Präventionsmaßnahmen sind zum Politikum geworden. Die einen sehen darin einen Nutzen für Muslime. Die anderen lehnen sie ab, weil sie zur Stigmatisierung führen. Elif Zehra Kandemir weist auf das eigentliche Kernproblem hin.
Seit den Angriffen auf Charlie Hebdo ist mehr als ein Jahr vergangen. Zum Einjährigen präsentiert die Zeitschrift auf ihrem Cover einen bärtigen Mann mit langem Gewand und einer Kalaschnikow. Der Titel: „1 an après – l’assassin court toujours“, also „Ein Jahr danach – der Mörder ist noch da draußen“. Über dem Kopf der Person ist ein Dreieck mit einem Auge in der Mitte abgebildet, „eine Gottheit auf der Flucht”. Die Botschaft des Titelblatts lautet: Für die Morde vom 7. Januar 2015 ist Gott bzw. Religion verantwortlich. Diese Gottheit wird als „Terrorist“ dargestellt. Der Chefredakteur und Karikaturist Laurent Sourisseau spricht im Haupttext der Ausgabe von „Fanatikern, die der Koran radikalisiert hat“.
Wer den Koran für gewalttätige Angriffe verantwortlich macht, in der Religion die Ursache für Fanatismus auszumachen glaubt und neuerdings Flüchtlinge als Grund für gesellschaftliche oder wirtschaftliche Probleme heranzieht, der vergiftet qua Nutzung bewusst gewählter Begrifflichkeiten die gesellschaftliche Atmospäre. Während sich diese sorgsam gepflegte und gefährliche Einstellung ganz allmählich durchsetzt, konzentriert sich das allgemeine Interesse ganz bequem auf Krisen, die stärker im Fokus der Allgemeinheit stehen und populärer sind. Während zum Beispiel sehr unkompliziert, kollektiv und schleunigst gegen Bilder protestiert wird, von denen Charlie Hebdo behauptet, sie würden den Propheten des Islams zeigen, gibt es kaum eine Gegenreaktion, wenn von „Fanatikern“ die Rede ist, die „der Koran radikalisiert“ haben soll.
Seit Langem schon ist der „Kampf gegen den Radikalismus“ in nahezu allen westeuropäischen Ländern zur Staatspolitik geworden. Daher verwundert es kaum, dass Ausdrücke wie „Fanatismus“, „Extremismus“ oder „Radikalismus“ mit islamischen Begriffen wie „Dschihad“ oder „Scharia“ vermengt werden. Beängstigender als das ist, dass diese Einstellung von den Muslimen übernommen und verinnerlicht wird.
Aiman Mazyek sagte in einem Gespräch mit Cem Özdemir, das in der TAZ veröffentlicht wurde: „Wenn man es wirklich ernst meint damit, den Islamismus zu bekämpfen, dann braucht man die Muslime als Partner.“ Als dies kritisiert wurde, stellte Mazyek richtig, dass er den Begriff „Islamismus“ nicht verwendet habe und diese Fehlverwendung auf die TAZ zurückzuführen sei, was er anfangs nicht bemerkt habe. Er lehne den Begriff „Islamismus“ ab, da dieser mittlerweile als „Kampfbegriff“ verwendet werde, unter dem alle etwas anderes verstünden. Unter seine via social media gestellte Frage nach alternativen Begrifflichkeiten reihten sich Vorschläge wie „Fundamentalist“, „Terrorist“, „Radikaler“, „Die Religion missbrauchender Radikaler“, „Extremist“, „Religiös motivierter Extremist“, „Muslimischer Neofanatiker“ ein. Weiterhin diffus blieb dabei, welches Phänomen oder welchen Akteur diese Begriffe eigentlich beschreiben sollten. Erstaunlich und traurig dabei ist, dass sich Muslime zur Beschreibung eines vermeintlich religiös bedingten Problems negativ konnotierte Begriffe aneignen, die außerdem keinerlei inneren Zusammenhang untereinander aufweisen.
