Nach den Anschlägen von Paris und Istanbul wird auch online getrauert. Einige Nutzer bemängeln, dass die Opfer aus Paris mehr Aufmerksamkeit erhalten als die aus Istanbul. Lässt sich Trauer an Likes messen?
Schon lange drücken die Menschen ihr Beileid und ihre Trauer nach Gewalttaten auch in Sozialen Netzwerken aus. Etwa nach den Attentaten in Paris im vergangenen November machten viele Nutzer ihr Mitgefühl auf Facebook, Twitter und Co. öffentlich. Nach dem Anschlag von Istanbul scheinen einige Nutzer der Sozialen Netzwerke diese Form des Mitgefühls zu vermissen: Sie bemängeln die geringe Anteilnahme an dem Tod der Opfer. Ist Trauer heutzutage nur noch etwas wert, wenn sie online und öffentlich kommuniziert wird?
Grundsätzlich habe sich die Trauer- und Gedenkkultur massiv verändert, wie Jürgen Bärsch, Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt sagt. Vor allem in Sozialen Netzwerken seien viele neuartige Gedenkformen zu finden, etwa virtuelle Kerzen und Videoblogs zum Gedenken an die Toten.
Nach den Gewalttaten in Paris wurde das Schlagwort „#prayforparis“ besonders häufig von Usern verwendet, um ihren Beileidsbekundungen für die Opfer online Nachdruck zu verleihen. Zudem hinterlegten viele ihr Profilbild mit der französischen Nationalflagge. Und auch die Medien berichteten breitflächig über das Geschehene.
Nach Einschätzung des Erlanger Kultur- und Religionspsychologen, Lars Allolio-Näcke, ist die Trauerbekundung auf Sozialen Netzwerken eine „Entlastungsstrategie“. Für die Menschen sei es einfach, dort ihr Mitgefühl auszudrücken; „auf die Idee, nach Paris oder Istanbul zu fahren, kommen sie gar nicht“. Vor allem Jugendliche hätten keine Vorstellung mehr von realer, gesellschaftlicher Partizipation; die mediale Inszenierung und Likes auf Facebook seien wichtiger als reales Engagement.
Nachdem in dieser Woche bekannt wurde, dass ein Selbstmordattentäter in Istanbul mindestens 10 Menschen mit in den Tod gerissen hatte, bekundeten ebenfalls viele Nutzer ihr Entsetzen. Auch die Hashtags „#prayforistanbul“ und „#prayforturkey“ wurden verwendet.
Die wenigsten jedoch hinterlegten ihr Profilbild mit der türkischen Nationalflagge – für manche anderen User der Anlass, mangelnde Anteilnahme zu unterstellen. „Wo sind denn plötzlich die türkischen Flaggen als Profilbild???? Wie bei Frankreich mhhhhhh????? Wo sind sie?“ fragt jemand auf Facebook. „Und wer berichtet darüber“, kritisierte eine andere die Berichterstattung durch die Medien. Über die Anschläge in Paris sei rund um die Uhr berichtet worden. „Danke dass ihr Heuchler hinter Paris heult, aber wenn es in irgendeinem muslimischen Land passiert Augen und Ohren zu haltet und nichts davon sehen bzw. hören wollt!“
Allolio-Näcke kennt das Phänomen. Ihm begegneten häufig Muslime, die ihm spiegeln, dass deutsche Medien zu wenig über Geschehnisse außerhalb von Europa berichteten. Durch Medien aus ihrem eigenen Kulturkreis, die sie von Deutschland aus verfolgen, seien sie eine intensivere Berichterstattung gewöhnt.
Zudem seien deutsche Medien sehr kritisch, so Allolio-Näcke. Nur wenige Tage nach dem Anschlag in Istanbul würden sie diesen hinterfragen und zweifeln, ob beispielsweise die Informationen der türkischen Regierung über den Täter nicht zu voreilig gewesen seien. „Die Frage würde man nach Paris gar nicht so schnell stellen“, erklärt der Psychologe.
„Muslime fühlen sich als Menschen zweiter Klasse“, meint Allolio-Näcke. Zudem fühlten sie sich hilflos, wenn sie verfolgten, was in Ländern wie der Türkei oder Ägypten vor sich gehe, zu denen sie einen großen Bezug hätten.
Ein Phänomen, das auch westliche Internetnutzer kennen. Psychologen sprechen von „kognitiver Geografie“: Die Verbindung zu einem Ereignis ist umso größer, je mehr Gemeinsamkeiten mit den dort lebenden Menschen empfunden werden.
In einem Punkt geht es allen Menschen nach Gewalttaten wie in Paris oder Istanbul ähnlich: „Sie spüren eine Ohnmacht, dass sie nichts machen können“, sagt der Psychologe. Umso wichtiger seien ihnen Trauerbekundungen im Internet: Durch sie entsteht ein Gefühl kollektiver Anteilnahme. (KNA/iQ)