, weil er grundlegendste Glaubensgrundsätze mit den Füßen tritt.

Wer ist verantwortlich?

Nichtsdestotrotz dürfen es sich muslimische Gemeinschaften nicht zu leicht machen, indem sie nur die Vereinbarkeit derartiger Barbarei mit dem Islam – berechtigterweise – ablehnen. Es stellt sich zwar nicht die Frage nach Schuld und Verantwortlichkeit für die Einzeltat. Muslime tragen aber die Verantwortung dafür, Missverständnisse über ihre Religion wirksam aufzuklären. Die Gratwanderung zwischen fremdauferlegter Erklärungsnot und selbstbestimmter Aufklärung ist dabei die zu meisternde Aufgabe.

Diese Mission gilt vor allem in Bezug auf die Mehrheitsgesellschaft, auch wenn die Innenperspektive nicht wenig bedeutsam ist. Die üblichen Vorannahmen lauten, dass erstens muslimische Jugendliche von Radikalisierung besonders gefährdet seien und zweitens diese Radikalisierung in den Moscheen stattfinde. Beide Behauptungen vermögen es nicht einer genaueren Untersuchung standzuhalten. Der Generalverdacht gegenüber Jugendlichen einer bestimmten Glaubensgruppe zeugt von einer hohen Affinität für monokausale Erklärungsmuster. Diese Sicht mag komfortabel und simpel erklärbar sein, verkennt aber die eigentlichen Problemlagen. Nach dieser Sichtweise sind allein Muslime schuld an der Misere, während staatliche noch gesellschaftliche Akteure mit Leichtigkeit die Verantwortung von sich weisen können. Der Wundpunkt bei der Radikalisierung – Bildungsmisere, soziale Missstände, religiöse Einfältigkeit uvm. – muss aber erkannt, benannt und in Angriff genommen werden. Hier nämlich kann man etwas verändern, hier fängt die Verantwortung an.

Dieser Verantwortung kann sich die Politik stellen, indem sie sich ihre ausgrenzende Sprachwahl abgewöhnt und institutionelle Diskriminierung in Schule, Beruf und Alltag verhindert, um so Ausgrenzungserfahrungen entgegenzuwirken. Ein noch wichtigerer Aufgabenbereich ist die Außenpolitik. Hier gilt es fragilen Staatsgebilden konstruktiv entgegenwirken, um so das Entstehen von Machtvakuen zu verhindern, in denen sich terrorostische Organisationen einnisten könnten. Nachhaltige Entwicklungshilfe darf sich nicht an den eigenen staatlichen Interessen orientieren. Nicht zuletzt muss der Waffenhandel, indem die Bundesrepublik ganz oben mitspielt, überdacht werden.

Verantwortlich sind natürlich auch unsere islamischen Religionsgemeinschaften im Allgemeinen und die örtlichen Moscheegemeinden im Besonderen. Anders als man häufig im öffentlichen Diskurs belehrt wird, sind diese jedoch nicht die Brutstätte religiöser Radikalisierung, sondern vielmehr ein Bollwerk gegen das schwarz-weiß-malerische Weltbild fanatischer Ideologen. Sie leisten hervorragende Kinder- und Jugendarbeit – und dies bereits seit Jahrzehnten.

Verantwortung endet nicht vor der Moscheetür

Mehr denn je müssen wir heute unterstreichen, dass unsere Verantwortung für muslimische Jugendliche aber nicht vor der Moscheetür endet. Gerade darüber hinaus müssen wir unsere Jugendlichen mit umfassenden Bildungs- und Betreuungsangeboten weiterhin im Blickfeld behalten. Auf diese Weise werden Schattenfelder der Radikalisierung belichtet. Das Suspekte gewinnt an Deutlichkeit, das Gefährliche verliert an Nährboden. Primäre Aufgabe der muslimischen Gemeinschaft ist deshalb, das World Wide Web effektiver zu nutzen. Es fällt auf, dass die verlorenen jungen Schicksale zuvor immer auf der Suche waren. Auf der Suche nach Halt und Erklärung. Wenn wir es schaffen, dass diese Suche dieser jungen Menschen zu uns führt – und das geht nur durch die Schaffung entsprechender Inhalte im Netz und vor Ort in den Gemeinden – dann bestehen beste Chancen, ein Abgleiten zu verhindern.

Es stimmt, dass die Größe der Distanz zur Moschee über die Radikalisierungsgefährdung entscheiden kann. Das gilt aber nur in eine Richtung. Die Route führt hin zur Moschee und hin zu den Religionsgemeinschaften – als Partner auf Augenhöhe und Teil der Lösung.

Leserkommentare

SoWas sagt:
Replik: Bekir Altas zeigt grundsätzlich richtige Ansätze, jedoch gleichzeitig relativiert er auf häufig typische Art der muslimischen "Vertreter" Er schreibt: ....Muslime distanzieren sich nicht vom Terror, weil Distanzierung eine ursprünglich bestandene Nähe voraussetzt, die nunmehr aufgegeben wird.... Interpretation: ... Kein Muslim in Europa muss sich vom Terror distanzieren, eine Nähe hat ja nicht bestanden... Er schreibt ... (Moscheengemeinde) sind vielmehr ein Bollwerk gegen das schwarz-weiß-malerische Weltbild fanatischer Ideologen.... Tatsächlich findet sich der Kern seiner Aussage hier: .. Der Wundpunkt bei der Radikalisierung – Bildungsmisere, soziale Missstände, religiöse Einfältigkeit uvm. – muss aber erkannt, benannt und in Angriff genommen werden. Hier nämlich kann man etwas verändern, hier fängt die Verantwortung an. Interpretation: Wenn jeder europäische Jugendliche zur Kalaschnikow greifen würde, nur weil er das Gefühl hat, dass er die Punkte (Bildung, sozialer Missstand etc.) erfüllt, dann hätten wir nicht nur diese Form von Terrorismus, dann hätten wir noch viel, viel mehr Terrorismus in allen Facetten. Richtig ist jedoch, dass viele der Jugendlichen, welche radikalisiert sind oder werden, irgendwann den Weg in die Moschee finden und dort sich eine "Bestätigung" abholen. Herr Altas kann doch nicht abstreiten, dass es genügend muslimische Gemeinden gibt, welche entsprechende "Bestätigungen" geben und der Radikalisierung Fortschritt geleistet haben. Sich nun damit herauszuwinden (als Vertreter von MG), dass alle muslimischen Gemeinden ein Bollwerk sind und jetzt aber alle (also die Gesellschaft) zusammenhalten muss/soll, dann verkürzt dies die bisherige Arbeit von Teilen der muslimischen Gemeinden.
01.12.15
15:55