Ein weiteres Gebiet, auf dem sich die Differenz zwischen popularisierten Krisen und den Themen der Muslime am deutlichsten zeigt, sind die seit Jahren fortgeführten Präventivmaßnahmen. Murat Kayman, Syndikusanwalt im DITIB Bundesverband und Mitgestalter der politischen Beziehungen der DITIB, verfasste eine die Präventionsarbeit bejahende Replik auf den kritischen Beitrag von Murat Gümüş, welcher in deutscher Sprache auf islamiq.de und später türkisch in der Perspektif-Ausgabe von Januar erschienen ist. Kayman schreibt: „Der kritische Beitrag (von Gümüş) reduziert die Extremismusprävention auf eine tatsächliche oder vermeintliche Kriminalisierung von Moscheegemeinden. Es wird der Eindruck vermittelt, den Präventionsmaßnahmen würde vorrangig die Annahme zu Grunde liegen, muslimische Gemeinschaften seien besonders in ihrer organisierten Ausprägung als Quelle der Radikalisierung zu lokalisieren. (…) Diese problematische Denklogik verkennt die differenzierten Ansätze der gegenwärtigen Präventionsprojekte. Es geht nicht darum, einem Verdacht gegenüber Moscheegemeinden nachzugehen. Sondern vielmehr darum, ein Beratungsangebot für die höchst individuellen Problemkonstellationen der Betroffenen anbieten zu können.“ [1]
Kayman scheint nicht bewusst zu sein, dass Prävention per definitionem eine Verdachtssituation voraussetzt, anlässlich derer Maßnahmen zur Verhinderung der Begehung von Straftaten, Extremismus, Gewalt, Terror u. Ä. ergriffen werden. Folglich wird das Umfeld, in dem präventiv agiert wird (zum Beispiel Moscheen), von vornherein als ein Ort definiert, der diesen Verdacht potenziell am wahrscheinlichsten bestätigt. Wenn von Prävention die Rede ist, sind nicht bloß unspektakuläre Beratungsprojekte gemeint. Sie zielen vielmehr auf eine Gruppe ab, die von vornherein als potentiell gefährdet und verdächtig angesehen wird und deshalb bereits im Vorfeld – präventiv – mit kleineren Vorkehrungen „betreut“ werden soll, damit sie in Zukunft nicht größere Probleme verursacht. Die Logik der Prävention beruht auf Risikoeinschätzungen und Vermutungen zur Verhinderung einer Straftat, ohne dass diese bereits vorliegt. Sie argumentiert ihrer Natur entsprechend nicht auf Grundlage eines Ereignisses, sondern nutzt Bezeichnungen wie „Bedrohung“, „Gefahr“ und „Risiko“. Genau aus diesem Grund gehen Präventionsmaßnahmen – im Gegensatz zur Behauptung Kaymans – „einem Verdacht nach“. Die Forderung nach bedingungsloser Teilnahme von Moscheegemeinden an Präventionsmaßnahmen kommt dem Eingeständnis gleich, dass dieser Verdacht berechtigterweise in die Moscheen führt, und ist deshalb langfristig stigmatisierend. Um es nochmal klar zu sagen: Nicht Projekte, die (auch) muslimische Jugendliche vor Radikalisierung und Kriminalität schützen, sind problematisch, sondern die Einstellung, muslimische Jugendliche seien aufgrund ihrer Religion von vornherein eine Gefahr.
Das zentrale Problem der Muslime, nicht nur in Europa, sondern weltweit, ist, dass sich in Bezug auf Muslime ein negativ konnotierter Sprachgebrauch verfestigt hat. Noch verhängnisvoller ist, dass – wie am Beispiel Aimans und Kaymans zu sehen – diese Fiktion von den Muslimen selbst verinnerlicht und gefördert wird. Über die Normalisierung problematischer Begriffe hinaus ist dieser Umstand weiterhin ein Beispiel dafür, wie fiktive Begriffskonstrukte unreflektiert übernommen werden. Die Abbildung des Propheten oder Allahs in der Satirezeitschrift Charlie Hebdo ist nicht das Kernproblem. Die eigentliche Gefahr besteht darin, dass das hier kritisierte Denkmuster durch die bewusste Verwendung von Begrifflichkeiten den Koran als Ursprung von Fanatismus beschreibt und dazu die Annahme bestärkt, Muslime würden sich mit Sicherheit radikalisieren, wenn nicht interveniert wird.
Solange die Repräsentanten der muslimischen Gemeinschaften sich allenfalls mit kurzfristigen Lösungen beschäftigen, statt gegen diesen negativ konnotierten Sprachgebrauch vorzugehen – ja sich diesen sogar zu eigen machen – wird sich diese verzerrende Sprache zunehmend verbreiten. In diesem Falle ist es äußerst wahrscheinlich, dass sich die Denk- und Ausdrucksweise von Charlie Hebdo, das die Stereotype des „fanatischen, extremen, radikalen Muslims“ verinnerlicht hat, und der Muslime, die durch ihren Einsatz für die Präventionsmaßnahmen und damit gleichzeitig für die Stigmatisierung der Muslime hervorstechen, einander immer ähnlicher werden.
[1] http://murat-kayman.de/2016/01/15/verteufelung-der-praevention/